Grigori J. Sinowjew

Bericht über die Tätigkeit der Exekutive[1]

an der dritten Sitzung des V. Kongresses der Kommunistischen Internationale (Donnerstag, den 19. Juni 1924)

 

I. Die Linie der KI vor dem 5. Kongress

Unsere Kräfte

Genossen, wir müssen auf diesem Kongress den Weg für die Zukunft suchen, und wir haben allen Anlass dazu, zunächst den zurückgelegten Weg etwas zu prüfen – erstens darum, weil wir unsere Arbeit zum ersten Mal ohne die Führung und Mitwirkung des Genossen Lenin vornehmen müssen, zweitens weil die internationale Lage jetzt in vieler Hinsicht fast ganz neu geworden ist, drittens darum, weil wir gewissermaßen einen Jubiläumskongress abhalten.

Wir haben unlängst den fünften Jahrestag der KI gefeiert. Es liegen vier Weltkongresse hinter uns, die gewissermaßen vier Marksteine in der Geschichte der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung bilden. Erlauben Sie mir darum, zunächst einen kurzen geschichtlichen Rückblick auf den Werdegang der Kommunistischen Internationale zu werfen. Ich will diese Geschichte von zwei Gesichtspunkten aus untersuchen.

Das erste Kriterium ist: wie stark waren wir am Anfang der Kommunistischen Internationale, und wie hat sich unsere Stärke im Laufe der Jahre geändert.

Das zweite Kriterium: der Richtungskampf innerhalb der KI, ein Rückblick auf die Richtungskämpfe während dieser bisherigen vier Weltkongresse innerhalb der Internationale.

 

Von der Propagandagesellschaft zur Partei

Zunächst die Frage der numerischen Stärke früher und jetzt: Ich glaube, es ist jetzt ganz klar, dass die KI in ihren ersten Jahren in einer Reihe von Ländern eigentlich nur eine Propagandagesellschaft war, ohne sich darüber im Klaren gewesen zu sein. Wir glaubten am Anfang, wir wären sehr stark, aber eigentlich waren wir in jenen Zeiten keine Kommunistischen Parteien, sondern nur große Propagandagesellschaften in einer ganzen Anzahl von Ländern. Woher kam diese optische Täuschung? Daher, dass die elementare Unzufriedenheit der Massen damals, am Ausgang des imperialistischen Krieges, sehr groß war und wir diese elementare Unzufriedenheit als organisierte kommunistische Kraft auffassten. Das war sie jedoch nicht. Ein Beispiel wird genügen, ein Beispiel aus der deutschen Bruderpartei.

Sofort nach dem 1. Parteitag, während des Januaraufstandes der Spartakisten, glaubten wir alle, unsere deutsche Partei sei eine sehr große Kraft. Die Unzufriedenheit der Massen war sehr groß. Die Verdrossenheit der Massen gegen über der Bourgeoisie, teilweise auch gegenüber der Sozialdemokratie war elementar, es schien uns, als ob wir Kommunisten die Führer dieser millionenköpfigen Bewegung wären. Wenn wir einen Rückblick auf diese Ereignisse werfen, sehen wir ganz klar: der Spartakusbund (wir brauchen uns seiner nicht zu schämen) stellte einen der glorreichsten Abschnitte in der Geschichte der Arbeiterklasse dar; aber was war unsere Partei eigentlich? Sie war noch sehr klein, sie war eine große Propagandagesellschaft des Kommunismus, die noch ganz am Anfang der Gewinnung der Massen stand. Und so war es auch in anderen Ländern. Um also einen klaren Maßstab dafür zu haben, wo wir jetzt stehen, dürfen wir eben das, was ich gesagt habe, nicht übersehen. Trotz aller Schwächen, trotz aller Mängel unserer Sektionen sind wir jetzt in einer Anzahl von Ländern schon keine Propagandagesellschaft mehr, sondern sind zu kommunistischen Parteien und zum Teil schon zu kommunistischen Massenparteien angewachsen.

 

Der Richtungskampf

Jetzt zur Frage der Richtungskämpfe innerhalb der Kommunistischen Internationale. Manches ist notwendig, damit wir ins klare kommen über die Richtungskämpfe, die wir auch auf dem 5. Kongress schwerlich werden vermeiden können. Was die programmatische Seite betrifft, so bin ich mit dem einverstanden, was in der Instruktion der Kommunistischen Partei Deutschlands gesagt ist. Ich glaube, dieses Dokument ist allgemein bekannt. Mir scheint, dass dieses Dokument in vielem für uns alle annehmbar ist und viel zu den Beschlüssen, die wir hier fassen müssen, beitragen wird.

 

Der eiserne Bestand der KI

Die Kommunistische Partei Deutschland zählt in unserer fünfjährigen Tätigkeit sechs wichtige programmatische Dokumente auf, die sozusagen zum eisernen Bestand der Kommunistischen Internationale gehören. Das sind: die Thesen über Diktatur und Demokratie, die Genosse Lenin dem 1. Kongress vorgelegt hat, dann die Thesen Lenins über die Agrarfrage und seine Thesen über die nationale Frage, angenommen vom 2. Kongress, ferner die 21 Punkte und die Thesen über die Rolle der Partei in der Revolution und die Resolution des 2. Kongresses über die Bedingungen für die Bildung von Arbeiterdeputierten-Sowjets: „Unter welchen Bedingungen können Arbeiterräte gebildet werden und ihre geschichtliche Rolle“.

Diese Dokumente sind nicht ohne Kämpfe in der Kommunistischen Internationale angenommen worden. Aber es gab viel mehr Kämpfe um die Beschlüsse rein taktischer Natur.

Dass der Bolschewismus im Kampfe gegen den Opportunismus, gegen die Rechten, gegen die Sozialdemokraten, gegen die Zentristen geboren wurde, ist allgemein bekannt und braucht hier nicht bewiesen zu werden. Die Kommunisten sind in hohem Grade aus dem Schoße der II. Internationale geboren. Man kann jetzt schon zwei Teile der Kommunistischen Internationale handgreiflich unterscheiden.

 

Das Erbe

Der eine Bestandteil sind diejenigen Teile der KI, die aus dem Schoße der II. Internationale geboren sind, die früheren Sozialdemokraten; den zweiten Bestandteil bildet die neue Arbeitergeneration, die vor und nach dem Krieg herangewachsen ist. Beide Bestandteile haben ihre schwachen und starken Seiten. Es ist allgemein bekannt, dass die Taktik der Kommunistischen Internationale, die Taktik des Bolschewismus und Leninismus, hauptsächlich im Kampfe gegen die Sozialdemokratie, gegen die Rechten, gegen die Zentristen geboren wurde, und es ist also auch zu verstehen, dass der Leninismus in der Internationale kämpfen musste und oft auch jetzt noch kämpfen muss, in erster Linie gegen die Überreste der Sozialdemokratie, die naturgemäß auch in der KI vorhanden sind.

Es ist aber weniger bekannt, dass der Bolschewismus große Kämpfe gegen andere Abweichungen geführt hat, gegen die Abweichungen, die man oft als „linke“ oder „ultralinke“ bezeichnet. Sie sind selbstverständlich nicht „linke“, es gibt nichts „Linkeres” als den Leninismus, den revolutionären Marxismus. Aber man nennt eben diese Abweichungen linke. Nun meine ich: gegen diese „linken Abweichungen” hat der Bolschewismus schon vor der Revolution Jahre hindurch heftige Kämpfe durchgefochten, und auch in der Kommunistischen Internationale hat ihr Gründer und Meister, Genosse Lenin, große Kämpfe gegen diese sogenannten ultralinken Abweichungen im internationalen Maßstab geführt, auch die Exekutive der KI muss es jetzt tun.

 

II. Die vier Kongresse der KI

Der 1. Kongress

Der erste Kongress hat in einem Moment stattgefunden, in dem noch der Siegesrausch der russischen Revolution sehr groß und die Bedeutung und die Größe der Niederlage nach dem Spartakusaufstand in Deutschland uns noch nicht klar war. Der Gründungskongress verlief ohne große Richtungskämpfe. Soweit ich mich erinnere, hatten wir nur eine einzige Abstimmung, und zwar eine sehr interessante Abstimmung: nämlich, ob die Kommunistische Internationale schon auf diesem Kongress gegründet werden solle. Der Vertreter der KPD war gegen die sofortige Gründung.

 

Der 2. Kongress

Während des 2. Kongresses hatten wir schon eine klarere und breitere Linie der Gruppierungen, und wir begannen den Kampf zunächst nach rechts. Sie erinnern sich wohl der 21 Punkte, die zum Bollwerk gegen den Zentrismus werden sollten. Aber damals schon mussten Gen. Lenin und die Genossen, die ihn unterstützten, einen Kampf gegen „linke” Tendenzen führen, so in der Frage des Parlamentarismus. Ein Teil der Genossen wandte sich gegen die Ausnutzung des Parlamentarismus, und unter ihnen war auch der Genosse Bordiga.

Weiter gab es auf dem 2. Kongress einen Kampf gegen die Gewerkschaften. Einige amerikanische und auch deutsche Genossen forderten den Austritt aus den Gewerkschaften, und es wurde ein harter Kampf von Seiten des Genossen Lenin dagegen geführt. Auf dem 2. Kongress gab es einen Kampf gegen die KAP, und es gab einen Kampf gegen die Ultralinken über die Rolle der Partei. Manche Ultralinken traten auf und sagten: Eine Partei brauchen wir überhaupt nicht, zumindest nicht vor der Revolution.

Also schon während des 2. Kongresses hatten wir den Kampf gegen die Zentristen und zugleich nicht geringere Kämpfe gegen die sogenannten Ultralinken, Kämpfe, die geführt worden sind vom Genossen Lenin. Es gab auch einen Kampf um die Frage, ob die englischen Kommunisten in die Labour Party eintreten sollen. Sie werden sich erinnern, dass viele Genossen dagegen waren, nicht nur die Engländer; so hat zum Beispiel der holländische Genosse Wynkoop, der heute unter uns ist, damals wie ein Löwe dagegen gekämpft, dass die englischen Kommunisten in die Labour Party eintreten. Er hielt es für Opportunismus. Nun, die Zeiten vergehen, die Menschen ändern sich. Jetzt beschuldigt man den Genossen Wynkoop, ganz andere Abweichungen zu machen als nach links – wir werden zu prüfen haben, ob mit Recht oder Unrecht; aber das zeigt, Genossen, dass der Richtungskampf innerhalb der Kommunistischen Internationale von Anfang an da war.

 

Der 3. Kongress

Der dritte Markstein ist der 3. Weltkongress. Sie werden sich des Kampfes gegen die sogenannte Offensivtheorie nach der Märzaktion erinnern. Man hatte ihn ebenfalls als Kampf gegen die revolutionäre Richtung ausgelegt. Es war aber in Wirklichkeit kein Kampf gegen links, sondern ein Kampf gegen sogenannte linke Abweichungen. Dieser Kampf wurde auch von Lenin geführt, und dieser Kampf gehört zu den wichtigsten Aktenstücken, zu dem Inventar der Kommunistischen Internationale. Zugleich ging ein heftiger Kampf gegen Levi – Levi wurde auf dem 3. Kongress ausgeschlossen –, ein Kampf gegen die opportunistischen Tendenzen in der damaligen italienischen Bewegung, aber zu gleicher Zeit auch ein heftiger Kampf gegen Terracini, gegen Bordiga, gegen manche Genossen, die auch jetzt auf der sogenannten Ultralinken stehen. Der Gen. Lenin hat auf dem 3. Kongress schon im Vorhinein die jetzige politische Position Bordigas zerschmettert.

 

Der 4. Kongress

Der vierte Markstein, der 4. Kongress, ist Ihnen ziemlich im Gedächtnis. Ich brauche hier nicht ausführlich zu reden. Man hat die Parole der Arbeiterregierung angenommen, man hat die Einheitsfronttaktik gutgeheißen und hat zugleich die Thesen von Rom, von denen wir hier noch werden sprechen müssen, heftig kritisiert und abgelehnt. Sie sehen also, Genossen, dass die KI schon von Anfang an, um marxistisch zu sein, heute würden wir sagen, um leninistisch zu sein einen heftigen Kampf gegen die Zentristen und Opportunisten führte, aber zugleich ultralinke Abweichungen bekämpfte und bekämpfen musste.

Es gibt Genossen – und sie sind keine schlechten Revolutionäre –, die uns oft stimmungsgemäß den folgenden Vorwurf machen:

Bald kämpft die Exekutive nach rechts, bald nach links, das sei Prinzipienlosigkeit, man soll sich doch ein für alle Mal für alle Zeiten festlegen, also nicht heute gegen die sogenannte Rechte und morgen gegen die Linke kämpfen.

Selbstverständlich kann man die sogenannten ultralinken Abweichungen am erfolgreichsten bekämpfen, wenn man die wirklichen rechten opportunistischen Fehler und Versehen bekämpft. (Beifall.)

 

Leninismus ohne Vorbehalt

Aber Genossen, das Umgekehrte ist ziemlich oft der Fall. Darum soll man uns nicht sagen, wir seien prinzipienlos, weil wir auch ultralinke Abweichungen bekämpfen, sondern man soll verstehen, dass darin eben der Marxismus besteht. Was würden Sie sagen, wenn jemand aufträte und sagte: ich bin Marxist, ich akzeptiere den Marxismus, aber nach Abzug dessen, was Marx gegen den Proudhonismus geschrieben hat, den Proudhonismus, der sich ja auch sehr „links”, als Strömung links vom Marxismus, vorkam? Aber Marxismus minus Kampf gegen den Proudhonismus ist kein Marxismus mehr.

Nun, Genossen, das trifft auch in Bezug auf den Leninismus zu. Ich kenne manche guten Genossen, die sagen: ja, alles was Lenin geschrieben hat, ist glänzend, aber das Buch über die „Kinderkrankheit des Kommunismus” ist eben nicht ganz richtig, es war vielleicht eine leichte Abweichung nach rechts von Seiten Lenins: „Kinderkrankheiten” gibt es überhaupt nicht in der KI. Wenn wir schon Kinder sind, so gewiss doch nur Wunderkinder, die keine Krankheiten haben.

Genossen, wir müssen uns klar werden, was hinter diesen Gedankengängen steckt. Leninismus ohne die Idee, die Lenin in seiner „Kinderkrankheit” entwickelt, ist eben schon kein Leninismus mehr. Das muss man ganz klar einsehen, und die Genossen, die den Leninismus unterstützen möchten ohne die Ideen, die in der Schrift über die „Kinderkrankheiten” entwickelt werden, erinnern mich an jenen französischen Bauer aus der Zeit der französischen Revolution, der gesagt haben soll: Es lebe der König, aber ohne die Salzsteuer (Vive le roi sans la gabelle).

Nein, Genossen, wir brauchen den vollständigen, einheitlichen Leninismus – mit den „Steuern” (d. h. der scharfen Kritik auch der „linken” Tendenzen).

Genossen, wir gehen den alten Weg, den Lenin uns gelehrt hat, und der ist keinesfalls „prinzipienlos”. Man soll sich die Sache keinesfalls so kleinbürgerlich vorstellen: wenn du heute gegen „rechts” und morgen gegen die sogenannte „Ultralinke” bist, so bist du eben prinzipienlos. Genossen, stellen Sie sich vor, wir müssten ein Schlachtschiff lenken und es zu einem bestimmten Ziel bringen. Ihr wisst: da gibt es eine Minenzone. Einen Plan habt ihr nicht, bald liegen die Minen rechts, bald links. Ihr müsst zwischen diesen Klippen euer Schlachtschiff hindurchsteuern. Und da soll man den Kapitän, der deshalb bald nach rechts, bald nach links steuert, „prinzipienlos” nennen! Ich erwähne dies deshalb, weil gute „linke” Genossen wie Bordiga ganz offen mit diesen Anschuldigungen kommen und erklären, die KI sei jetzt prinzipienlos geworden, bald kämpfe sie gegen „rechts”, bald gegen „links”. Man muss sagen, unsere Gegner aus den Reihen der II. Internationale behaupten dasselbe.

 

Was uns Genosse Lenin lehrte

Ich habe die Vorgeschichte der KI hier kurz angeführt, damit wir alle sehen, dass der Leninismus nicht nur als russische Erscheinung, sondern als er schon durch die Kommunistische Internationale international geworden war, immer wieder den Hauptschlag selbstverständlich gegen die Rechten, gegen die Zentristen, die Sozialdemokraten, gegen die Überreste der Sozialdemokratie in unseren Reihen führte. Aber um diesen siegreich durchzuführen, hat er immer, ebenso wie Marx die proudhonistische Richtung bekämpfte, die sogenannte Ultralinke bekämpft, die unserer Meinung nach in der Tat kleinbürgerlich ist. Und darum werden wir unseren Weg auch weitergehen, mag man schreiben, was man will, und über unsere Prinzipienlosigkeit zetern. Das ist die Anwendung der Taktik des revolutionären Marxismus und also auch des Leninismus unter den Umständen, in denen wir uns nun befinden.

Ich will in diesem Moment folgendes Zitat aus einem der glänzendsten Artikel des Genossen Lenin vorbringen, aus dem Artikel „Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem vollkommenen Sieg des Sozialismus”, ich glaube, einem der wichtigsten und revolutionärsten Artikel Lenins. Was schreibt er darin? Er sagt:

„Die allergrößte Gefahr und vielleicht die einzige Gefahr für einen wahren Revolutionär ist die Übertreibung des Revolutionären sowie das Vergessen der Schranken und Bedingungen für eine angemessene und erfolgreiche Anwendung revolutionärer Methoden. Wahre Revolutionäre haben sich meistens dann den Hals gebrochen, wenn sie Revolution mit großen Buchstaben schrieben und aus der „Revolution” etwas geradezu Göttliches machen wollten und so den Kopf verloren und die Fähigkeit einbüßten, kaltblütig und nüchtern zu erwägen und zu überprüfen, in welchen Augenblick, unter welchen Umständen, auf welchem Aktionsgebiet man revolutionär handeln müsse und in welchem Augenblick, unter welchen Umständen und auf welchem Gebiete man zu reformistischen Vorgehen übergehen müsse. – Wahre Revolutionäre werden nur in dem Falle zugrunde gehen (nicht im Sinne der äußeren Niederlage, sondern im Sinne des inneren Zusammenbruchs ihrer Sache), wenn sie die Kaltblütigkeit verlieren und glauben, dass die große, siegreiche Weltrevolution unbedingt alles und alle Aufgaben unter jeder Bedingung und auf allen Gebieten nur auf revolutionäre Weise lösen könne und müsse.”

Diese Worte möchte ich gegenüber dem Genossen Bordiga anführen, der leider noch nicht hier ist. Aber den Genossen Rossi, der sein Gesinnungsgenosse ist, möchte ich bitten, diese Worte zweimal täglich, wenigstens während seines Moskauer Aufenthaltes, zu lesen. Das wird eine gute Erholung für ihn sein. (Beifall.)

Sie sehen, Genossen, Lenin schreibt sogar über die Zulässigkeit reformistischen Vorgehens. Er hat wahrscheinlich mit Absicht, um die Ultralinken zu „reizen”, dieses Wort gebraucht. In Wirklichkeit handelt es sich hier natürlich nicht um ein reformistisches System, um eine Theorie des Reformismus gegen den Marxismus, sondern das Wort „reformistisch” wird eben gebraucht, um den Grundgedanken gegen die „Ultralinken” zu betonen.

Also um einen siegreichen richtigen Kampf gegen die Rechte, deren Stimmungen in unserer Bewegung noch sehr stark ist, zu führen, müssen wir uns vergegenwärtigen, was uns unser großer Meister und Lehrer gelehrt hat, als der Bolschewismus erst nur eine russische Erscheinung war, und dann, als der Bolschewismus zur internationalen Erscheinung geworden ist.

 

III. Vom 4. bis zum 5. Kongress

Der Kampf gegen Frossard

Nun, jetzt über die Zeit zwischen dem 4. und dem 5. Weltkongress. Es gab da auch einen sehr heißen Richtungskampf. Ich will versuchen, das Wichtigste und Prinzipiellste von dem aufzuzählen, was wir während dieser Zeit tun mussten.

Sofort nach dem 4. Weltkongress kam der Kampf gegen Frossard in Frankreich. Dies ist, wie Sie wissen, ein abgeschlossenes Kapitel. Wir können jetzt Frossard im Namen der französischen Partei und der Internationale den Dank aussprechen für seine Handlungen. Frossard hat wie ein Pflaster gewirkt, das alles Üble und Krankhafte von der Kommunistischen Partei Frankreichs aufgesaugt hat, es ergab sich nur eine Erleichterung für den Körper der Kommunistischen Partei Frankreichs.

Der zweite Kampf, der zu einer Spaltung führe, war der Kampf gegen die norwegische Arbeiterpartei. Das war eine ausgesprochen halb reformistische, halb rechtssyndikalistische Partei. Es ist ganz klar, dass Lian, einer der Führer der Partei und Gewerkschaftspräsident, ein ganz banaler Sozialverräter ist. Das wird gewiss jetzt auch der Genosse Hoeglund zugeben müssen.

 

Der Kampf gegen die rechten Irrtümer

In Italien ging der Kampf auch gegen rechts, gegen die Führer der rechten Sozialistischen Partei.In Schweden musste die Exekutive rechte Strömungen der Zentrale der Schwedischen Partei korrigieren. Inwiefern das mit Erfolg geschehen ist, ist jetzt noch nicht zu übersehen.

Dann kommen die bulgarischen Ereignisse, die ebenfalls rechte Abweichungen offenbarten. Ich muss betonen, dass diese rechten Abirrungen im Weltausmaß im allgemeinen verschiedener Natur waren; sie stehen im Zusammenhang mit der Tradition und dem Stande der Bewegung des betreffenden Landes. Sie waren in Bulgarien etwas ganz anderes als in Schweden, in England etwas ganz anderes als in Norwegen, in Russland (die russische Opposition) etwas ganz anderes als in Frankreich usw. Aber man kann diese immer als rechte bezeichnen. Sie kennen die Beschlüsse, die die Exekutive in der bulgarischen Frage gefasst hat. Die besten Führer der bulgarischen Partei haben zugegeben, dass die Exekutive recht hatte. Die bulgarische Partei hat schon manches gutgemacht.

 

Die Kommunistische Partei Deutschlands

Dann kommt die deutsche Partei. Auch da fand ein Kampf gegen rechts statt. Man behauptet manchmal, wie z. B. in der tschechischen Presse, die Exekutive hätte die alte Führung der deutschen Partei abgesägt. Ich muss ganz offen erklären: dieses Verdienst kann die Exekutive für sich nicht voll in Anspruch nehmen, eher umgekehrt! Wir haben zu lange die alte Führung unterstützt in einem Moment, wo dies schon politisch unmöglich war, aus Gründen, über die wir noch ausführlich sprechen werden. Der Kampf der Exekutive in Deutschland ging also gegen „rechts”.

 

Die russische Parteidiskussion

Es kommt dann die russische Parteidiskussion, von der der Kongress noch ausführlich zu reden haben wird, die große internationale Bedeutung hat. Die russische Partei hat diese Abweichungen als kleinbürgerliche Verirrungen gekennzeichnet. Auch diese Abweichungen waren in mancher Hinsicht anderer Art als in den anderen Ländern. Sie haben eine große internationale Bedeutung. Ich habe vor mir den „Vorwärts”, in dem ein Artikel über den russischen Parteitag steht, wo der „Vorwärts”, das Organ der Partei Scheidemanns, schreibt: „Wo ist nun die Opposition, die noch vor einem halben Jahr so von sich reden machte und auf die man überall so viele Hoffnungen gesetzt hat?”

Wer hat große Hoffnungen auf die Opposition gesetzt? Die deutsche gegenrevolutionäre Sozialdemokratie! Diese Hoffnungen wurden, wie Sie wissen, nicht erfüllt, und ich hoffe, sie werden auch niemals erfüllt werden. (Beifall.) Es ist so weit gekommen, dass derselbe „Vorwärts” in derselben Nummer dem Genossen Radek einen ganzen Artikel widmet, in dem gesagt wird, Radek unterscheide sich dadurch von den anderen Führern der KI, dass er eine klare, nüchterne Erkenntnis der Dinge habe usw. (Zurufe: Hört, hört!) Ich will nicht behaupten, dass Genosse Radek in dieser Frage die Anerkennung seitens des sozialdemokratischen „Vorwärts” voll verdiene. Aber teilweise hat er sie schon verdient. Und wenn dem Genossen Radek die ganze Lage noch nicht klar war, so glaube ich, dass er als erfahrener Politiker auf Grund dieses Artikels sich doch Gedanken machen wird. Er wird sich fragen, wie es kommt, dass der „Vorwärts” ihn zum klaren, nüchternen Politiker macht.

 

Die rechten Tendenzen in der KPF

Die Exekutive musste leider auch eine neue „Rechte” in der französischen Partei bekämpfen. Ich sagte bereits, Frossard wirkte wie ein Pflaster, das alles Ungesunde von der Partei aufgesaugt hat. Um vorsichtig zu sein, muss man sagen: fast alles.

Manche Abirrungen dieser Rechten sind sehr gefährlicher Natur. Wir haben unlängst eine Rede von Loebe im Reichstag gehört, in der er sagte: „Mit der englischen Arbeiterregierung und dem linken Block in Frankreich beginnt ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte, sie werden der Welt Frieden bringen” usw. Also ein Ausdruck der demokratisch-pazifistischen Illusionen, die jetzt auftauchen werden, auch in den deutschen sozialdemokratischen Arbeitermassen. Nun, wenn Loebe das sagt, so ist das nicht verwunderlich. Aber wenn der Genosse Rosmer im Namen seiner Partei zu Beginn der Arbeiterregierung in England dasselbe schreibt, so ist das ebenfalls ein Ausdruck von pazifistisch-demokratischen Illusionen, zu deren Sprachrohr sich leider Genosse Rosmer gemacht hat. Wir haben eine Rechte in der französischen Partei. Sie ist glücklicherweise zahlenmäßig nicht groß. Ich glaube, sie wird auch nicht sehr langlebig sein. Ich glaube, politisch wird sie ungefähr die gleiche Lebensdauer haben wie das Ministerium Marsal, das ja nicht sehr dauerhaft und nicht sehr solid war, wie Sie alle wohl wissen. Die Exekutive wird das ihre tun, um eine solche „Rechte” nicht aufkommen zu lassen, die einzelne Genossen, wie Genosse Souvarine, vertreten, der, je mehr er hier redet, sich umso besser selbst bekämpft (überhaupt ist Souvarines schlimmster Feind Souvarine selber), ferner Genosse Rosmer, von dem wir Besseres erwartet haben und noch erwarten. Die französische Partei als Ganzes hat diese Richtung scharf und richtig bekämpft.

 

Die Abweichungen in der amerikanischen Bewegung

Wir mussten weiter manche rechten Abweichungen in der amerikanischen Bewegung bekämpfen, die im Zusammenhang mit der „Dritton”-Partei und der La Follette-Partei aufgetaucht sind, so die Tendenz, gemeinsame Wahlarbeit mit dieser kleinbürgerlichen Bewegung zu machen. Es war ein schwieriges Problem. Wir haben etwas geschwankt, weil wir Amerika zu wenig kennen, die Bewegung noch rückständig ist und sogar die elementare Idee einer selbständigen Arbeiterpartei dort zu neu ist. Der Durchschnittsarbeiter in Amerika stimmt heute noch für die bürgerliche Partei, er hegt immer noch die Hoffnung, selbständiger Unternehmer zu werden usw. Die Entscheidung war keine leichte Sache. Am Ende hat sich die Exekutive gegen diese Taktik entschieden und, wie die weiteren Ereignisse gezeigt haben, vollkommen mit Recht.

Es waren auch rechte Abweichungen in der englischen Partei da. Es gibt eine Denkschrift von mir, verfasst zwei oder drei Monate vor dem 5. Kongress, in der wir die Partei darauf aufmerksam machen, dass sie bei der Durchführung der Einheitsfronttaktik große Fehler begeht. Wir stimmen dem zu, was die deutschen Genossen in der zitierten Instruktion darüber sagen.

 

Der Kampf gegen die Ultralinken und den theoretischen Revisionismus

Sie sehen, die Exekutive hat die Rechte in ihren verschiedenartigen Formen bekämpft. Gleichzeitig hatten wir auch gewisse Kämpfe mit den Ultralinken auszukämpfen.

Was die deutsche Bruderpartei betrifft, so gab es Momente, in denen wir sehr pessimistisch gestimmt waren. Sie kennen die zwei Briefe der Exekutive und meinen Artikel. Wir fürchteten, dass man der „neuen Taktik” in der Gewerkschaftsfrage freien Lauf lassen würde. Das konnte sehr großen Schaden anrichten. Wir haben diese ultralinken Abweichungen mit Recht und ziemlich erfolgreich bekämpft. Es gab einen Moment, wo nicht nur die Linken, sondern auch die Leute aus der Mittelgruppe und sogar manche Rechte den Austritt aus den Gewerkschaften als unvermeidlich erklärten. Was die Rechte betrifft, kann ich das nicht mit Gewissheit sagen, aber von der Mittelgruppe kann ich es mit Bestimmtheit behaupten. Zwei führende Genossen dieser Richtung kamen nach Moskau und beschworen uns, Gott bewahre, kein einziges Wort gegen die Ultralinken in dieser Frage zu sagen, weil die deutschen Arbeiter alle für den Austritt aus den Gewerkschaften seien. Das sei fast eine „Naturerscheinung”. Sie beschworen uns geradezu, wir sollten es nicht tun. Wir haben es trotzdem getan,[2] und mit Erfolg. Es war richtig, und auch die deutsche Partei hat auf dem Parteitag in Frankfurt eine richtige Li nie eingeschlagen. Diese Gefahr besteht in der deutschen Partei nicht mehr, was uns natürlich außerordentlich freut. Wenn die deutsche Partei und die Executive hier charakterlos gewesen wären, hätte das zur großen Gefahr werden können. Die Gewerkschaften stabilisieren sich wieder, jeder sieht das ein. In einer illegalen oder halbillegalen Periode würde die Partei zu einer Sekte werden anstatt zu einer Massenpartei, wenn wir den Austritt aus den Gewerkschaften zugelassen hätten. Wir müssen die Ultralinke bekämpfen. Zugegeben, sie war zahlenmäßig klein, aber aus kleinen Bächlein kann sich ein großer Fluss bilden. Wenn wir prinzipienfest sein wollen, wenn der Leninismus für uns nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, so muss uns im Gedächtnis bleiben, was ich von Lenin zitiert habe: wir wollen diese Ultralinken nicht aufkommen lassen, einen theoretischen Revisionismus, der sich breit macht, der eine internationale Erscheinung ist. Wenn in Italien der Genosse Graziadei mit einem Buch auftritt,[3] in dem er seine alten Artikel veröffentlicht, die er zu einer Zeit geschrieben hat, als er noch Sozialdemokrat und Revisionist war, und in denen er sich gegen den Marxismus wendet, so kann dieser theoretische Revisionismus bei uns nicht straflos vor sich geben. Wenn der ungarische Genosse G. Lukacs dasselbe auf philosophischem und soziologischem Gebiete tut, werden wir es auch nicht dulden. Ich habe einen Brief des Genossen Rudas, eines Führers der Fraktion, zu der Lukacs gehört, erhalten.[4] Er erklärt, dass er die Absicht hatte, gegen den Revisionisten Lukacs aufzutreten. Als die Fraktion ihm das verbot, ist er aus ihr ausgetreten, weil er den Marxismus nicht verwässern lassen will. Bravo, Rudas! Wir haben eine gleiche Strömung in der deutschen Partei. Genosse Graziadei ist Professor, Korsch ist auch Professor[5] (Zwischenruf: Lukacs ist ebenfalls Professor!). Wenn noch einige solche Professoren kommen und ihre marxistischen Theorien verzapfen, dann wird es schlimm um die Sache bestellt sein. Einen solchen theoretischen Revisionismus können wir in unserer Kommunistischen Internationale nicht ungestraft dulden.

 

Kritik der „Internationale”

Im letzten Heft der „Internationale” finden Sie den Artikel eines gewissen Boris,[6] der sich zur Ultralinken zählt. (Ruth Fischer: Kein Professor!) Ausnahmsweise kein Professor, aber auch kein Kommunist, oder wenigstens kein Marxist! Ich überlasse diese Beute dem Genossen Bucharin, der sie in seiner Programmrede kritisieren will. Aber die deutschen Arbeiter werden nicht zulassen, dass in ihrer theoretischen Zeitschrift unmarxistische Programmartikel gedruckt werden. Ein Beispiel: Dieser Boris erklärt, koloniale Extraprofite gäbe es in Wirklichkeit nicht. Aber das ist ja die „Prosa” der II. Internationale. Der ganze Imperialismus der Sozialdemokratie beruht eben auf dieser Tatsache der Extraprofite, die die imperialistischen Länder aus den Kolonien beziehen. Der Herausgeber der Zeitschrift, Genosse Korsch, „verteidigt” den Genossen Lenin gegen manche Abweichungen vom Leninismus.[7] Ich glaube, wir sollten dem Genossen Korsch den freundschaftlichen Ratschlag erteilen, dass er zunächst den Marxismus und den Leninismus studiert. Ich hörte, dass die deutsche Parteizentrale eine Resolution gefasst hat, in der sie den Artikel von Boris desavouiert. Es ist gut, dass sie das tut, aber das allein genügt nicht. Ich glaube nicht zu viel von der deutschen Partei zu fordern, wenn ich verlange, dass die Zeitschrift „Die Internationale” sich in Händen von Marxisten befindet und nicht in Händen derjenigen, die den Marxismus noch zu studieren haben. Wenn Genosse Graziadei ein überzeugter Revisionist ist, so tut es mir leid, er ist ja in vielen Dingen ein guter Genosse, aber man kann nicht zugleich Revisionist und Kommunist sein. Die Kommunistische Internationale kann nicht dulden, dass wir in diesen Fragen unseren Genossen freie Hand lassen. Wir sind alle manchmal von der Politik zu sehr in Anspruch genommen, um alle Broschüren, Bücher und Artikel lesen zu können. Manche sagen: wir haben keine Zeit, das zu lesen. Das ist nicht Leninismus und auch nicht Marxismus. Es gibt eine große Generation der studierenden Jugend und Arbeiter, die das lesen, die sich kommunistische Bildung aneignen wollen. Wir müssen in dieser Frage reinen Tisch machen und dürfen nicht dulden, dass das weiter so geht.

 

Die „rechte Gefahr” ist nicht zu unterschätzen

Nun, Genossen, wie gesagt, während dieses Jahres mussten wir unseren Kampf zu 90 Prozent gegen „rechte” Abirrungen führen. Ich glaube, das wird auch auf diesem Kongress geschehen müssen. Ich gestehe schon am Anfang, je mehr man die Dokumente unserer Bruderparteien studiert, desto mehr sieht man, dass die rechten Gefahren nicht zu unterschätzen sind, dass sie grösser sind, als sie sich jemand von uns je vorgestellt hat, und zwar nicht deshalb, weil unsere Leute schlechte Menschen sind – die Menschen sind in der Regel ganz gut –. sondern weil das eben aus dem jetzigen Zeitabschnitt der Weltgeschichte so kommt. Wir manchen jetzt eine Periode zwischen zwei Wellen der Revolution durch, und es ist nur natürlich, dass in dieser Periode rechte Gefahren auftauchen. Die Überreste der Sozialdemokratie sind in unserem eigenen Lager größer, als wir sie jemals vorgestellt haben. Wir werden und müssen diese rechten Abirrungen bekämpfen, aber wir werden sie nur dann mit Erfolg bekämpfen, wenn wir dem Wortradikalismus und dem „theoretischen” Revisionismus absolut keine Konzessionen machen, nur dann, wenn wir zielbewusste ultralinke Abweichungen bekämpfen in dem Augenblick, wo sie irgendwelche Bedeutung bekommen.

 

IV. Die Lage zur Zeit des 5. Kongresses

Marschieren wir langsam?

Welches ist jetzt die Lage, die wir im Moment der Eröffnung des 5. Weltkongresses vorfinden? Manche glauben, der Lauf der Ereignisse wäre nicht schnell genug. Wir sind alle unzufrieden, der Sieg ist nicht gekommen, es geht allzu langsam. Wir erwarteten die deutsche Revolution, sie ist ausgeblieben, die Schwierigkeiten sind groß. Manchmal hat man das Gefühl, es gehe armselig langsam. Subjektiv gesprochen, ist das richtig. Gewiss, vom Standpunkt unseres subjektiven Gefühls ist es langsam, denn wir müssen den Ablauf der Macdonaldschen Periode abwarten, dann den linken Block in Frankreich, dann die jetzigen Ereignisse in Deutschland.

Es wäre wirklich eine Lust, wenn wir etwas schneller vorwärtsmarschierten. Aber objektiv gesprochen, glaube ich, dass der Gang der Ereignisse gar nicht so lang sam ist. Man sagt, wenn eine Fliege auf einem großen Mühlrad sitzt und das Rad sich schnell dreht, dann hat die Fliege das Gefühl, dass das Rad stillstehe. So ist es auch mit uns. Das Rad der Weltgeschichte dreht sich tatsächlich ziemlich rasch.

 

Die Ergebnisse von fünf Jahren

Die Bilanz der fünf Jahre ist folgende:

1. Es sind ein halbes Dutzend Monarchien zerstört, unter ihnen auch die russische Monarchie, was ja schon etwas zu sagen hat. (Zwischenrufe: Sehr richtig!) Dieser Zusammenbruch des russischen Zarismus hat gar manche Bedeutung für die Weltrevolution.

2. Ein Sechstel der Erdoberfläche ist von uns gewonnen, es fehlen zwar noch fünf Sechstel, aber ein Sechstel ist bereits gewonnen.

3. Die Entwicklung in Asien und in anderen fernliegenden Gebieten ist gewaltig durch den Krieg beeinflusst.

4. Der Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern ist gelockert und teilweise zerrüttet.

5. Die Arbeiteraristokratie, die Kleinbourgeoisie in Gestalt der Sozialdemokratie ist zu einem unvermeidlichen Bestandteil der bürgerlichen Regierungen geworden. Das ist auch ein Fortschritt. Gewiss, sie sind Konterrevolutionäre und Verräter, aber objektiv gesprochen, ist das ein Schritt vorwärts, denn das ist ein Symptom dafür, dass etwas faul ist bei der Bourgeoisie.

6. Die kommunistischen Parteien sind gewachsen. Wir sind keine Propagandagesellschaften mehr, wir werden zu kommunistischen Parteien. Diese Bilanz ist gewiss recht knapp, wir hätten mehr erwartet, aber diese Bilanz ist nicht ganz so schlimm, wie man es sich vorstellen möchte.

Wir hatten im letzten Jahr ein Auflodern der Bewegung in Bulgarien, in Deutschland und in Polen. Es ist ganz klar, dass das kein Zufall war, sondern ein Symptom dafür, dass wir uns zwischen zwei Wellen der Revolution befinden.

Überhaupt gab es in diesem Jahre viele Geschehnisse auf dem Gebiete der internationalen Politik wie auf dem Gebiete der internationalen Arbeiterbewegung: Arbeiterregierung in England, Wahlen in Deutschland, in Frankreich und in Italien, Arbeiterregierung in Dänemark, eine starke Entwicklung der kleinbürgerlichen Strömungen in Amerika, ein halbes Jahr Streik in Norwegen, Auflösung der 2 1/2 Internationale, internationale Konferenz der Transportarbeiter, Streikwelle in England, Eisenbahnerstreik in China, Streik von 150 000 Textilarbeitern in Indien usw. Also, die Ereignisse waren groß. Wir haben zwar noch keinen vollen Sieg, aber es geht vorwärts.

 

V. Die Weltwirtschaftslage

Der Niedergang des Kapitalismus hält an

Ich komme zur Weltwirtschaftslage. Wir werden ein spezielles Referat vom Genossen Varga haben. Soweit ich sehen kann, glaube ich, dass die Einschätzung des Genossen Varga richtig ist. Niemand hat bewiesen, dass in seinen Thesen etwas unrichtig ist. Die Einschätzung ist richtig, und welches ist diese Einschätzung? Der 3. und der 4. Kongress haben dazu gesprochen. Da ist nicht viel zu ändern. Der Kapitalismus befindet sich nach wie vor in einer Niedergangsperiode. Wir haben Anfänge einer neuen ökonomischen Krise in Amerika, haben eine Welt-Agrarkrise. Wir haben in einigen europäischen Ländern teilweise einen kleinen Aufschwung, meistenteils in einem Lande auf Kosten der anderen. Die Sozialdemokratie meint, die Lage würde normal. Hilferding triumphiert. Er sagt, jetzt gehen wir einer neuen Stabilität entgegen. In der Zeitschrift „Die Gesellschaft” behauptet er, das würde geschehen, sobald die Sicherheit in Mitteleuropa wiederhergestellt werden würde! Nur die „Kleinigkeit” fehlt, dass die Sicherheit nicht geschaffen werden kann. Diese Sicherheit besteht nur in Sowjetrussland, gerade in dem Lande, von dem er schreibt, dass die Lage dort noch nicht normal ist.

Wenn es „normal” ist, dass die Valuta in Deutschland, in Österreich, in Polen gestürzt ist und geradezu eine Katastrophe erlebt hat, sich zwar jetzt gebessert hat, aber unbedingt nochmals stürzen wird, wenn das normal ist, bitte! wir wünschen euch auch weiter solche „normalen” Zeiten. Wenn das normal ist, was mit dem französischen Franken geschieht, so wünschen wir ihm auch weiter solche Normalität! Wenn es „normal” ist, dass eine Agrarkrise in der ganzen Welt herrscht, dass 40 Prozent der Farmer in Amerika zur Verarmung verurteilt sind, wenn es normal ist, dass wir jetzt zirka 7 Millionen Arbeitslose haben – wenn das „normal” ist, so zeugt eine solche „Normalität” eben von der Dimension der Krise. Wir wissen wohl, dass der Klassenkampf sich verschärft, dass der Lebensstandard der Arbeiterklasse niedriger und niedriger wird, in Deutschland 20-40 Prozent niedriger als im Jahre 1923, dass die Arbeitswoche weit über 48 Stunden beträgt, dass sogar in England der Reallohn oft nur 75 Prozent der Vorkriegszeit ausmacht, dass in Frankreich, wo keine Arbeitslosigkeit herrscht, wo eine große Emigration besteht, die Teuerung doch viel höher ist als die Zunahme des Arbeitslohnes, dass in Deutschland, Österreich, Ungarn usw., in einer ganzen Reihe von Ländern der Reallohn 50-75 Prozent der Vorkriegszeit beträgt. Also nicht nur relativ, auch absolut verschlimmert sich die Lage der Arbeiterklasse immer mehr.

Darum müssen wir konstatieren: es ging nicht so schnell, wie wir es uns dachten. Aber die Periode der Krise, des Niedergangs, des Untergangs des Kapitalismus hält an. Auf politischem Gebiet ist sie noch krasser als auf ökonomischem, weil das politische Gebiet empfindlicher ist als das ökonomische. Es kann nicht die Rede sein von einer Stabilität der weltwirtschaftlichen Lage. Die Bourgeoisie sieht hier schwärzer als die Sozialdemokraten, diese Lakaien der Bourgeoisie, denn die Bourgeoisie steht viel näher zur bürgerlich-ökonomischen Wirklichkeit. Es besteht für uns absolut kein Anlass, auf diesem Gebiet die Auffassungen der KI zu ändern, wie sie in den Resolutionen des 3. und 4. Kongresses niedergelegt sind.

 

VI. Die politische Weltlage

Die neue pazifistische Phase

Im Moment des Kongresses ist die Lage in vieler Hinsicht eine andere geworden. Es hat sich eine neue Phase ergeben. Wir haben diese Phase in der Resolution des 4. Weltkongresses vorhergesagt, die sogenannte demokratisch-pazifistische Phase. In der Resolution des 4. Kongresses ist zu lesen:

„Was die internationale politische Lage im gegebenen Moment charakterisiert, ist der Faschismus, der Belagerungszustand und die steigende Welle des weißen Terrors gegen die Arbeiterschaft. Das schließt jedoch nicht aus, dass in absehbarer Zeit, in sehr wichtigen Ländern die offene bürgerliche Reaktion durch eine »demokratisch-pazifistische« Ära abgelöst wird.”

Das wurde 1922 gesagt. Also vor anderthalb Jahren hat die KI direkt diese demokratisch-pazifistische Ära vorausgesagt.

 

Die Periode neuer Illusionen

Also schon während des allgemeinen Belagerungszustandes haben wir die demokratisch-pazifistische Phase vorausgesagt. Ich glaube, jetzt müssen wir das Umgekehrte tun: im Moment des Eintritts der demokratisch-pazifistischen „Ära” müssen wir den kommenden neuen Moment des Belagerungszustandes und der wütenden bürgerlichen Konterrevolution voraussehen. Die demokratisch-pazifistische Ära wird nicht mehr lange dauern. Wir haben das vorausgesehen. Wir sagten in derselben Resolution:

„In England (Stärkung der Labour Party bei den letzten Wahlen), in Frankreich (der unvermeidlich kommende Sieg des sogenannten »Linken Blocks«) ist eine solche »demokratisch-pazifistische« Übergangsperiode wahrscheinlich, und sie kann ihrerseits eine Wiederbelebung der pazifistischen Hoffnungen im bürgerlichen und sozialdemokratischen Deutschland auslösen. Zwischen der gegenwärtigen Periode der Herrschaft der offen bürgerlichen Reaktion und dem vollen Sieg des revolutionären Proletariats liegen verschiedene Etappen und sind verschiedene vorübergehende Episoden möglich.”

Die Kommunistische Internationale hat also diese wichtigsten Tatsachen vorausgesehen. Jetzt sind sie eingetreten. Wir haben wirklich eine ganz neue Lage vor uns, eine gewisse demokratisch-pazifistische Periode in den wichtigsten Ländern Europas ist unvermeidlich: Arbeiterregierung in England, in Frankreich der Linke Block, wo die Sozialdemokraten de facto, aber nicht de jure einen Bestandteil der Regierung bilden, in Dänemark eine Arbeiterregierung, in Österreich ein großer Sieg der Sozialdemokraten, in Belgien wird wahrscheinlich Vandervelde nach den Wahlen in der Regierung sitzen, eine neue Regierung in Japan, in der Tschechoslowakei und in Polen werden Neuerscheinungen, wenigstens teilweise Nuancen aufkommen im Zusammenhang mit dem Sieg des Linken Blocks in Frankreich, denn die Bourgeoisie der Tschechoslowakei und Polens ist doch nur ein Vasall des bürgerlichen Frankreichs. Wir haben in Amerika die Unterstützung des „pazifistischen” Sachverständigengutachtens, ferner den Anfang der Bewegung der sogenannten Dritten Partei. Wir haben weiter die Anerkennung Sowjetrusslands de jure durch verschiedene Länder. All das zusammengenommen. ergibt eben diese demokratisch-pazifistische Welle. Sie wird unbedingt bei den sozialdemokratischen Arbeitern und auch, Genossen, bei uns, in den am wenigsten erprobten Schichten der Kommunisten, neue Illusionen erwecken und die Stimmungen aller halbbewussten „Rechten” stärken. Das sollten wir ganz klar sehen.

 

Anstatt „Chirurgie” „Therapie”

Die Bourgeoisie hat jetzt angefangen, die „Chirurgie” durch „Therapie” zu ersetzen. Sie kennen das Sachverständigengutachten. Ich habe schon gesagt: meiner Meinung nach ist das eine Schlinge um den Hals der deutschen Arbeiterklasse. Nur ist es scheinbar eine seidene Schlinge. Sie soll eine seidene sein, und man will sie allmählich zuziehen – mit Atempausen –, und das nennen die Sozialdemokraten Pazifismus, Triumph der Demokratie! Wir werden dieses Sachverständigengutachten selbstverständlich bekämpfen. Man soll sich keine großen Illusionen machen, die Durchführung des Sachverständigengutachtens ist eine große Utopie. Je mehr die Leute jetzt versuchen werden, die Meinungsverschiedenheiten der imperialistischen Bourgeoisien der verschiedenen Länder zu vertuschen, umso schneller wird diese Flickarbeit zugrundgehen. Das ist so, wie ein zerlöcherter Socken: je mehr Sie ihn mit verfaultem Faden stopfen, umso mehr wird er zerreißen. Je mehr die Leute jetzt Flickarbeit machen und sagen: wir haben uns alle geeinigt, wir haben ein Programm – umso eher wird es klar werden, dass dieses Gutachten eigentlich nur ein Stück Papier ist.

Selbstverständlich werden wir dieses Gutachten aufs heftigste bekämpfen und die verräterische Rolle der Sozialdemokratie entlarven.

Was wird weiter in dieser demokratisch-pazifistischen Ära geschehen? Ich glaube z. B., die Regierung des französischen Linken Blocks wird ziemlich rasch dazu beitragen, eine klare Lage zu schaffen. Die Regierung Herriot hat uns schon ziemlich klaren Wein eingeschenkt durch die Deklaration, die Sie ja alle kennen. Die französischen Sozialisten stimmen für die Besetzung der Ruhr, sie werden für das Budget Herriot stimmen müssen. Ich glaube, die Zeit ist nicht fern, in der die Regierung Herriot auf die französischen Arbeiter schießen wird. Herriot wird auf die französischen Arbeiter wahrscheinlich ebenso schießen, wie Poincaré und Co. es taten. Ich glaube nicht, dass die Illusionen lange in Frankreich Boden haben werden.

 

Die Regierungsteilnahme der Labour Party ist keine vorübergehende Erscheinung

Es ist jetzt schon klar, dass die „Arbeiterregierung” in England nicht eine ganz vorübergehende Erscheinung sein wird. Nein, umgekehrt. Ich glaube, dass die sogenannte Arbeiterpartei zu der Regierungskombination in dieser oder jener Form für lange Jahre gehören wird. Sie ist zu stark geworden, als dass sie nicht ein Regierungsfaktor sein müsste (die Macht der Bourgeoisie ist zu sehr ins Wanken geraten). Man darf allgemein sagen, dass die internationale Sozialdemokratie jetzt eigentlich zur „dritten” Partei der Bourgeoisie geworden ist. Man spricht in Amerika von einer Dritten Partei der amerikanischen „Demokratie”. Aber die europäische Sozialdemokratie, so wie wir sie kennen, ist eigentlich, objektiv gesprochen, jetzt nichts anders als eine dritte Partei der Weltbourgeoisie.

Darum glaube ich, dass die englische Labour Party wahrscheinlich noch in anderen Regierungskombinationen auftreten wird. Ihre Beteiligung an der Regierung ist keine vorübergehende Erscheinung, aber sie wird auch, je länger sie regiert, umso weniger Illusionen bei der englischen Arbeiterklasse erwecken.

Die neue internationale Weltlage kam also für uns nicht unerwartet. Es werden bei vielen sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern Illusionen auftauchen. Loebe hat wahrscheinlich aus dem Herzen vieler sozialdemokratischer Arbeiter gesprochen. Mehr noch. Es ist möglich, dass die englische Labourregierung zusammen mit Herriot der deutschen Sozialdemokratie für einen bestimmten Zeitabschnitt rettende Hilfe bringen wird, indem diese vorübergehend wieder in den Sattel gehoben wird.

Also demokratische Illusionen werden unter diesen Umständen unvermeidlich kommen. Aufgabe des 5. Weltkongresses muss es sein, hier klar zu sehen, diese Illusionen zu bekämpfen, an die sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiter heranzukommen und ihnen in die Köpfe zu hämmern, was jetzt in Europa in Wirklichkeit vorgeht, ihnen zu beweisen, dass der „Pazifismus” ein Einschläferungsmittel ist, um die Arbeiter zu schwächen besonders in den zwei wichtigsten Ländern: England und Frankreich.

Das Sachverständigengutachten enthält eine Reihe von Shylockforderungen, aber die deutsche Arbeiterklasse hat noch nicht gesprochen, die internationale Arbeiterklasse wird noch ihr Wort sagen. Wenn sie auch nicht die Kraft haben sollte, sofort, in der nächsten Zeit diese Forderungen von sich zu weisen, so ist es doch unsere Pflicht, die Arbeiter schon jetzt darüber aufzuklären, womit die Sache enden wird, und dass wir Kommunisten unseren Standpunkt noch klarer betonen, als es bisher der Fall war. Unsere Agitation muss sich in vielem ändern, weil wir uns in einer neuen Lage befinden. Man betrachte z. B. die Frage der Abrüstung.

 

Die Kriegsgefahr

Ist denn jetzt nicht der Augenblick da, wo wir Kommunisten an die Sozialdemokraten die Frage richten müssen, die Friedrich Engels in seiner bekannten Broschüre aufgeworfen hat: „Kann Europa abrüsten?” Soll man jetzt nicht zu ihnen sagen: In England ist eure „Arbeiterregierung”, eine Regierung der II. Internationale, am Ruder, in Russland ist eine Räteregierung, eine Regierung, die den Prinzipien der III. Internationale nahe kommt, an der Macht; die zaristischen Kosaken sind nicht mehr da, der russische Zarismus ist nicht da, die Sowjetregierung ist stets abzurüsten bereit. Also ihr habt eine Arbeiterregierung in England, einen Linken Block in Frankreich, wo die Sozialisten faktisch an der Regierung beteiligt sind. Ihr habt eine „demokratische” Ära auch in Amerika; in Österreich, in Belgien seid ihr stark, ihr sagt, ihr wollt keinen Krieg, also bitte, wollt ihr nicht den Abrüstungsplan unterstützen?

Wir wissen sehr wohl, sie gehen dieser Frage nicht nur aus dem Wege, sondern unterstützen in England und in Frankreich und allerorts sogar die volle Kriegsrüstung. Ich habe das als ein Beispiel angeführt. Man kann die Beispiele vermehren.

 

Das Problem der Macht steht auf der Tagesordnung

Das ist so in groben Zügen die internationale Weltlage.

Ich glaube dennoch, dass ungeachtet der pazifistischen „Ära” in den wichtigsten Ländern des bürgerlichen Europas auf der Tagesordnung das Problem der Macht steht. Ich werde weiter unten erklären, was ich damit sagen will.

Genossen, man erklärt, die Lage Europas sei normal, der Kapitalismus stabilisiere sich, alles verlaufe glatt, und dennoch sehen wir Regierungskrisen über Regierungskrisen. In den letzten Monaten wurden so ziemlich ein halbes Dutzend Regierungen abgesetzt. Es ist freilich noch nicht der frische Wind der Revolution, der diese Regierungen hinwegfegt. Aber es ist ein Symptom der Unsicherheit. Die ganze politische Lage spricht dafür. Es besteht in den wichtigsten europäischen Ländern ein Problem der Macht, die Bourgeoisie kann nicht wie früher regieren. Eine nackte, offene, reine, d. h. viel mehr schmutzige, klassische, bürgerliche Macht ist jetzt unmöglich. In einer ganzen Anzahl von Ländern muss die Bourgeoisie zu Kniffen greifen, daher die „Arbeiterregierung” in England, daher der Linke Block mit den Sozialisten in Frankreich. Die Bourgeoisie kann nicht regieren, wie sie früher regiert hat. Früher bestand in England ein Zweiparteiensystem. Und was sehen wir jetzt in diesem Hauptlande des Kapitalismus?

 

Die Sozialdemokratie – die dritte bürgerliche Partei

Die Sozialdemokratie ist zur „dritten Partei” der Bourgeoisie geworden. Sogar die mächtige englische Bourgeoisie kann nicht mit den alten Methoden regieren; sie greift zu einer „Arbeiterregierung”. Die Bourgeoisie in Europa ist gezwungen, sich bald an den Faschismus, bald an die Sozialdemokratie zu klammern. Die Faschisten sind die rechte Hand, die Sozialdemokraten die linke Hand der Bourgeoisie. Das ist das Neue an der Lage. Akut wurde für die Bourgeoisie das Problem der Macht, und das ist das beste Zeichen, wie labil doch das ganze Gleichgewicht ist.

Wir sehen, wie die II. Internationale schon zum zweiten Male zur Macht gelangt. Das erste Mal geschah es während des Krieges. Die Motive der Bourgeoisie waren begreiflich. Aber jetzt sind doch normale Zeiten? Wozu brauchen sie sie jetzt? Die Sache ist eben die, dass die jetzigen „normalen” Zeiten nicht gar so normal sind – und das muss man verstehen. Es kann durchaus ein Augenblick eintreten, wo fast in allen Hauptländern Europas sozialdemokratische Minister das Wort führen. Diese Zeit wird kommen, weil die Bourgeoisie nicht anders wird regieren können. Sie muss die Sozialdemokraten als dritte bürgerliche Partei verwenden. Die Sozialdemokratie geht darauf ein.

Das ist das wichtigste Merkmal der gegenwärtigen Periode.

Die II. Internationale stellt Minister für England, tatsächlich auch für Frankreich. Man greift zu den Sozialdemokraten in Belgien, wie auch in einer ganzen Anzahl von Ländern, z. B. Dänemark usw. Was bedeutet das? Die Sozialdemokratie behauptet, sie sei der Bourgeoisie feindlich gesinnt. Was würde man sagen, wenn z. B. unsere russische Sowjetregierung den General Denikin als Minister engagiert hätte? Man würde sagen, das sei ein Beweis, dass die Sowjetregierung nicht mehr regieren kann wie früher, dass sie zu wanken beginnt, dass das Problem der Macht zu einem brennenden Problem für sie geworden ist. Für die Bourgeoisie ist die Sozialdemokratie eben nicht das, was Denikin für uns ist, obwohl die Sozialdemokraten behaupten, Feinde der Bourgeoisie zu sein. Aber dennoch beweist die Heranziehung sozialdemokratischer Minister, dass die Lage der Bourgeoisie gar nicht so stabil ist, dass sie, nicht etwa in einem kleinen Lande wie Estland oder Dänemark, sondern auch in England die Macht eine Zeitlang durch die Hände einer sogenannten Arbeiterregierung verwirklichen muss. Das ist einer der besten beweise dafür, wie unsicher die Lage ist, dafür, dass die Lage objektiv revolutionär ist. Und das ist wieder der taktische Schlüssel zu unserer Position.

 

Die Radek – Brandlersche Theorie ist unrichtig

Erinnern wir z. B. an den ominösen Streit in der deutschen Partei über den „Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik”. Diese Frage ist jetzt ganz klar vom deutschen wie vom internationalen Standpunkt aus erledigt. Es ist jetzt ganz klar, dass die Sozialdemokratie zur dritten Partei der Bourgeoisie, zur mitregierenden Partei geworden ist. Diese Erscheinung ist in fast allen wichtigsten Ländern wahrzunehmen. Die „Theorie”, dass die Sozialdemokratie vom Faschismus „besiegt” worden sei, hat sich augenscheinlich als falsch erwiesen und damit auch die Theorie von Radek und Brandler.

 

Die Sozialdemokratie als Flügel des Faschismus

Die Sozialdemokratie ist in einer ganzen Reihe von Ländern zu der dritten Partei der Bourgeoisie geworden. Das ist die neue Tatsache in der internationalen Lage, der taktische Schlüssel in den Händen der Kommunisten. Die Theorie, dass der Faschismus die Sozialdemokratie „besiegt” hätte, war ein falscher Schlüssel, der zu opportunistischen Folgerungen führen musste.

Wenn die Sozialdemokraten wirklich gegen die Faschisten gekämpft hätten und von ihnen besiegt worden wären, so hätte sich daraus eine Annäherung zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten ergeben und nicht die Verschärfung des Kampfes zwischen ihnen. Da aber die Sozialdemokratie in Wirklichkeit gegen den Faschismus nicht gekämpft hat und von ihm nicht „besiegt” wurde, so müssen die Kommunisten eine ganz andere Taktik befolgen, als es Radek möchte. Das Wichtigste dabei ist, dass die Sozialdemokratie zu einem Flügel des Faschismus geworden ist. Das ist eine wichtige politische Tatsache. Was ist die Sozialistische Partei Frankreichs anderes als ein linker Flügel der Bourgeoisie? Bei den Wahlen ist das sozusagen notariell festgestellt worden. Es gab eine gemeinsame Liste der bürgerlichen Parteien und der Sozialistischen Partei. Der ganze Unterschied bestand darin, dass die Namen der bürgerlichen Parteien rechts und die der Sozialistischen Partei links standen. Welcher Beweise bedarf es noch? Die französische Sozialistische Partei ist der linke Flügel der französischen Bourgeoisie. Sie treibt noch ein Versteckspiel, sie sitzt noch nicht direkt in der Regierung, aber sie ist ein mitregierender Faktor; je weiter die Entwicklung geht, desto ersichtlicher wird das.

Die II. Internationale ist der linke Flügel der Bourgeoisie, die mitregierende Partei der Bourgeoisie geworden. Darin äußert sich nicht nur der sozialverräterische Geist der Sozialdemokratie, sondern auch die Unsicherheit der Lage der Bourgeoisie, aus der heraus sie zu diesen Mitteln greifen muss.

 

VII. Fragen der Taktik

Die opportunistische Schlussfolgerung des Genossen Hula

Ich komme jetzt zur Frage der Taktik. Zunächst etwas Allgemeines zu dieser Frage. Ich meinte bisher, dass die Frage der Gewinnung der Mehrheit in den Arbeitermassen als Bedingung des Sieges über die Bourgeoisie und Sozialdemokratie von uns bereits auf dem 3. Kongress gelöst wurde. Nur hat es sich gezeigt, dass diese Frage noch Klärung erfordert.

Das hat das Verhalten einiger Führer der tschechischen Bruderpartei gezeigt. Ich habe vielleicht die tschechischen Ereignisse nicht genügend verfolgt; manches ist mir unklar geblieben, aber das Material, über das ich verfügte, genügt für manche Schlüsse. Ich las einen Artikel des Genossen Hula, der einen Satz aus einem meiner Artikel zitiert, in dem ich schrieb, dass die Voraussetzung der siegreichen Revolution die Gewinnung der Majorität in den wichtigsten, entscheidenden Schichten der Arbeiterklasse bildet. Genosse Hula schlug Alarm und versuchte mich zu konfrontieren mit dem, was Genosse Lenin schrieb. Meine Worte seien angeblich das Gegenteil dessen, was Lenin gelehrt hat, Hula schreibt folgendes:

„Es bedarf jedoch keiner Beweise dafür, dass die Eroberung der Majorität der Hauptschichten der Arbeiterklasse ein ungenauer, unbestimmter Ausdruck ist und dass seine Deutung in gewissem Sinne letzten Endes auch einen Widerspruch darstellt, denn die Eroberung der Majorität der »Hauptschichten« der Arbeiterklasse lässt sich auch auslegen als Eroberung der Minorität des Proletariats, besonders wenn man nicht weiß, was in dieser Definition das Entscheidende ist, welche Schichten der Arbeiterklasse wichtiger sind und welche weniger wichtig sind, so dass wir uns, wie aus dem Sinowjewschen Zitat folgt, um deren Gewinnung nicht zu sorgen brauchten.“

Hula ist einer der aufrichtigsten Anhänger der III, Internationale in der Tschechoslowakei, ich kenne ihn persönlich. Er ist ein guter Kommunist, umso schlimmer ist aber dieses Zeichen, umso mehr ein Beweis dafür, dass etwas faul ist im Staate Dänemark, dass man irgendwo rüttelt und schüttelt, um opportunistische Schlüsse zu ziehen.

 

Die Frage der Eroberung der Majorität

Ich werde Sie nicht mit Gegenzitaten ermüden, obwohl ich sie gesammelt habe. Ich will nur sagen, dass der 3. Kongress unter Lenins Leitung eine Resolution angenommen hat, in der gesagt wird, dass wir bemüht sind, die Arbeiterklasse durch Organisierung der „sozial entscheidenden” Schichten zu gewinnen. Der 4. Kongress hat diese Resolution bestätigt, indem er erklärt hat:

„…es bleibt die grundlegende Anweisung des 3. Weltkongresses, einen kommunistischen Einfluss unter der Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen und den entscheidenden Teil dieser Klasse in den Kampf zu führen, voll bestehen. – Noch mehr als zur Zeit des 3. Kongresses hat heute die Auffassung Gültigkeit, dass bei dem jetzigen labilen Gleichgewicht der bürgerlichen Gesellschaft ganz plötzlich die schärfste Krise ausgelöst werden kann infolge eines großen Streiks, eines Kolonialaufstandes, eines neuen Krieges oder selbst einer Parlamentskrise. Aber gerade deshalb gewinnt der »subjektive Faktor« ungeheure Bedeutung, d. h. der Grad des Selbstbewusstseins, des Kampfwillens und der Organisation der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde.”

Ich will damit nicht sagen, dass ich in meiner flüchtigen Formulierung den Grundsatz von der Eroberung der Mehrheit tadellos formuliert habe. Aber der Gedanke ist im Großen und Ganzen richtig, und zwar ist er der gleiche wie der des 3. Kongresses.

Ich akzeptiere ganz die Formulierung des 3. und des 4. Kongresses. Nur müssen wir alle eingedenk sein: Eroberung der Majorität – wofür? Für den revolutionären Kampf zum Sturz des Kapitalismus.

Was steckt hinter dem Artikel Hulas? Doch nur die bekannte opportunistische „Theorie”, man soll zuerst eine statistische Mehrheit von schier 99 Prozent gewinnen und in der Partei organisieren und dann erst an die Revolution denken.

Das ist ein rein opportunistischer Gedanke, der uns auf Irrwege führen würde, wenn wir tatsächlich diese Theorie annehmen wollten. Ich glaube, eine der wichtigsten Aufgaben des Kongresses wird in der Überprüfung der Frage der Gewinnung der Mehrheit bestehen. Wir haben hierbei nichts Neues zu sagen, wir werden nur gegen den Revisionismus in Bezug auf die Formulierung des 3. Kongresses auftreten müssen. Es gibt Genossen, die sich überhaupt um die Gewinnung der Majorität wenig kümmern, die diese Kardinalfrage sorglos behandeln. Gegen diese „Ultralinken” kämpfen wir. Doch sie bilden eine verschwindende Minorität. Das sind Gefühlsrevolutionäre, sie sind nicht besonders gefährlich. Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass manche ernsthafte Genossen eine statistische Mehrheit von 99 Prozent oder weiß Gott wieviel Prozent fordern, bevor sie von irgendeinem revolutionären Kampf reden wollen. Umso schlimmer, wenn Hula einen solchen Artikel schreibt. Es sind in ihm mehr verborgene Stimmungen enthalten, als Genosse Hula ausspricht.

Was die Gewinnung der Mehrheit betrifft, so glaube ich, müssen wir die Formulierung des 3. Kongresses bestätigen. Wir müssen klar sein darüber, dass bald ein Moment kommen wird, wo die Frage der Gewinnung der Mehrheit vor uns mehr praktisch stehen wird, denn in einer ganzen Reihe von Ländern beginnen wir uns der Gewinnung der Mehrheit zu nähern. In dieser Frage haben wir die Tabellen aufgestellt, die in diesem Saale hängen. Ich will Sie nicht mit Ziffern ermüden: aus ihnen geht hervor, dass der Augenblick naht, wo wir so stark sein werden, wie es die II. Internationale auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht war. Quantitativ werden wir bald diese Stärke erreichen und haben sie zum Teil schon erreicht. In manchen Ländern ist dies schon verwirklicht. Wir stehen dadurch vor ähnlichen Gefahren, wie die II. Internationale stand, eben weil wir zu Massenparteien werden. Es sind natürlich nicht ganz dieselben Gefahren, weil neben uns die Sozialdemokratie wirkt und die allerschlimmsten Elemente zu ihr gehen.

Je grösser die Verrätereien der Sozialdemokratie werden, desto stärker werden wir sein. Darum müssen wir auf diesem Kongress die Frage der Mehrheit ganz klar aufwerfen. Wir müssen um die Mehrheit der entscheidenden Schichten der Arbeiterklasse weiterkämpfen. Das ist eine der wichtigsten Parolen Lenins. Das will natürlich keinesfalls heißen, dass wir uns auf die Position der Sozialdemokratie zurückdrängen lassen werden. Das sind Kautskysche Methoden: zuerst die Arbeiterklasse zu 100 Prozent organisieren, sie in Partei und Gewerkschaft zusammenfassen, dann abstimmen und dann Revolution machen nach allen Regeln der Kunst! So würden wir niemals zu revolutionären Kämpfen kommen, niemals eine wahrhaft revolutionäre Partei werden.

Sie kennen alle die glänzende Arbeit des Genossen Lenin über die Ergebnisse der Wahlen zur Konstituante in Russland. Wir führten die Wahlen durch, als wir schon an der Macht waren; dennoch hatte unsere Partei nur 9 1/2 Millionen von 36 Millionen Stimmen bekommen, gegenüber 25 Millionen der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki. Genosse Lenin sagte dazu offen: Wir hatten noch keine zahlenmäßige Mehrheit, aber wir hatten die Mehrheit an den entscheidenden Stellen und im entscheidenden Moment – und das war das Wichtigste. Wenn Genosse Hula ein Schüler des Genossen Lenin sein will, sollte er die tschechischen Arbeiter lehren: die entscheidende Majorität an entscheidender Stelle im entscheidenden Augenblick!

Ist die größte Gefahr, die wir in der tschechischen Partei jetzt haben sollen, wirklich die Gefahr, dass wir zu früh losschlagen könnten? Sie wissen wohl, dass diese Gefahr in der Tschechoslowakei nicht besteht. Also warum mit diesem Artikel kommen? Und was bedeutet er objektiv nach dem kürzlich ausgefochtenen Kampf in der deutschen Partei und in der KI überhaupt? In dieser Lage bedeutet dieser Artikel nichts anderes als die Unterstützung der Rechten. Das soll man ganz offen aussprechen. Ich hoffe, dass Genosse Hula auf seinem Fehler nicht bestehen wird. Wir begehen alle gelegentlich Fehler; wenn wir einen Fehler gemacht haben, so sollten wir ihn korrigieren. Aber wenn Genosse Hula anders denkt und wenn er sich daraus eine Theorie machen will und die tschechischen Genossen ihn darin unterstützen werden, so wird ein ernster Kampf der KI mit diesem Flügel der tschechischen Partei absolut unvermeidlich sein, denn aus diesen Theorien folgt die Praxis der Rechten in der deutschen Partei, dabei ist in manchen Beziehungen die Lage in der tschechischen Partei noch viel schwieriger.

 

Die Aufgaben der KPD

Viele zweifeln jetzt an den Kräften der deutschen Partei. Mit viel Behagen zitiert der „Vorwärts” Radeks Worte, dass der Wahlsieg der deutschen Kommunisten gar nicht so groß sei. Aber wenn wir in Deutschland auf parlamentarischem Gebiete eine Proportion von 62 Kommunisten zu 100 Sozialdemokraten haben, so ist das für jedermann ein Beweis, dass wir nahe daran sind, die Mehrheit in der deutschen Arbeiterklasse zu bekommen, weil die deutsche Sozialdemokratie hundert Vorsprünge auf dem Gebiete des Parlamentarismus hat, weil für sie nicht nur Arbeiter allein gestimmt haben. Alles das ist ein Beweis dafür, dass wir nahe daran sind, die Majorität der deutschen Arbeiterklasse zu gewinnen.

Ich habe die Ergebnisse der Wahlen zu den Betriebsräten in Deutschland nachgeprüft. Sie sind viel günstiger als die Wahlen zum Parlament. Es ist eine Zusammenstellung, die Genosse Varga mit seinen Mitarbeitern gemacht hat. Das heißt aber nicht, dass wir jetzt ausruhen können. Wir können die gewonnenen lassen auch wieder verlieren, wenn wir Fehler begehen. Wir werden und müssen die Majorität der Arbeiter im Kampfe zusammenbringen, wir müssen weitergehen.

Also in Deutschland geht es voran und vielleicht auch noch in einigen anderen Parteien. Aber für 90 Prozent der Kommunistischen Internationale stehen die Dinge so, dass sich die Parteien weniger um die „große Politik” kümmern sollen, als folgende einfache Maßregeln zu treffen.

Sie müssen es erstens verstehen, eine kommunistische Partei zu schaffen und die Partei auf Betriebszellen aufzubauen. Wenn wir in den Betrieben keine kommunistischen Zellen haben, sind wir keine Kommunistische Partei.

Zweitens müssen wir eine richtige Taktik in den Gewerkschaften anwenden, in den Gewerkschaften kommunistische Fraktionen zu bilden und sie von innen zu erobern wissen.

Drittens müssen wir eine richtige Politik in der nationalen Frage treiben.

Viertens müssen wir eine richtige Politik in der Bauernfrage führen.

 

Die Gewinnung der Bauernschaft

Man ist nicht Leninist, wenn man es nicht versteht, unter den Bauern zu arbeiten. Ich habe schon auf die Agrarkrise der Welt hingewiesen. Das allein sollte uns Anlass geben, eine bestimmte Bauernarbeit zu führen, weil viele Bauern verzweifeln. Bisher war es so, dass sogar kommunistische Parteien in ausgesprochenen Agrarländern die Bauern nicht für uns zu gewinnen wussten. Sogar die Balkanparteien und die polnische Partei haben sich bis zur letzten Zeit keine ernste Mühe gegeben, Arbeit unter den Bauern zu leisten. Sie kennen das Ergebnis der Wahlen in Karpatho-Russland.

Manche tschechischen Genossen und insbesondere die Genossen aus Karpatho-Russland arbeiteten heldenhaft und setzten sich in der Wahlkampagne großen Gefahren aus. Aber ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass die Partei im Allgemeinen die Bauernfrage in der Tschechoslowakei nicht genügend einschätzt; Karpatho-Russland zeigt, wie wichtig es ist, dass wir es verstehen, unter den Bauern zu arbeiten, Es darf nicht mehr vorkommen, dass z. B. unsere rumänischen Genossen nicht wissen, wie viele Bauern es in ihrem Lande gibt, welche Agrarverhältnisse dort bestehen usw.

Was war der Hauptfehler der bulgarischen Partei im Juni 1923? Eben, dass sie keine revolutionäre Fühlung mit den Bauern hatte, sich nicht über die Rolle der Bauern im Klaren war. Sie hat es jetzt korrigiert, und es geht jetzt schon schneller vorwärts.

Statt sich mit „hoher Politik” zu befassen, muss der größte Teil unserer kommunistischen Parteien darauf achten, kommunistische Arbeit zu leisten, kommunistische Betriebszellen zu bilden und in den Gewerkschaften und in der nationalen und Bauernfrage eine richtige Politik einzuschlagen. Wenn wir das verstehen, so haben wir 99 Prozent unserer Aufgaben gelöst.

 

Über Teilforderungen

Ich möchte noch ein paar Worte über die Teilforderungen sagen, Wir Bolschewiki trennten uns von den Menschewiki nicht deshalb, weil wir gegen Teilforderungen waren, sondern deshalb, weil wir es verstanden, diese Teilforderungen mit den Grundfragen der Revolution zu verknüpfen. Für die Menschewiki waren die Teilforderungen ein Schritt zur Ersetzung der Revolution durch die reformistische Evolution, für uns aber waren sie ein Kettenglied in der Vorbereitung der Revolution. Wenn die deutschen Genossen eine Kampagne für den Achtstundentag oder für politische Amnestie führen, so sind es Teilforderungen, die wir aufstellen müssen, falls wir eine Massenpartei sein wollen. Ist die Forderung des Achtstundentages oder die der politischen Amnestie ein Endziel? Nein, es sind bloß Teilforderungen. Prinzipiell unterscheidet sich die von der KPD seinerzeit aufgestellte Forderung der 51 Prozent Sachwerterfassung nicht von anderen Teilforderungen. Aber es gilt, in jedem Augenblick die „Teilforderung” aufzustellen, die Anklang in den Massen findet, und es gilt, sie in Zusammenhang zu bringen mit der Vorbereitung zur Revolution. Ich glaube, die wirkliche. Linke der KI, die wahrhaft leninistisch ist, kann prinzipiell keinesfalls die Taktik der Teilforderungen bekämpfen, sondern muss auf Grund dieser Taktik es verstehen, eine wirkliche Politik der Revolution und nicht der Evolution zu betreiben.

 

Die Linksschwenkung in der englischen Arbeiterbewegung

Um dieses Kapitel zu beenden – noch ein paar Worte zur Gewerkschaftsfrage. Ich glaube, diese Frage wird eine der wichtigsten Fragen unserer Tagung sein. Wir sehen neue, sehr wichtige Erscheinungen, in erster Linie in der englischen Gewerkschaftsbewegung. Die englische Arbeiterbewegung ist eine eigenartige Bewegung. Ich habe unlängst einen Bericht von Max Beer gelesen. Er ist kein Kommunist, er war früher Sozialdemokrat, jetzt hat er auch diese Reihen verlassen, ein ausgezeichneter Kenner der englischen Arbeiterbewegung und ein gewissenhafter Mann. Sein Gutachten hat große Bedeutung. Was sagt er über die Arbeiterbewegung in England?         Er sagt: Drei revolutionäre Tatsachen kenne ich in England. Die erste ist die Chartistenbewegung, die zweite die Gründung der Labour Party und der Anfang des Kampfes gegen den alten Trade Unionismus, die dritte epochemachende Tatsache ist die jetzt beginnende Befreiung der englischen Arbeiterbewegung vom Reformismus. Dieser Prozess – sagt er – hat im Jahre 1917 angefangen mit der russischen Revolution, hat sich ganz allmählich entwickelt, aber jetzt sieht er der Vollendung entgegen, wo die Quantität in Qualität umschlagen wird.

Es hat den Anschein, Genossen, dass er recht hat. Er sagt ferner, es beginnt ein Auseinandergehen des besten Teils der englischen Gewerkschaften und der Labour Party, die doch bisher auf Grund der Gewerkschaften aufgebaut war.

Ich glaube, Genossen, das ist im Allgemeinen richtig. Sehen Sie, was dort vor sich geht. Plötzlich erobert ein Genosse, der den revolutionären Ansichten nahesteht, wie Cook, eine große Gewerkschaft. Man soll das nicht überschätzen. Selbstverständlich, es sind nur Anzeichen, Symptome, aber, Genossen, man soll es auch nicht unterschätzen. Die Haltung der Engländer in Wien auf dem Kongress der Amsterdamer war eine symptomatische Erscheinung. Gewiss, die Leute sind inkonsequent, aber sie werden von der Masse getrieben. Als die Leute aufstanden und Sassenbach fragten: Wo ist Rosa Luxemburg, wo ist Karl Liebknecht? – was bedeutet das? Die englischen Gewerkschaften waren bisher die Hauptstütze von Amsterdam. Sie sind für Amsterdam dasselbe, was die russische und die deutsche Partei für die Kommunistische Internationale sind. Was wäre, wenn die russische und die deutsche Kommunistische Partei, sagen wir, auf diesem Kongress sozialdemokratische Reden gegen die Kommunisten halten würden?! Jedermann würde sagen: Das ist die Krise der Kommunistischen Internationale, die wirkliche Krise, nicht die Krisen, die Radek täglich in seiner Westentasche hat, und nach denen wir mit jedem Monat stärker werden. Es wäre also eine wirkliche Krise. Nun, diese Krise ist bei den Amsterdamern da. Was heißt das, wenn die Engländer fragen: „Wo sind Luxemburg und Liebknecht?” Sie sagen damit dasselbe, was wir wiederholen, nämlich dass die Sozialdemokraten die Komplizen oder Schuldigen an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind. Gewiss, die Leute sind inkonsequent, sie haben kein Programm, sie haben teilweise aus demonstrativen Motiven gehandelt, um zu betonen, dass sie im Moment der Verhandlungen der beiden Regierungen in London eine Annäherung an die russischen Gewerkschaften suchen. Dennoch ist es ein ernsthaftes Symptom.

Die Hauptaufgabe der KI wird jetzt auf England übertragen, auf allen Gebieten. Haben wir in England eine kommunistische Massenpartei, so ist es der halbe Sieg in europäischem Maßstab. Und jetzt sind die Bedingungen dafür herangereift. Darum sollen wir nicht unterschätzen, was in England vor sich geht. Wir kennen England zu wenig, fast so wenig wie Amerika.

Ich glaube, Genossen, wir werden jetzt die Frage reiflich prüfen müssen, was zu tun ist, um eine tatsächliche Einheit der Gewerkschaftsbewegung auf internationalem Gebiet zu erreichen. Die Gerissensten unter den Sozialdemokraten, die Deutschen, die Belgier, die Franzosen – sie wollen diese Einheit nicht. Wir haben schon auf dem 4. Kongress erklärt, dass die Sozialdemokraten jetzt alles aufbieten, um eine Spaltung der Gewerkschaften zu erreichen, wir müssen dahin arbeiten, eine Einheit der Gewerkschaften im internationalen Maßstab zu erzielen.

 

VIII. Taktik der Einheitsfront

Die Wurzeln der Einheitsfront

Ich komme jetzt, Genossen, zur Einheitsfronttaktik. Es ist eine Frage, die am meisten in unseren Reihen umstritten ist. Ich bin da ganz mit der Instruktion der KPD an ihre Delegation einverstanden, der Instruktion, in der die deutsche Partei erklärt, man solle jetzt nicht über die Einheitsfronttaktik als „Ding an sich” diskutieren. Ich bin damit einverstanden, die Taktik der Einheitsfront bleibt richtig, man soll die Frage konkret stellen, von Land zu Land, entsprechend den Verhältnissen.

Ich kann nicht umhin, einiges Allgemeine zu diesem Thema zu sagen. Historisch genommen: Was war für uns die Einheitsfronttaktik, wenn man die chronologische Entwicklung betrachtet? Ich glaube, wenn man jetzt den zurückgelegten Weg überschaut, so ist das für uns klar. Für die KI als Ganzes war die Einheitsfronttaktik eigentlich zuerst (d. h.in den Jahren 1921/22) das aufkommende Bewusstsein, dass wir erstens noch keine Mehrheit in der Arbeiterklasse haben; zweitens, dass die Sozialdemokratie noch sehr stark ist; drittens, dass wir in der Defensive sind, der Feind aber in der Offensive ist (nebenbei bemerkt, auch die Streiks des verflossenen Jahres, z. B. in England, waren zum großen Teil Defensivstreiks, ebenso in den andern Ländern); viertens, dass der entscheidende Kampf noch nicht direkt auf der Tagesordnung steht. Daraus folgerten wir die Parole: „An die Massen!” und weiter – die Taktik der Einheitsfront.

Ich habe schon angedeutet, Genossen, es war eine Zeit in der Kommunistischen Internationale, wo wir eigentlich nur eine Propagandagesellschaft waren, ohne es selber zu wissen. Nach den ersten Kämpfen hat sich das wirkliche Kräfteverhältnis und eben das Bewusstsein geklärt, dass wir noch in der Minderheit sind, dass die Sozialdemokratie noch stark ist, dass wir einstweilen erst in der Defensive sind – und das hat den Anfang der Einheitsfronttaktik ergeben.

 

Die Entstellung der Einheitsfrontparole

Nun, Genossen, hat mit dieser Parole die Geschichte sozusagen einen schlechten Scherz gemacht, was mit Parolen ziemlich oft vorkommt. Wir fassten die Einheitsfronttaktik als die Taktik der Revolution im Zeitabschnitt des verlangsamten Kampfes auf. Sofort haben sich Genossen in unseren Reihen eingefunden, die aus ihr etwas ganz anderes gemacht haben, und zwar eine Taktik der Evolution, eine Taktik des Opportunismus gegen die revolutionäre Taktik. Das hat sich allmählich herausgestellt. Zuerst hatte es den Anschein, es würde sich um unbedeutende Nuancen oder stilistische Feinheiten handeln. Wir fassten die Taktik der Einheitsfront als die Taktik der Vorbereitung der Revolution auf. Aber manche Genossen aus unserer Mitte legten sie als die Taktik des Ersatzes der revolutionären Taktik durch friedliche, evolutionäre Methoden aus. Wir verstanden diese Taktik als strategisches Manöver, aber manche Genossen begannen die Taktik der Einheitsfront zu deuten als Versuch eines Bündnisses mit der Sozialdemokratie, als Koalition „sämtlicher Arbeiterparteien“.

Eine kommunistische Partei hat neulich eine Resolution angenommen, die „nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist”, in der es heißt: Alles schön und gut, strategisches Manöver, nur soll man nicht so oft davon in der Öffentlichkeit reden, denn unsere Gegner werden es sofort aufgreifen. In der Resolution heißt es wörtlich:

„Dabei (ach, bei der Taktik der Einheitsfront) ist darauf zu achten, dass wir nicht ohne zwingende Gründe unseren Klassengegnern den Sinn unserer revolutionären Strategie eröffnen.“

Ich glaube, Genossen, das ist entweder naives Kinderspiel oder Reformismus. Eher das letzte, denn diejenigen, die die Frage so gestellt haben, sind alles andere eher als Kinder.

Das Hauptunglück, das Pech unserer Parteien besteht darin, dass, wenn man ihnen eine revolutionäre Strategie gegenüber dem Feinde, gegenüber dem schlauesten Feinde, der Sozialdemokratie, vorschlägt – sie sofort versuchen, diese Strategie zu „vertiefen”, „marxistisch” zu „erklären”, eine Theorie abzuleiten, die nicht kommunistisch ist.

 

Was ist revolutionäre Strategie?

Die bolschewistische Partei hat in der Revolution viele strategische Manöver durchgemacht. Der Genius Lenins lag zum großen Teil in dieser Kunst der revolutionären Strategie. Das Glück unserer Partei bestand darin, dass wir bei jedem Manöver wussten, was wir wollten. Wir konnten deshalb auch manövrieren. „Wir wissen, was wir wollen” – das war die Stimmung. Wir wussten, wir wollten den restlosen Kampf. Wir wussten, wir wollten den Sieg, wir wollten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre politisch vernichten – und dazu manövrierten wir politisch. Das Pech mancher unserer jungen und nicht nur jungen Sektionen in der KI besteht eben darin, dass sie erstens mitunter ein strategisches Manöver überhaupt für unzulässig halten, und dass sie es zweitens, wenn sie es anwenden, sofort zu ernst nehmen, dass sie sich daraus eine Methode, ein ganzes tiefsinniges System machen. Daraus sind 90 Prozent unserer Misserfolge zu erklären. Wir sind von Feinden umzingelt; der schlaueste Feind ist die Sozialdemokratie.

Es hat sich gezeigt, dass manche Parteien, manche Genossen es nicht verstanden und nicht verstehen wollten, dass die Taktik der Einheitsfront für die Kommunistische Internationale nichts anderes ist als eine Methode der Agitation und der Mobilmachung der Massen.

Ich muss hier zugeben, dass manche Schuld hierbei auch auf mich zurückfällt, ich war etwas zu nachgiebig.

Gestatten Sie mir, dass ich etwas ausführlicher darüber spreche. Im Juni 1922 hielt ich in der Erweiterten Exekutive eine Rede über die Einheitsfronttaktik, in der ich sagte: „Einheitsfront bedeutet keinesfalls politische Konzessionen; es handelt sich nicht darum, die Selbständigkeit unserer Partei zu beeinträchtigen, sondern darum, dass unsere selbständigen kommunistischen Parteien unsere Parolen zweckmäßig formulieren. Die Arbeiterregierung ist ein Pseudonym für die Diktatur des Proletariats.”

Ich wurde sofort von den Vortretern der deutschen Rechten angegriffen; ich muss sagen, ich habe nicht sofort begriffen, weswegen man mich angriff. Der Genosse Ernst Meyer z. B. hielt auf den 4. Kongress eine Rede, in der er mich deswegen angriff. Der Genosse Radek versuchte zu vermitteln und rückte selber auf dem 4. Kongress leise von meiner Formulierung ab. Mein Fehler bestand darin, dass ich damals nicht einsah, dass es sich nicht um eine stilistische Formulierung, sondern um eine opportunistische Auslegung einer richtigen Losung handelte. Ich nahm zuerst an, dass ich durch meine schroffe Formulierung vielleicht tatsächlich den Genossen die Agitation mit dieser Parole vor den sozialdemokratischen Arbeitern erschwert hätte. Kurz und gut: ich habe nicht sofort eingesehen, warum man eigentlich diesen Satz bekämpfte.

 

Arbeiter- und Bauernregierung

Gestatten Sie mir hier ein paar Worte über die Arbeiter und Bauernregierung zu sagen. Auch die Parole der Arbeiter und Bauernregierung hat man versucht, als eine Regierung „aller Arbeiterparteien plus einiger Bauernparteien” auszulegen. Man tut jetzt manchmal so, als ob dies eine spezifische Parole für eine ganze Periode wäre, als bedeutete sie das Bündnis „aller” Arbeiter- und Bauernparteien im Rahmen der bürgerlichen Demokratie, und ähnlichen Unsinn. Aber in Wirklichkeit ist ja diese Losung, Teufel noch einmal, mit der Geschichte der russischen Revolution verknüpft.

Welches ist die historische Entstehung dieser Parole? Welchen Sinn hatte diese Parole in der russischen Revolution? Sie war das „Pseudonym“ für die Diktatur des Proletariats, nichts mehr. Als wir nach den Julitagen 1917 einsahen: es geht vorwärts, die Arbeiter und Soldaten sind für uns, wir können einen Teil der Bauern gewinnen – da standen wir vor der Frage, wie ist das Ziel des Kampfes am besten, am einfachsten, am klarsten, am gewinnendsten zu formulieren. Die Parole „Diktatur des Proletariats” wäre für die breiten Massen nicht so verständlich gewesen. Woher sollte der Analphabet, der Muschik und der russische Soldat diese lateinischen Worte „Diktatur des Proletariats” verstehen? Da haben wir diese Worte ins Russische übersetzt und gesagt: Du Bauer, du Arbeiter, du Soldat, du siehst diese Bande, die uns regiert, wir haben die Macht, wir haben die Waffen, willst du eine Regierung der Arbeiter und Bauern haben? Wir haben ihnen diese lateinischen Worte in die einfache, verständliche Sprache des revolutionären Kampfes übersetzt. Der Bauer, der Arbeiter, der Soldat ist nicht verpflichtet zu wissen, was Diktatur des Proletariats heißt. „Arbeiter- und Bauernregierung” hat er verstanden.

Manche unserer Genossen sind dazu gekommen, dass sie diese Losung als Regierung „aller” Arbeiterparteien gemeinsam mit manchen Bauernparteien auslegten. D. h. man hat aus dieser Parole das Gegenteil von dem gemacht, was sie sein sollte. Dagegen muss aufs Entschiedenste gekämpft werden.

 

Formulierung der Einheitsfront

Sie wissen: man hat viel um die Frage gestritten: Einheitsfront „von unten” oder „von oben” usw. Ich glaube, wir können folgende Formulierung gebrauchen.

Einheitsfront von unten – diese Taktik ist eigentlich immer notwendig, vielleicht mit Ausnahme ganz seltener Momente des sich entfaltenden direkten Bürgerkrieges, wo man schon mit dem Gewehr in der Faust eventuell gegen jene Arbeiter kämpfen muss, die konterrevolutionär gestimmt sind (obwohl wir aus der Geschichte der russischen Revolution wissen, dass sogar in diesen schärfsten Augenblicken die Einheitsfront von unten von uns durchgeführt werden konnte. In dem Moment, als Kerenski gegen Petersburg marschierte, haben wir einen Teil der Arbeiter aus der sozialrevolutionären Partei gegen ihre eigene Regierung mobilisiert, und sie haben mit uns gemeinsam gekämpft). Einheitsfront von unten – immer oder fast immer, denn das bedeutet die tatsächliche Mobilisierung aller wirklich revolutionären Arbeiter mit Ausnahme ganz seltener Momente.

Einheitsfront von unten und zugleich von oben. Das ist schon ein zweiter Fall. Diese Form muss ebenfalls ziemlich häufig angewandt werden. Nicht immer, aber ziemlich oft in den Ländern, wo wir in der Minderheit sind. Ich glaube, niemand von den „Linkesten” wird bestreiten wollen, dass wir z. B. in England, in Österreich, in Belgien, wo wir einstweilen eine kleine Minderheit sind, die Taktik der Einheitsfront von unten und zugleich von oben anwenden müssen. Gewiss, mit allen Vorbehalten und Garantien in ihrer Anwendung, damit sie nicht zur opportunistischen Entstellung werde; als Methode der Agitation und Mobilisierung der Massen, nicht zur Methode der politischen Koalition mit der Sozialdemokratie.

Der dritte Fall ist die Einheitsfront von oben allein. Ich glaube, hier muss man sagen: Niemals!

Leider war bei uns die Praxis derart, dass man diese Methode am häufigsten anwandte: einen offenen Brief an die Sozialdemokratie richten, lange und langweilige Unterredungen mit den Spitzen führen zur Aufstellung eines „gemeinsamen Programms” – das ist natürlich die Linie des geringsten Widerstandes.

Zu dieser Frage können wir also folgendes feststellen: Einheitsfront von unten – fast immer, Einheitsfront von unten und zugleich von oben – ziemlich oft, mit allen notwendigen Garantien als Taktik zur revolutionären Mobilisierung der Massen, Einheitsfront nur von oben – niemals! (Zwischenruf Radek: Richtig!)

Sogar Radek ruft: Richtig! Wie hat sich die Sache in Wirklichkeit gestaltet? Es kam der 4. Kongress, auf dem die Resolution über die Arbeiterregierung angenommen wurde. Hier muss ich wiederum offen gestehen – Revolutionäre müssen immer offen ihre Fehler eingestehen –, dass bei der Abfassung dieser Resolution von mir manche Fehler zugelassen wurden, zu viele Konzessionen gemacht wurden, die als redaktionelle Konzessionen erschienen, in Wirklichkeit aber in politische Konzessionen an die Rechten verwandelt wurden. Ich meine folgenden Satz aus der von mir abgefassten Resolution des 4. Kongresses über die Arbeiterregierung:

„Einer offenen oder maskierten bürgerlichen-sozialdemokratischen Koalition stellen die Kommunisten die Einheitsfront aller Arbeiter und eine Koalition aller Arbeiterparteien auf ökonomischem und politischem Gebiete zum Kampfe gegen die bürgerliche Macht und zu ihrem scheußlichen Sturz gegenüber. Im vereinten Kampfe aller Arbeiter gegen die Bourgeoisie soll der ganze Staatsapparat in die Hände der Arbeiterregierung gelangen, und dadurch sollen die Machtpositionen der Arbeiterklasse gestärkt werden.”

 

Über „Kompromisse”

Ich erinnere mich sehr wohl an die Arbeit der Kommission. Ich will keineswegs sagen, dass alle guten Sätze der Resolution von mir und die schlechten nicht von mir herrühren. Mein Fehler besteht darin, dass ich redaktionelle Konzessionen machte, die später als politische ausgelegt wurden. Vom Standpunkt der politischen Agitation, des strategischen Manövers muss dieser Satz als richtig anerkannt werden. Er ist durchaus zulässig.

Im Jahre 1917 schrieb Lenin in seinem Artikel „Über Kompromisse” über ein mögliches Abkommen mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zur Bildung einer vor den Sowjets verantwortlichen Regierung durch die letzteren. Er schrieb wörtlich:

„Nun ist eine solche jähe und originelle Wendung der russischen Revolution eingetreten, dass wir als Partei ein freiwilliges Kompromiss anbieten können – freilich nicht der Bourgeoisie, unserem direkten und ersten Klassenfeinde, sondern unseren nächsten Gegnern, den »führenden« kleinbürgerlichen Parteien – den Sozialrevolutionären und Menschewiki. – Nur in Ausnahmefall, bloß kraft der besonderen Lage, die offenbar nur eine ganz kurze Zeit lang anhalten wird, können wir diesen Parteien ein Kompromiss vorschlagen, und ich glaube, wir müssen es tun… – Ein Kompromiss ist unsererseits unsere Rückkehr zu der Vor-Juli-Forderung: Alle Macht den Räten, eine vor den Räten verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki. – Jetzt und nur jetzt, vielleicht nur während einiger Tage oder ein, zwei Wochen könnte eine solche Regierung sich bilden und sich vollkommen friedlich konsolidieren. Sie könnte, mit größter Wahrscheinlichkeit, die friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution sichern und hätte außerordentlich große Chancen, die internationale Bewegung für den Frieden und den Sieg des Sozialismus weiterzubringen. – Nur im Namen dieser friedlichen Entwicklung der Revolution – einer in der Geschichte höchst seltenen und höchst wertvollen Möglichkeit, einer ausnehmend seltenen Möglichkeit –, nur in ihrem Namen können und müssen die Bolschewiki als Verfechter der Weltrevolution und Anhänger der revolutionären Methoden meiner Meinung nach auf ein solches Kompromiss eingehen.”

Und an anderer Stelle:

„Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch, soweit sie unvermeidlich sind, den eigenen Prinzipien, der eigenen Sache, der Vorbereitung der Revolution und der Erziehung der Volksmassen zum Siege in der Revolution die Treue zu wahren,” (S. Artikel „Über Kompromisse” vom 3. September 1917.)

 

Strategisches Manöver – nicht System

Das war eben, Genosse Smeral, ein strategisches Manöver! Man sprach von einer „ehrlichen Koalition”. In der Agitation ist eine solche Redewendung zulässig. Ich selbst hatte damals ebenfalls die Gelegenheit, ähnliche Artikel zu schreiben. Hatte denn Lenin damals die Absicht, sich mit den Menschewiki auszusöhnen, einzutreten in die Regierung „aller” Arbeiterparteien oder in eine Regierung aller Arbeiter- und Bauernparteien? Mitnichten! Dies war ein strategisches Manöver. Wenn man aber diesen Satz „vertieft”, ihn zu einem System, einer „Theorie” macht, allen Ernstes meint, in eine friedliche demokratische Koalition mit „allen Arbeiterparteien” eintreten zu dürfen, die sich nur Arbeiterparteien nennen und in Wirklichkeit dritte bürgerliche Parteien sind, so führt das zum Opportunismus. Gewiss, die Stärke dieser anderen angeblichen „Arbeiterparteien” ist noch sehr groß. Wenn diese sogenannten Arbeiterparteien wirkliche Arbeiterparteien wären, nicht allein ihrer Zusammensetzung, sondern ihrem politischen Charakter nach – wenn sie sich in Wirklichkeit, sei es auch nur vorübergehend, uns anschlössen, so wären wir jetzt schon eine unbesiegbare Macht in Europa. Aber sie sind Arbeiterparteien nur in Worten. Darum ist eine Koalition „aller” Arbeiterparteien, solcher, die wirkliche Arbeiterparteien sind, wie wir, und solcher, die sich Arbeiterparteien nennen und objektiv bürgerliche Parteien sind, ein Nonsens, ein Verbrechen, eine konterrevolutionäre Utopie oder Opportunismus.

Es stellte sich jedoch heraus, dass für eine Reihe unserer Genossen die Taktik der Einheitsfront nicht nur eine Methode der Agitation und Mobilmachung der Massen, die Methode einer Partei war, die weiß, was sie will. Ich hatte es nicht gleich richtig gesehen. Ich sah nicht, dass man aus dem strategischen Manöver eine Bibel, eine opportunistische Bibel machen wird (obwohl ich sagen muss, dass ich schon in den ersten Thesen zur Frage der Einheitsfront ausführlich von den Gefahren einer opportunistischen Deutung dieser Parole sprach). Das hat man aber getan.

 

Die Lehre Sachsens

Der Gipfelpunkt war Sachsen. Für uns wurde es bald absolut klar, dass in Sachsen sich eine wahrhaft banale parlamentarische Komödie der Koalition mit den „linken” Sozialdemokraten abgespielt hat. Das war das Gefühl aller russischen Bolschewiki und ich glaube auch aller deutschen revolutionären Arbeiter und wirklichen Bolschewiki. In diesem Moment war die Scheidelinie da. Man soll Sachsen nicht mit dem Argument rechtfertigen, wir hätten die Möglichkeit der Revolution überschätzt. Das ist ein ziemlich billiges Argument. Sicher ist das Gelingen der Revolution niemals. Ich sage: Wenn eine solche revolutionäre Situation, wie sie im Oktober 1923 da war, sich wiederholt, werden wir noch einmal darauf bestehen, offen auszusprechen, dass die Revolution an die Tür pocht. Im Oktober waren die Vertreter der wichtigsten kommunistischen Parteien hier. Niemand hat ein Wort gegen die Auffassung der Exekutive gesagt. Alle stimmten darin überein, dass der Einsatz auf die Revolution gemacht werden muss. Aber die Hauptverantwortung ruht auf den Schultern der Exekutive, der deutschen und der russischen Bruderpartei. Ich wiederhole: Wenn eine solche Situation noch einmal eintritt, werden wir die Zahlen überprüfen, unsere Kräfte besser zählen, aber wir werden wieder alles auf die Karte der Revolution setzen.

Dass man die Situation überschätzt hat, ist noch nicht das Schlimmste. Schlimmer war, dass das sächsische Beispiel gezeigt hat, welche großen Überbleibsel der Sozialdemokratie wir noch in unserer Partei haben. Radek fragte uns: Habt ihr alle deutschen Zeitungen so gelesen, wie ich sie gelesen habe, kennt ihr alle Details über die sächsische „Erfahrung”? Aber die Arbeiter, die Moskauer und die Leningrader Bolschewiki antworteten ihm: Nun, wir verstehen die deutsche Sprache nicht, wir können keine deutschen Zeitungen lesen, aber wir haben drei Revolutionen durchgemacht: eine 1905 und zwei 1917, unter Führung Lenins. Soviel verstehen wir, dass das, was sich in Sachsen abgespielt hat, eine banale parlamentarische Komödie war. Die sächsische Erfahrung hat die wahre Sachlage offenbart, hat gezeigt, wie es mit der Einheitsfront und der Arbeiterregierung bei dem rechten Flügel der KI bestellt ist.

Die Resolution des 4. Kongresses zur Frage der Arbeiterregierung ist im Allgemeinen richtig. Manche Stellen sind ausgezeichnet, manche Voraussetzungen wurden gerechtfertigt. Diese Sätze sind als weitgedachter strategischer Plan der Gewinnung der Massen zu verstehen. Aber eine ganze „demokratische” Theorie aufbauen, erklären, dass wir eine ganze Periode von Arbeiterregierungen „aller” kommunistischen und sogenannten Arbeiterparteien oder sogar noch Bauernparteien haben werden im Rahmen der „Demokratie” – das ist der Anfang des Opportunismus.

Wie hat sich die Sache weiterentwickelt? Die Rechte in der KI ist nach dem 4. Weltkongress zur Offensive übergegangen. Es fand der Leipziger Parteitag statt, wo eine Resolution angenommen wurde, in der gesagt wird, in Deutschland sei bei der Anwendung der Einheitsfronttaktik ausschlaggebend die Anknüpfung an die Illusionen und Vorurteile der breitesten sozialdemokratischen Arbeitermassen. Das ist vielleicht eine unglückliche Fassung? Aber was ist die folgende Beschreibung der Arbeiterregierung:

„Sie ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlich-parlamentarischer Aufstieg zu ihr. Sie ist Versuch der Arbeiterklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben…”

 

Die Fehler der tschechoslowakischen KP

Nach dem Parteitag in Leipzig kam der Parteitag in Prag, der Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Wenn Sie die Resolution des Prager Parteitags studieren, finden Sie dort folgenden Satz:

„Die Arbeiterregierung kann auch ein friedlicher Übergang zur Diktatur des Proletariats sein. Sie ist ein Versuch der Arbeiterklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben.”

Wie Sie sehen, eine wörtliche Wiederholung. Ich weiß nicht, ob es elementar geschah, oder ob hier ein „Plan” war. Natürlich ist das letztere der Fall! Es wurde buchstäblich dieselbe „goldene”, in Wirklichkeit aber opportunistische These aufgestellt. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob das ganz elementar gekommen ist, oder ob hier ein „Plan” vorliegt. (Zwischenruf Radek: Keine!) Sie wissen ja, dass Genosse Radek auf anderen Gebieten für einen „Plan” ist. (Zwischenruf Brandler: Radek war ganz unschuldig an der Sache.) Nein, Sie irren, Genosse Brandler, an der ganzen Sache ist Radek viel mehr schuld als Sie, wie überhaupt an den opportunistischen Fehlern der letzten Periode. Bucharin und ich protestierten gegen diesen Satz der Leipziger Resolution, aber auch hier muss ich gestehen, aus Nachgiebigkeit, da wir noch nicht sahen, dass es sich hierbei um ein ganzes opportunistisches System handelt, taten wir es nicht offen und formell. waren wir nicht entschlossen genug, haben nicht genügend die Macht der Exekutive angewandt.

Genosse Radek sagte damals: Was wollen Sie von Brandler, feine Formulierungen sind nicht seine Sache, Brandler ist ein Bauarbeiter, und wenn er formuliert, so schmeißt er mit Ziegelsteinen. Das hat Genosse Radek auf unserem Parteitag gesagt. Nun gut, Brandler ist ein Bauarbeiter, aber Smeral ist ja kein Bauarbeiter, wenn er argumentiert, schleudert er keine Ziegelsteine. (Heiterkeit.) Ich muss übrigens sagen, dass der Schluss der Resolution bei Smeral viel geschickter ausgefallen ist als bei Brandler. Aber den grundlegenden opportunistischen Satz hat auch er wiederholt.

Nun, Genossen, wer auf diesem Satz besteht, der gerät in Konflikt mit dem Kommunismus und dem Leninismus. Der hat sich ein Bild von einer besonderen friedlichen Übergangsperiode der Arbeiterregierung oder der Arbeiter- und Bauernregierung gemacht, so, als ob alles ohne Revolution, im Rahmen der Demokratie verlaufen würde.

Nach Leipzig und Prag – und besonders nach Sachsen – hört die Gemütlichkeit auf. Es ist klar, es handelt sich hierbei nicht um Worte, sondern um zwei Systeme der Politik. Die deutsche Linke, von der wir eine Zeitlang geglaubt haben, sie übertreibe vieles (und in manchen Dingen hat sie tatsächlich sehr übertrieben), hatte in diesen Dingen recht. Sie waren die einzigen, die in Moskau den Ausgang des sächsischen Experiments voraussagten. Das machte uns nachdenklich und zwang uns, die Linke mit anderen Augen anzusehen.

Das sächsische Experiment hatte eine neue Lage geschaffen, es drohte, den Anfang der Liquidierung der revolutionären Taktik der Komintern zu bringen, und da müssen wir eben wählen und klar aussprechen, um was es sich handelt.

 

Die Einheitsfronttaktik bleibt voll in Kraft

Was ist die Taktik der Einheitsfront? Was ist die Arbeiterregierung und was ist die Arbeiter- und Bauernregierung? Man soll nicht versuchen, uns einzuschüchtern, wie es Genosse Radek manchmal getan hat, indem er sagte, wir unternähmen die Revision des 4. Kongresses und überhaupt fast aller früheren Beschlüsse der KI. Wozu solche „schrecklichen” Worte? Wir wollen bloß die übertriebenen, unvorsichtigen und falschen Formulierungen revidieren, die Radek in die Resolutionen des 4, Kongresses hineingebracht hat. Wir wollen, dass sie nicht ausgenutzt und nach Gutdünken ausgelegt werden können. Wir wollen so sprechen, dass jeder Bauarbeiter oder Professor klar sieht, um was es sich handelt. Wir sind für die Anwendung der Einheitsfronttaktik zur Gewinnung der Mehrheit der Arbeiterklasse. Die Taktik der Einheitsfront bleibt voll in Kraft. Wir sind nach wie vor für die Arbeiter- und Bauernregierung. In ihrer Instruktion sagt die deutsche Partei mit Recht: Z.B. für ein Land wie Italien ist die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung ganz richtig. Ich glaube, für Frankreich und eine Reihe anderer Länder ist diese Parole ebenfalls am Platze. Ich glaube, wenn wir diese Parole so verstehen, wie sie die Russische Kommunistische Partei verstanden hat, so wird niemand von der wirklichen Linken etwas gegen sie einzuwenden haben.

Woher stammt die Parole? Es wurde manchmal so dargestellt, als ob Radek sie sich aus den Fingern gesogen hätte. Das stimmt nicht. Die Parole ist aus der Geschichte der russischen Revolution gekommen, und was Radek mit ihr tat, ist nur eine Verdrehung. Wir wollen diese Parole so anwenden, wie sie die russische Revolution angewendet hat. Wir haben bereits die Anwendung der Parole der Arbeiterregierung charakterisiert. (Zwischenruf Radek: Wir haben in Russland eine Koalition mit den linken SR gemacht.) Wir werden es nicht ablehnen, auch in Europa in die Räteregierung dieses oder jenes Bruchstück der Sozialdemokratie aufzunehmen, soweit es sich von der Sozialdemokratischen Partei lossagen und geneigt sein wird, uns eine Zeitlang zu unterstützen. Das war auch mit den linken Sozialrevolutionären der Fall. Das war ein Stück, das sich von der Partei der SR losgelöst hatte und einen Teil der Bauernschaft hinter sich hatte. Wir haben sie ins Schlepptau genommen. Aber sobald sie wieder in ihrer sozialrevolutionären Sprache zu reden begannen, wurden wir sie los. Das war eine richtige Strategie. Hingegen der Plan des Paktes mit der sozialrevolutionären und der menschewistischen Partei nach dem Oktober war falsch. Es war im Moment der Oktoberrevolution, als eine Gruppe von Genossen glaubte, es sei möglich, eine Koalition mit den Sozialrevolutionären und den Menschewiki einzugehen. Ich selbst gehörte Momente lang zu der Gruppe, die diese Meinung vertrat. Aber es war ein gewaltiger Fehler. Wir haben das schnell eingesehen und verbessert. Und deshalb hat schon nach einigen Tagen Genosse Lenin einen Artikel geschrieben, in dem es hieß, der Streit sei vorbei, nun kämpfen wir gemeinsam weiter. Also, ihr wollt diese irrige Politik auch auf andere kommunistische Parteien übertragen. Um keinen Preis!

Die Fehler, die in der russischen Revolution begangen worden sind, werden dadurch ein wenig gerechtfertigt, dass sie nicht in anderen Revolutionen wiederholt werden. So verhält es sich auch mit der Taktik der Einheitsfront. Es handelt sich nicht darum, dass man die Einheitsfronttaktik an sich revidiert und an ihr herumpfuscht. Das wäre überflüssig. Es handelt sich nicht darum, eine „neue” Taktik auszudenken; ich schwanke keinen Augenblick, zu sagen, dass trotz mancher Fehler bei der Anwendung im Großen und Ganzen die Taktik der Einheitsfront mit einem positiven Vorzeichen in unserer Bilanz notiert werden kann. Es handelt sich bloß darum, die Kommunistische Internationale gegen opportunistische Auslegungen dieser Parole zu sichern.

Nehmen Sie ein beliebiges Land, z. B. England. In England wurden auf diesem Gebiete, d. h. in der Anwendung der Einheitsfronttaktik, große Fehler begangen.

 

Die Erfolge der Einheitsfront in England

Genossin Ruth Fischer schreibt in der „Internationale” über ihre Beobachtungen in England. Ich bin vollkommen mit dem einverstanden, was sie über die Wahlkampagne Fergusons sagt, der nicht offen als Kommunist auftrat. Wenn wir unser kommunistisches Gesicht vertuschen, wozu brauchen wir die ganze Wahlkampagne? Der Genosse Newbold hat, als er Mitglied des englischen Parlaments war, mich und den Genossen Bucharin ganz im Ernst einen ganzen Abend lang mit der Frage gequält, ob es zulässig sei, dass er im Parlament, ausnahmsweise wenigstens, gegen die Fraktion der Labour Party auftrete. Wir sagten zu ihm: Dazu seid ihr ja da! Und dennoch, trotz aller dieser Fehler in der englischen Partei ist die Einheitsfronttaktik in England sogar mit einem positiven Vorzeichen zu vermerken. In der lokalen Gewerkschaftsbranche haben die kommunistischen Arbeiter doch an vielen Orten ganz richtig gehandelt und haben viel dabei gewonnen.

Das ist auch in der tschechischen Partei lokal, in den Betrieben usw. ganz gut gemacht worden. Viel Richtiges gab es auch in Deutschland. Die Fehler lagen hauptsächlich auf dem Gebiete des Parlamentarismus, der Gewerkschaftsspitzen, der Gemeinderäte usw. Dort wuchs die Hauptwelle des Opportunismus, aber in den Betrieben und lokal, von unten, ist trotz

der urrichtigen Auffassung und Auslegung der Einheitsfronttaktik durch die Führer viel Gutes auf diesem Gebiete geleistet worden.

 

Was muss die Einheitsfronttaktik sein?

Nun, Genossen, wie ist die Lage jetzt? Ich habe hier schon in allgemeinen Zügen die internationale Lage behandelt. Daraus entspringt auch die Notwendigkeit, manches, in manchen Dingen unsere Haltung bei der Durchführung unserer Einheitsfronttaktik zu modifizieren. Zunächst müssen wir feststellen, dass sie für uns nur eine Methode der Agitation und Mobilisierung der Massen ist, wie es in der russischen Revolution der Fall war. Für die Sozialdemokraten, für die Reformisten kann die „Arbeiterregierung” einen ganzen Zeitabschnitt ausmachen. Der italienische Reformist d’Arragona z. B. sagte in Wien auf dem Kongress der Amsterdamer im Juni 1924: „Das beste Mittel, neuen Kriegen vorzubeugen, ist, möglichst viele Arbeiterregierungen zu bilden”. Also für d’Arragona, für den ausgesprochenen Reformisten, ist die „Arbeiterregierung” ein Allheilmittel gegen alle Krankheiten, dass ihm sogar die Möglichkeit gibt, die Kriege zu vermeiden usw. Für uns keinesfalls, Wir haben schon in der Resolution des 4. Kongresses, Radek zuwider, viel Richtiges gesagt. (Zwischenruf Radek: Der schlechte Satz ist von Ihnen, Genosse Sinowjew!) Der Verfasser des zweideutigen Satzes sind Sie, die ganze Resolution ist von mir. Aber ich will die Verantwortung nicht abschütteln, auch für die angeführte Stelle. Gewiss hätte ich das während des 4. Kongresses tun sollen, nicht erst auf dem 5. Kongress. Aber niemand auf dem 4. Kongress war weitsichtiger, das kann ein wenig meine Schuld mildern.

 

IX. Das Problem der Arbeiterregierung

Typen der „Arbeiterregierung”

Die Hauptsache ist, dass in der Resolution des 4. Kongresses folgende Stelle enthalten ist:

„Jede bürgerliche Regierung ist zugleicht eine kapitalistische Regierung. Aber nicht jede Arbeiterregierung ist eine wirklich proletarische, d. h. ein revolutionäres Machtinstrument des Proletariats. Die KI muss folgende Möglichkeiten berücksichtigen:

1. liberale Arbeiterregierung: eine solche gab es in Australien, eine solche Regierung wird auch in absehbarer Zeit in England möglich sein,

2. sozialdemokratische Arbeiterregierung (Deutschland),

3. Regierung der Arbeiter und ärmeren Bauern. Eine solche Möglichkeit besteht auf dem Balkan, in der Tschechoslowakei, Polen usw.,

4. Arbeiterregierung mit Teilnahme der Kommunisten,

5. wirkliche proletarische Arbeiterregierung, die in reiner Form nur durch die Kommunistische Partei verkörpert werden kann.”

Ja, es gibt Arbeiterregierungen, die liberale Regierungen sind, z. B. eine Regierung der Labour Party, wie man sie jetzt hat. Für d’Arragona ist jede Arbeiterregierung gut; ich fürchte, für Radek, für manche Genossen aus der Tschechoslowakei ebenfalls, obwohl das für sie noch nicht die Diktatur des Proletariats ist.

Wir haben jetzt Erfahrungen gesammelt. Jetzt müssen wir direkt sagen, dass die Parole der „Arbeiterregierung” und der „Arbeiter- und Bauernregierung” für uns hauptsächlich wichtig ist als Methode der Agitation und Organisierung der Massen zum revolutionären Kampfe. Wir müssen natürlich auch die Situationen ausnutzen, die von liberalen Arbeiterregierungen geschaffen werden (z. B. der Macdonald-Regierung). Die Parole „Arbeiterregierung“ ist für uns die anziehendste, die zugänglichste, die populärste Form für die Gewinnung der Massen für die Diktatur des Proletariats. Der Arbeiter, der Bauer usw. wird zuerst die revolutionäre Tat vollbringen und erst dann verstehen, dass sie die Diktatur des Proletariats ist. Wir müssen die volkstümlichsten Formeln wählen, wie wir es in der russischen Revolution getan haben. Das ist keine geringfügige Frage, nicht eine Frage der Stilistik, sondern die Frage, ob wir eine Partei sind, die den Bauern, den Soldaten dort fassen kann, wo er zugänglich ist, nicht eine Sekte, sondern eine Massenpartei.

Nun, manche „linke“ Genossen haben dennoch eine große Abneigung gegen die Taktik der Einheitsfront überhaupt. Für diese Genossen habe ich nur einen Trost: für uns ist die Frage der Einheitsfronttaktik und der Arbeiterregierung nur ein Instrument für die Mobilisierung und Organisierung der Arbeitermassen. Euch gefällt dieses Instrument nicht? Schön, dann schlage ich euch ein „Kompromiss” vor: Sobald ihr die überwiegende Mehrheit der Werktätigen eures Landes gewonnen haben werdet, werden wir euch sofort von der Anwendung der Taktik der Einheitsfront befreien. (Heiterkeit.) Wenn ihr eine Mehrheit in den wichtigsten Schichten des Proletariats habt, nun, dann könnt ihr euch schon erlauben, mit dieser Taktik etwas weniger Zeremoniell zu verfahren. Aber die Lage ist einstweilen in den wichtigsten Ländern noch derart, dass wir diese Mehrheit noch nicht haben. Wir müssen es verstehen, an die Massen heranzutreten, so, wie sie sind, sie zu gewinnen, sie auf den bolschewistischen Weg zu führen, und dann können wir die Sache modifizieren.

 

Man soll sich an die konkrete Situation anpassen

Es handelt sich hier bei keinesfalls darum, dass man alle Parteien über denselben Kamm schert. Nein, man muss die Frage ganz konkret stellen – für jedes Land besonders, ja nach der Situation. Nach einem russischen Sprichwort soll man nicht einen Löffel Teer in ein Fass Honig tun. Radek und die anderen „Theoretiker” der rechten Richtung möchten unbedingt einen Löffel opportunistischen Teers in das Fass Honig der richtigen Taktik der Einheitsfront schütten. Es handelt sich zunächst darum, diesen Löffel voll Teer fortzuschütten, das Gute, was wir an der Taktik der Einheitsfront haben, zurückzulassen und dann „Honig“ in jedem Lande in einer bestimmten Proportion anzuwenden. Ich habe gelesen, dass in der Tschechoslowakei Hula und andere Genossen sich darüber graue Haare wachsen lassen, dass wir jetzt angeblich sagen: Wendet überall die Einheitsfront von unten an! und dass wir angeblich es ablehnen, diese Taktik den Verhältnissen des gegebenen Landes entsprechend anzuwenden. Genosse Neurath hatte vollkommen recht in seinem Gegenartikel gegen Hula, in dem er sagte, die Exekutive hätte niemals vorgeschlagen, das zu tun, was Hula ihr in die Schuhe schiebt. Die Exekutive hat es niemals vorgeschlagen. Wir sagten, in Deutschland seien die Dinge so herangereift, dass man jetzt sagen muss: Einheit von unten! Zu gleicher Zeit sagten wir, dass z. B. in Polen die Sache sich wahrscheinlich anders verhält, anders in Österreich, anders auch in anderen Ländern. Die ganze Kunst der Internationale besteht in der konkreten Anwendung der Taktik entsprechend den verschiedenen Verhältnissen, die ganz verschieden, sehr buntscheckig sind. Wir behaupteten niemals, alle Parteien müssten über denselben Kamm geschoren werden. Genosse Smeral, bitte, sagen Sie es dem Genossen Hula.

Zum Schluss noch einmal über die Arbeiter- und Bauernregierung. Die Arbeiter- und Bauernregierung ist nichts mehr als eine Methode der Agitation, der Propaganda und der Mobilmachung der Massen. Wie ich schon im Jahre 1922 sagte, ist es ein Pseudonym für die Diktatur des Proletariats. Das haben damals nur Ernst Meyer, zum Teil auch Radek bestritten, und zwar sehr unklar, sehr schüchtern. In unserer russischen Partei hat es aber kein einziger Mensch bestritten, für uns war das ganz klar. Unser Irrtum bestand nur darin, dass wir nicht sofort begriffen, dass Radek und seine Freunde mit uns streiten nicht wegen redaktioneller Formulierungen, sondern dass sie die Taktik der Einheitsfront zu einer reformistischen Taktik machen wollten.

 

Mehr Beachtung der Bauernschaft!

Sie werden sich erinnern, dass ich der Urheber der Parole „Arbeiter- und Bauernregierung“ in der Sitzung der Erweiterten Exekutive war. Was hat mich dazu bewogen? Das Bewusstsein, dass wir in manchen Ländern, und zwar ziemlich rasch, uns der Frage der Machtergreifung zu nähern beginnen. Ich will mich nicht brüsten, ich hätte schon damals gefühlt, dass die deutschen Verhältnisse heranreifen. Nein, das war nicht der Fall. Aber unser Bewusstsein sagte uns, dass in manchen Ländern die Frage der Machteroberung aktuell zu werden beginnt. Darum haben wir schon längst versucht, den Parteien zu sagen: Ihr sollt euch um die Bauernschaft kümmern! Gewiss, eine Partei, die selbst in der Perspektive an die Machteroberung nicht einmal denkt, braucht es nicht, sie bleibt eine halbe Zunftpartei, eine reine „Arbeiterpartei”. Aber in dem Moment, wo eine Partei eine ernste kommunistische Partei wird, eine Massenpartei, muss sie die Perspektive der Machtergreifung haben, muss sie sich überlegen, wie sich die Bauern verhalten werden, wie das flache Land auf das Wachstum der Arbeiterpartei reagieren wird. Deshalb ist für uns die Parole der „Arbeiter- und Bauernregierung” ein Ausdruck dessen, dass wir in manchen Ländern in nicht allzu ferner Zukunft die Frage der Machteroberung aufstellen werden. Das ist der Ausdruck dafür, dass dem Proletariat die Hegemonie in der Revolution und der Partei die Führung des Proletariats gehören muss. Es war für uns gewissermaßen der Übergang von der Propaganda zur Massenagitation, zur revolutionären Tat.

Es besteht ein Unterschied zwischen Agitation und Propaganda. Am lapidarsten hat diesen Unterschied Plechanow ausgedrückt, als er noch Marxist war: Die Propaganda ist die Vermittlung eines gewissen Ideenkomplexes an einen kleinen Zirkel von Personen. Agitation ist, wenn wir eine Hauptidee an eine große Masse von Leuten weitergeben. Ich glaube, diese Definition kann uns genügen. Sie ist richtig. Die Parole „Arbeiter- und Bauernregierung” entstand eben dadurch, dass wir in manchen Parteien schon von der üblichen Propaganda des Kommunismus zur Massenagitation in den Volksmassen und zur Vorbereitung des Kampfes um die Macht übergehen mussten. Wenn wir die Frage des Kampfes um die Macht stellen, müssen wir eben dieses Stichwort ausgeben, das volkstümlich ist, das Anziehungskraft hat, das bei guter revolutionärer Auslegung für die Arbeiter ein Magnet sein kann für alle diejenigen Schichten, die wir teilweise neutralisieren und teilweise für uns gewinnen müssen.

Also, für uns ist die Parole „Arbeiter- und Bauernregierung“ der Ausdruck der führenden Rolle, der Hegemonie des Proletariats in der Revolution. Sie ist ein Ausdruck des Willens zur Macht, des Dranges, eine eigene Regierung zu bilden, die das Land kommandiert und die den Bauern gegen über geschickt manövriert. Und diese lebendige Idee des Leninismus, diesen lebendigen Quell des Leninistischen Schaffens und Agitierens in den Massen hat man versucht (und teilweise mit Erfolg), durch opportunistische Auslegung zu vernichten!

Das ist das, was ich zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter- und Bauernregierung zu sagen habe.

 

Linke Abweichungen in der Einheitsfronttaktik

Ich rate unseren Genossen, besonders den Genossen aus Deutschland, die ja – und das ist nach all den sächsischen Experimenten und Fehlern, die gemacht wurden, durchaus zu verstehen – sich jetzt aus Reaktion die Ohren mit Watte verstopfen, sobald über Einheitsfront gesprochen wird, diese Dinge sich ernsthaft durch den Kopf gehen zu lassen. Der linke Genosse Burian (der junge Burian) in der Tschechoslowakei schreibt z. B., die Einheitsfronttaktik sei die „Hauptquelle des Revisionismus”. Das ist nicht richtig. Wer ein Revisionist ist, wird schon eine „Quelle” finden. (Heiterkeit, Rufe: Richtig!) Er wird sie im Parlamentarismus finden usw. Wir können nicht die Sozialdemokratie besiegen, wenn wir uns vor unserem eigenen Schatten fürchten und sagen, Einheitsfronttaktik sei eine Quelle des Revisionismus. Die Taktik muss man annehmen, aber man muss sie vom opportunistischen Schmutz reinigen. Es werden sich jetzt Leute finden, für die diese Parole eine „Quelle des Revisionismus“ ist. Wir müssen das Gute, das Leninistische der Einheitsfronttaktik entnehmen, müssen von der Parole der Arbeiterregierung das Volkstümlichste nehmen und das Vertrauen der Massen gewinnen, nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch aller Unterdrückten. Wir, die wirklichen Linken der KI, müssen diese Arbeit in unsere Hände nehmen, nur dadurch werden wir die Fehler der wirklichen Rechten beseitigen und jene Rechten überzeugen, die man überzeugen kann, und diejenigen bekämpfen, die nicht zu überzeugen sind. Der 5. Kongress darf seine Aufgabe nicht darin erblicken, zu erklären, die Einheitsfront sei nicht richtig, sondern muss Schritte unternehmen zur Schaffung von Vorsichtsmaßregeln gegen die Entstellung dieser Taktik, muss eine Art Impfung gegen den Opportunismus vornehmen, wie gegen Pocken.

In Deutschland ist das Geschwür geplatzt. Dort wurde es zu Ende getrieben. Die logische Vollendung der rechten Tendenzen sahen wir in Sachsen.

Ich glaube, wenn es in der Tschechoslowakei zu einem solchen Platzen des Geschwürs, wenn es zu einer solchen politischen Katastrophe nicht gekommen ist, so nur deshalb, weil dort die Ereignisse nicht so herangereift waren. Die Stellungnahme des Prager Parteitags, der Artikel des Genossen Hula signalisieren dies. Und bei der Apathie und der unklaren Führung der tschechischen Partei fürchte ich, wenn die Lage so gewesen wäre, wie sie in Deutschland war, hätten wir einen zweiten sächsischen Durchfall erlebt.

 

X. Die konkreten Aufgaben der Hauptparteien

Ich komme zum Schlusskapitel: Über die konkreten Aufgaben der wichtigsten Parteien. Da muss ich der KPD zustimmen, die sagt, es handle sich vor allem darum, den einzelnen Parteien konkrete Weisungen zu geben. Das wird die Hauptaufgabe dieses Kongresses sein.

 

Die englische Partei

Die politisch wichtigste Sektion der Kommunistischen Internationale ist jetzt nicht die deutsche, nicht die russische, sondern die englische. Wir haben hier eine merkwürdige Lage: unsere Partei von 3000 bis 4000 Mitgliedern, die aber weit mehr Einfluss hat. In England besteht eben eine andere Tradition. Die Partei Macdonalds ist nicht viel stärker als unsere. Ihr Wochenblatt „New Leader” hat eine Auflage von 45 000, unser Blatt hat eine Auflage von 55 000. In England fehlt die Tradition der Massenparteien. Mit Recht sagt Max Beer, dass der alte Keir Hardie seinerzeit seine ganze Partei auf der individuellen Bearbeitung der Führer aufgebaut hätte. In England eine Massenpartei schaffen – darin besteht die Hauptaufgabe unserer ganzen Periode. Die Vorbedingungen sind dazu da. Ich sprach davon ausführlich in meinem Artikel „Das erste Jahrfünft der KI”.

Die großen Massen der englischen Arbeiter hängen noch an Macdonald und sprechen oft mit Liebe von ihm.

Ich habe das Gefühl, es ist dasselbe wie bei uns in den ersten Monaten der Kerenskiregierung. Man durfte kein Wort gegen Kerenski sagen. Man musste ihn kritisieren auf Umwegen, erst eine Stunde lang reden: Kerenski ist ein guter Kerl, ja fast ein großer Mann, aber vielleicht begeht er doch manchen Fehler. In England besteht jetzt eine ähnliche Lage. Die Arbeiter hängen noch an Macdonald, sind noch voller Illusionen. Er hat eine verhältnismäßig gute Position, darum weil er noch keine Mehrheit im Parlament hat. So kann er den Arbeitern sagen: Ich würde viel mehr bieten, ich habe aber keine Mehrheit; bei den nächsten Wahlen, wenn wir eine Mehrheit haben, werden wir zeigen, was wir sind, wir werden auftreten wie die Löwen, da soll der Tanz losgehen!

Die Lage ist also nicht so einfach. Die Macdonald-Regierung befindet sich noch auf der aufsteigenden Linie der Popularität. Sollten wir aber passiv warten, bis die Linie abwärtsgeht, dann brauchen wir keine Kommunistische Partei. Die Sozialdemokraten werden sowieso Bankrott machen, auch ohne uns werden sie früher oder später politisch krepieren. Das ist unzweifelhaft. Aber wir sind da, um diesen Prozess zu beschleunigen. Darum muss unsere Partei in England heute Macdonald entschieden bekämpfen, damit die Masse, wenn sie selbst zur Erkenntnis kommt, einsieht, dass wir, die Kommunisten, schon früher die Lage richtig taxiert haben.

Im Jahre 1921 musste Lenin gegen Wynkoop und die andern damaligen „Linken” dafür kämpfen, dass die Kommunisten in die Labour Party eintreten. Im Jahre 1924 ist eine andere Lage eingetreten. Wir haben in England eine „Arbeiterregierung”, wir haben die Macdonald-Regierung. Jetzt muss unser Häuflein Kommunisten seinen historischen Weg gehen. Es muss 1. zu einer Massenpartei werden, muss anfangen, die Arbeiter für die Partei zu werben; 2. eine Tageszeitung ins Leben rufen. Wenn man mit den englischen Genossen darüber spricht, so halten sie das für eine allzu große Mütze für ihren Kopf und haben Sorge, wie sie da hineinpassen werden. Wir müssen 3. noch tiefer in die Massen der Gewerkschaften hinabsteigen, um dort einen linken Flügel zu bilden; 4. der Jugend mehr Aufmerksamkeit widmen (bis zur letzten Zeit gab es keine Jugendbewegung in England, sie steckt noch in den Kinderschuhen); 5. die koloniale Frage anfassen mit Wagemut, wie es den Bolschewiki geziemt; 6. die rechten Fehler dort bekämpfen, wo sie sind, eine andere Wahlkampagne führen, nicht die Wege gehen, die Rosmer vorschlug, sondern es verstehen, in der Agitation draufgängerisch zu sein. Das ist die wichtigste Frage für die englische Partei.

 

Die Entwicklung der französischen Sektion

Die zweitwichtigste Partei der KI ist die französische, ebenfalls wegen der neuen weltpolitischen Lage („demokratisch-pazifistische” Ära), über die ich schon gesprochen habe. Ich glaube, die französische Partei hat große Fortschritte gemacht. Sie steht viel stärker da als früher, sie hat eine gesunde, robuste Linke, die wir unterstützen. Das frühere Zentrum und die Linke müssen zu einer gemeinsamen Linken werden ohne Fraktionen, im guten kommunistischen Sinne dieses Wortes, und im Geiste der Kommunistischen Internationale arbeiten. Die französische Partei muss die großen Arbeiterzentren im ganzen Lande erobern. Sie hat momentan eine Mehrheit nur in Paris. Das ist ein großer Stützpunkt. Bei der alten Brandlerschen Zentrale der KPD war es so, dass sie „alles“ hinter sich hatte, nur nicht Berlin und Hamburg. Dann stellte sich heraus, dass sie auch alles andere nicht hinter sich hatte.

Die französische Partei hat jetzt Paris, aber im Lande selbst sind ihre Verbindungen mit den Organisationen noch zu schwach.

In Schweden hat Genosse Hoeglund „alles” außer Stockholm. Ich werde keine Konsequenzen daraus ziehen. Genosse Hoeglund soll das selbst auf Grund einiger Beispiele tun.

Die Hauptaufgabe der französischen Partei ist jetzt, in die proletarischen Zentren zu gehen, in die Industriedepartements, die außerhalb von Paris liegen.

Unsere Tätigkeit muss jetzt den Illusionen Rechnung tragen, die durch den „Linken. Block” erzeugt werden. Jetzt sollen wir die Einheitsfronttaktik anwenden in etwas neuer Gestalt. Die französische Sozialdemokratie wollte sehr schlau sein, sie ist nicht offen in die Regierung eingetreten, sie wird aber für das Budget, für die Ruhrbesetzung usw. stimmen. Sie ist ein Bestandteil der Regierung. Wir werden ebenfalls „schlau” sein, wir werden den sozialistischen Arbeitern sagen: Das ist doch nicht eure Regierung, eure Leute sitzen nicht in der Regierung, was geniert ihr euch, das ist eine bürgerliche Regierung, warum sollen wir nicht gemeinsam gegen sie kämpfen – für Amnestie, für die Ruhrräumung, für bessere Löhne, für die Anerkennung Sowjetrusslands, für den Achtstundentag usw. Wir müssen eine kluge Einheitsfronttaktik führen. In dem Moment, wo die Sozialdemokratie offiziell zur „dritten” Partei der Bourgeoisie wird, ist die Blütezeit der Einheitsfront von oben natürlich vorbei. Im Moment, wo die Spitze in der Sozialdemokratie mit den bürgerlichen sich in politische Regierungskombinationen einlassen, ist die Situation am passendsten, um die „untersten” Schichten der sozialdemokratischen Arbeiter für den gemeinsamen ökonomischen und dann auch für den politischen Kampf mit uns zu gewinnen.

Wenn uns das gelingt, so haben wir die idealste Lage. Die sozialdemokratischen Spitzen sind an der Regierungskombination mit der Bourgeoisie interessiert, in diesem Moment muss es uns gelingen, tiefere Schichten der sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiterschaft durch den ökonomischen Kampf zu erfassen. Dann wird die Sozialdemokratie zerrieben werden zwischen diesen beiden Kombinationen. Die Unzufriedenheit der Massen muss unvermeidlich wachsen, die Arbeitslosigkeit geht weiter, die ökonomische Lage verschlimmert sich, das Sachverständigen-Gutachten wird nicht mehr helfen

Das ist die ideale Lage für die Gewinnung der besten Schichten der Arbeiterklasse für uns, und zwar am meisten in Frankreich.

Die Hauptaufgabe der französischen Partei ist, das Land, die Industriemittelpunkte außerhalb von Paris zu gewinnen, den Parteiapparat auszubauen und zu festigen. Wir haben in Paris 8000 Parteimitglieder und dabei 50 000 Abonnenten der „Humanité” und 300 000 Stimmen bei den Wahlen Was bedeutet das? Eine beträchtliche Rückständigkeit der französischen Arbeiter. Wir müssen die französischen Arbeiter an eine andere organisatorische Praxis gewöhnen. Die Fédération de la Seine soll bald 25 000 Mitglieder zählen. Die wichtigste Aufgabe der französischen Partei ist: die letzten Überreste des Frossardismus ausmerzen. Das frühere „Zentrum” muss zusammen mit der Linken mutig und aufrichtig marschieren Die französische Partei muss mit Hilfe der glänzenden Eigenschaften vor allem der Pariser Arbeiter, die Arbeiter in der Provinz gewinnen in dem Moment, wo die sozialdemokratischen Spitzen sich in Regierungskombinationen mit der Bourgeoisie einlassen werden. Die Betriebszellenbewegung steckt in den Anfängen. Man spricht viel über „hohe” Politik. Aber einstweilen gibt es in Frankreich nur 120 Betriebszellen. Diese Fortschritte sind noch nicht sehr ernst zu nehmen, Parteizellen und Betriebsräte sind unsere ersten Forderungen an die KPF. Die Parole „Arbeiter- und Bauernregierung” ist in Frankreich mehr am Platze als in irgendeinem andern Lande. Tiefer hinein in die Bauernmassen, auf das flache Land! Eine gute kommunistische Presse, ein fester, organisatorischer Parteiapparat! Bessere internationale Verbindungen! So lauten die Aufgaben.

 

Die deutsche Frage ist in den Hauptpunkten geklärt

Nun zur deutschen Partei. Wir haben einen speziellen Punkt auf der Tagesordnung: die deutsche Frage. Ich persönlich bin jetzt der Meinung, dass wir diesen speziellen Punkt ruhig von Tagesordnung absetzen können, weil die Frage bereits in den Hauptzügen geklärt ist. Im letzten Jahr hat man über die deutsche Partei am meisten geredet und geschrieben. Ich sehe jedenfalls jetzt keine spezielle deutsche Frage vor mir. Die Lage in Deutschland ist schwierig. Die allgemeine politische Perspektive bleibt unverändert. Die Lage ist revolutionsschwanger. Neue Klassenschlachten sind wieder im Gange, ein gewaltiger Kampf geht vor sich. Die Kommunistische Partei Deutschlands ist jetzt im Allgemeinen auf der Marschroute der Kommunistischen Internationale. Die Krise war sehr tiefgehend, die Gefahren groß. Es bestand die Gefahr einer Parteispaltung. Die polnischen Genossen fragen, warum wir so „rasch“ die Brandlersche Zentrale desavouiert hätten. Man muss es doch verstehen, Genossen, wenn man noch ein wenig gezögert hätte, wäre die Spaltung unvermeidlich geworden, die Krise war so schwer, dass wir sagen können, dass sie noch recht glimpflich abgelaufen ist. (Ruth Fischer: Sehr richtig!)

Nun zur Krise mit den „Ultralinken”. In dem Moment, wo wir noch nicht wussten, wohin die Reise ging, mussten wir eingreifen und die Gefahren sogar ein wenig überschätzen. Wir wussten noch nicht, inwieweit sie numerisch stark sind, aber wir wussten, dass sie Menschewiki mit umgekehrtem Vorzeichen sind. Im gegenwärtigen Moment sind sie zum Teil schon liquidiert. Die neue Zentrale weist diese Liquidatoren von „links” in die Schranken, und ich hoffe, dass sie mit ihnen fertig werden wird.

Sehr große Schwierigkeiten bestehen noch in der Gewerkschaftsfrage. Die Zentrale soll schonungslos jeden geringsten Versuch bekämpfen, die Frankfurter Beschlüsse zu revidieren und die Frage des Austrittes aus den Gewerkschaften zu berühren.

Die parlamentarische Lage ist auch nicht einfach. Wir haben jetzt in Frankreich und in Deutschland, in beiden Parlamenten, eine Lage ähnlich derjenigen, die Lenin als „Pendellage” bezeichnet hat. In diesen Parlamenten kann es zwei gleiche Kräfte geben und es können Momente eintreten, wo unsere Fraktion das Zünglein an der Waage bildet. Das wird uns in Deutschland und in Frankreich faktische Schwierigkeiten bereiten. Die deutsche Partei hat ebenfalls viel versäumt und versäumt noch auf dem Gebiete der Arbeit unter den Bauern. Das muss nachgeholt werden. Das muss gutgemacht werden. Man kann noch eine Reihe anderer Teilaufgaben aufzählen, aber ich will es nicht tun. Die deutsche Partei hat sich als eine im Grunde genommen gesunde Partei erwiesen. Der Organismus ist mit der schweren Krankheit gut fertig geworden. Wäre der Organismus der KPD nicht so robust und proletarisch gewesen, so hätten wir noch viel mehr Schwierigkeiten. Wenn die „Ultralinken” noch aufzutauchen versuchen sollten, so werden wir sie weiter bekämpfen. Wenn die alte „linke” Abweichung auch in der Gewerkschaftsfrage auftaucht, werden wir sie bekämpfen. Es besteht zwischen uns und der Zentrale der KPD Freundschaft, aber nicht Kumpanei. Es gibt keine Beweggründe, die uns hindern würden, Fehler zu bekämpfen, wenn solche entstehen. Sie haben gesehen, dass wir es taten, als die Linken Irrtümer begingen. Und wir werden es auch fernerhin tun. Die KPD hat wie jede andere Partei das Recht, die Exekutive zu kritisieren. Sie hat dieses Recht mehr als zur Genüge ausgenutzt. Wir brauchen auch keine Ja-Sager. Aber die deutsche Partei braucht auch keine Exekutive, die nicht offen sagt, was zu sagen wäre. Die Exekutive kann und wird alles kritisieren und korrigieren, was notwendig ist. Ich glaube, die linken Elemente, die die Mehrheit der KPD ausmachen, werden sagen, dass wir gut getan haben mit unserer Einmischung, als man von der „neuen Taktik” in den Gewerkschaften zu reden begonnen hat. Wenn manche glaubten, die Exekutive würde ohne weiteres die deutsche Partei an die „Ultralinken” ausliefern, so werden sie jetzt einsehen, dass sie sich geirrt haben. Die Exekutive hat das nicht getan und wird es niemals tun. Wir werden für den Leninismus in der KPD kämpfen. Insofern die neue Zentrale dem entgegenkommt, können wir nur unsere Genugtuung darüber ausdrücken.

 

In der tschechoslowakischen KP

Ich komme zur tschechischen Partei. Ich habe schon vorübergehend von ihr gesprochen und habe nicht viel hinzuzufügen. Ich habe den Eindruck, dass der tschechischen Partei eine ständige, regelmäßige, angespannte, revolutionäre Führung fehlt. Man arbeitet von Fall zu Fall. Es kommen die Wahlen oder etwas ähnliches – da findet eine Belebung statt, dann schläft die Arbeit wieder ein. Eine kontinuierliche revolutionäre Leitung ist nicht zu fühlen. Ich glaube also, dass die tschechische Partei vieles zu bessern hat. Es müssen frische proletarische Kräfte in die Führung kommen. Die revisionistischen Elemente, die noch vorhanden sind, müssen ausgemerzt werden. Wenn ich die volle Hoffnung habe, dass Genosse Hula seinen Irrtum bald gutmachen wird, so habe ich diese Hoffnung z. B. bei Genossen Vanek fast nicht. In der tschechischen Partei gibt es Elemente, die mehr oder weniger unverbesserliche Zentristen sind. An dem guten Willen des Genossen Smeral brauchen wir nicht zu zweifeln. Wir müssen aber die Ausmerzung des Fehlers fordern, der in der zitierten Stelle des Prager Parteitags zum Ausdruck kommt – eines Fehlers, der von der ganzen Kommunistischen Internationale abgelehnt wird, und wir brauchen bloß noch, dass er in der tschechischen Partei liquidiert wird. Mehr Aufmerksamkeit gegenüber der nationalen und der Bauernfrage als bisher – dies trifft unzweifelhaft besonders für die tschechoslowakische Partei zu.

 

In der polnischen Sektion

Nun zu den andern Ländern. Ich werde mit Polen anfangen. Sie wissen, dass man ziemlich lange die polnische Sektion zu den besten bolschewistischen Sektionen der Kommunistischen Internationale gezählt hat. Das trifft auch jetzt zu in Bezug auf die polnische Arbeiterklasse, die revolutionären Traditionen in Polen, die ausgezeichneten proletarischen Kommunisten, die alle Nöte einer illegalen Partei zu ertragen haben. Ich muss offen gestehen, mit den führenden Organen der Partei ist die Sache schlechter bestellt. Die Führung der polnischen Partei hat in den wichtigsten Fragen, durch die die ganze Taktik der KI bestimmt wird, in der deutschen und in der russischen Frage, viel zu viel Diplomatie getrieben. Und das erzeugt traurige Gedanken. Die polnischen Genossen aus dem Zentralkomitee kennen die russischen Verhältnisse besser als die andern, die deutschen Verhältnisse kennen sie auch recht gut. Sie stellen sich jetzt auf den Standpunkt des ZK sowohl in der russischen als auch in der deutschen Frage. So behaupten sie.

Diese Erklärung hat nur einen Mangel: sie kommt etwas zu spät. Es gibt eine russische Redensart: „Senf nach dem Abendessen.” Nun, Genossen, Senf nach dem Abendessen kann manchmal auch gut sein, aber wir wollen lieber Senf beim Essen genießen.

Was die Durchführung der Einheitsfronttaktik betrifft, so haben die polnischen Genossen selbst auf ihrer eigenen Konferenz zugegeben, dass große rechte Fehler begangen worden sind. Man hat in der Presse wiederholt die Arbeit des Genossen Krulikowski im Polnischen Sejm kritisiert. Ich muss sagen, soweit ich sein Auftreten verfolgen kann, halte ich es für ein heldenmütiges (Zwischenruf Radek: Sehr richtig!), für ein richtiges und revolutionäres Verhalten. Man soll nicht wegen einer einzigen geringen Entgleisung den Genossen am Ärmel zupfen, man darf nicht die Umstände vergessen, die schwierigen Bedingungen der Arbeit im weißgardistischen Parlament. In allgemeinen nutzt Genosse Krulikowski den Parlamentarismus im Geiste Karl Liebknechts aus. Alles übrige, Genossen, sind Kleinigkeiten.

Ich kann nicht dasselbe sagen von dem leitenden Organ der polnischen Partei. Während des Krakauer Aufstandes – wo war unsere Partei? Sie war nicht da. Ich sage nicht, dass eine Partei immer die Mehrheit haben muss, aber, Genossen, in einem Moment, wie ein Aufstand von Regimentern aufflackert – wenn in diesem Moment die Kommunistische Partei durch Abwesenheit glänzt, so gibt das schon zu denken. Ja, die Schwierigkeiten der Arbeit in Polen sind wirklich groß und ungewöhnlich. Wir wissen wohl, was illegales Arbeiten unter solchen Umständen ist. Wir kennen das heroische Wirken der ZK-Mitglieder, die unmittelbar in Polen arbeiten. Aber die politische Spitze des ZK krankt an Diplomatie. Das ZK ist nicht einheitlich. Ich bin fest davon überzeugt: In dem Moment, wo die polnischen kommunistischen Arbeiter erfahren, wo sie der Schuh drückt, wo in der Führung etwas falsch ist, wie die wirkliche Kontroverse zwischen ihrem ZK und der Internationale und insbesondere der KPR ist – in diesem selben Moment werden die polnischen Arbeiter auf unserer Seite stehen, auf der Seite der Kommunistischen Internationale, auf der Seite der Kommunistischen Partei Russlands, und nicht auf Seiten der Diplomatie. Ja, Diplomatie gegen bürgerliche Feinde, gegen die Sozialdemokraten ist eine ganz gute Sache, aber nur gegenüber unseren Feinden! Das müssen wir auch manchmal tun. Gegen eine solche Diplomatie lässt sich nichts einwenden. Aber in unserer Kampfgemeinschaft, in unserer Internationale, hier braucht man keine Diplomatie. Ich glaube, um den Namen der polnischen Sektion als einer der besten bolschewistischen Parteien wiederherzustellen, ist es not wendig, ein wenig die Fehler der Spitzen des polnischen ZK zu korrigieren.

 

In der italienischen Sektion

Jetzt, Genossen, zu Italien. Da haben wir zwei praktische Fragen. Erstens das Verhalten gegenüber den sogenannten „Terzini”, zweitens das Verhalten gegenüber der Sozialistischen Partei Italiens. Wir müssen, glaube ich, die sofortige Vereinigung mit den „Terzini”, mit den Anhängern der III. Internationale, beschließen. Die Zeit dafür ist gekommen. Ob die „Terzini” in die Parteileitung kommen müssen – diese Frage ist für mich nebensächlich. Gewiss müssen sie in die Leitung kommen. Wir sollen uns ihnen gegenüber auf die 21 Bedingungen nicht versteifen. Die Genossen wollen schon seit zwei Jahren in unsere Partei, aber wir selber sagten zu ihnen: Bleibt in der alten Partei zur Eroberung der Partei von innen heraus. Wir müssen für die SPI den alten Beschluss der Exekutive gelten lassen, d. h. die Tür offenlassen, um sie als sympathisierende Partei aufzunehmen. Bei den jüngsten Wahlen ist bewiesen worden, dass hinter dem „Avanti”, hinter der Sozialistischen Partei Italiens noch große Arbeiterschichten stehen. Sie werden sich erinnern, dass auf dem 4. Kongress gesagt wurde, es stehen hinter der SPI keine Arbeiter, sondern nur Angestellte, Kleinbürgertum usw. Es ist jetzt durch die Wahlen unwiderleglich bewiesen worden, dass hinter der Sozialistischen Partei Italiens noch Hunderttausende guter Proletarier stehen. Lazzari, Clerici u. a. sind keine Kommunisten. Sie sind Gefühlsrevolutionäre. Neulich habe ich von dem alten Lazzari einen Brief erhalten, in dem er schreibt: Es ist eine Gewissenfrage – einerseits die Partei, andererseits die KI; er könne keinen Disziplinbruch begehen, aber er bleibe der III. Internationale treu usw. Aber ich weiß, dass hinter der SPI Hunderttausende von Arbeitern stehen, von denen viele für uns sind. Der Politikaster Vella ist jetzt, scheint es, fast ganz abgesägt, selbst für die SPI. Das ist ein Beweis dafür, dass wir die Tür offen und den früheren Beschluss hierin bestehen lassen müssen. Es hat sich gezeigt, dass die extrem „linken” Kommunisten in Italien etwas Falsches sagten, als sie erklärten, hinter der Sozialistischen Partei stünden keine Arbeiter. Es stehen hinter ihr Tausende von Arbeitern, die immer noch glauben, dass die Sozialistische Partei halbwegs der III. Internationale angehört, dass es sich einfach um ein Missverständnis handelt, das man aufklären soll.

Gegen die zentristischen Elemente muss der Kampf natürlich weitergeführt werden.

Was unsere Kommunistische Partei in Italien betrifft, so haben die Wahlen gezeigt, dass sie doch eine sehr starke gute Partei mit einem gesunden proletarischen Kern ist. Dieser Partei gehört unsere ganze Unterstützung. Sie ist unsere Hoffnung. Sie ist die einzige Vertreterin der KI in Italien. Jedoch die Schwächen, die wir kritisiert haben, bleiben bestehen. Die letzte Zeit hat die Richtigkeit der Auffassung der KI gezeigt. Sie kennen die Tatsache, dass wir jetzt dort drei Fraktionen haben. Ich weiß nicht, welche Fraktion über die faktische Mehrheit verfügt. Wir werden mit unseren Schlussfolgerungen abwarten, aber ich weiß, dass die ultralinke Fraktion politisch unrecht hat. Bordiga fordert in seinen Thesen die „vollständige Bestätigung” der Thesen von Rom aus dem Jahre 1922, der ganzen Politik der KPI und der Taktik gegenüber den „Arditi del Popolo”, d. h. eine Anerkennung jener Thesen, die wir schon zwanzigmal kritisiert haben, noch gemeinsam mit Genossen Lenin. Bordigas Freund Rossi schreibt:

„Hingegen ist nichtkommunistisch eine Taktik, die von der Situation Weisungen oder Eingebungen für die taktischen Methoden erwartet.”

Ich frage: An was sollen wir unsere Taktik anpassen, wenn nicht an die Tatsachen, an die konkrete Situation? In der italienischen „Linken” gibt es Doktrinäre, die glauben, dass wir zusammenkommen und ein für alle Mal auf Grund gewisser „Prinzipien” irgendeine taktische Alchimie ausarbeiten können, die für alle Zeiten brauchbar wäre. Gewiss, wir dürfen unsere Taktik nicht herabwürdigen, wir dürfen sie nicht bei den geringfügigsten Veränderungen der Situation wechseln. Aber den Tatsachen Rechnung tragen, ist wahrhaftig auch uns Kommunisten nicht schädlich. Wir bleiben Kommunisten unter allen Umständen, das ist klar. Dass wir aber die kommunistische Taktik an die Situation anpassen müssen, ist so selbst verständlich, dass wir darüber nicht mehr zu reden brauchen. Und nur Genossen, die keine Fühlung mit den Massen haben, die keine Marxisten sind, können das Gegenteil fordern.

Die italienische Frage ist eine etwas heikle Frage. Bordiga und seine Freunde sind gute Revolutionäre, die treu zur Internationale halten, aber die Schwächen, die Lenin bei ihnen kritisiert hat, bestehen bis jetzt noch. Hier ist die Lage nicht so, dass die Internationale nachgeben müsste: nachgeben müssen Bordiga und seine Gesinnungsfreunde. Wenn sie ihren Dogmatismus loswerden, werden sie der italienischen Revolution größere Dienste leisten.

Noch ein Wort möchte ich dazu sagen. Bordiga hat unlängst erklärt: Wenn die Internationale sich nicht bessert, seinen Standpunkt nicht annimmt, nun dann wird er bloß „formelle Disziplin“ üben und wird versuchen, eine linke Fraktion im internationalen Maßstab zu bilden. Ich glaube, das wird die Internationale niemals dulden. Bordiga ist uns lieb, aber die Internationale noch lieber. Nicht die Internationale muss sich an Bordiga anpassen, sondern Bordiga an die Internationale. Es kann keine Rede sein von „formeller Disziplin” in unserer Kommunistischen Internationale. Wir sind eine kommunistische Weltpartei, wir wollen nicht rückwärts-, wir müssen vorwärtsgehen, und je weiter wir vorwärtskommen, umso mehr werden wir zur kommunistischen Weltpartei werden.

Gestatten Sie mir, dass ich auf die andern Parteien nicht mehr eingehe. Die Zeit ist vorgerückt. Das Gesagte lässt sich mit bestimmten Modifikationen auch auf die andern Parteien anwenden. Ich verweile hier bloß bei denjenigen, die momentan von größter Bedeutung sind.

 

Die KJI ist unser Stolz

Noch einige kurze Bemerkungen über unsere Hilfsinternationalen und die Organisationsfrage. Die Jugendinternationale ist unser Stolz und unsere Hoffnung. Es reifen da eine wirkliche kommunistische Generation und wirkliche kommunistische Führer heran. Wir haben hierin die Sozialdemokratie teilweise schon überflügelt; in der Union der Sowjetrepubliken ist die kommunistische Jugend zu einer Organisation angewachsen, die anstatt der früheren 400 000 jetzt schon 700 000 Mitglieder zählt; in Deutschland anstatt der früheren 28 000 fast 70 000. In Ruhrgebiet verdient der Kampf unserer Jugend jedwedes Lob. Die Kommunistische Jugendinternationale ist die rechte Hand der Kommunistischen Internationale. Wir haben hier sehr wichtige Arbeit zu leisten.

Einige Bemerkungen über die andern Hilfsinternationalen.

Die „Rote Hilfe” arbeitet meiner Meinung nach sehr gut, die IAH. ebenfalls. Sie wissen, dass die deutsche Sozialdemokratie den Austritt aus der IAH beschlossen hat. Die Sport-Internationale hat gleichfalls gute Erfolge zu verzeichnen. Die Frauenbewegung muss noch gestärkt werden, wir haben hier zu wenig geleistet.

 

Die Organisationsfrage

In der organisatorischen Frage, glaube ich, ist es Zeit, ernsthaft an die Frage der Organisation unserer Parteien auf Grund der Betriebszellen heranzugehen. Wir würden dabei Mitglieder verlieren – so wird behauptet. Wir müssen aber den Arbeitern sagen, dass eine Partei unbedingt auf der Grundlage der Produktion aufgebaut werden muss. Die bisherige Organisation nach Wohnbezirken war ein Überrest der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie baute ihre Organisation als Wahlapparat zu Wahlzwecken auf, und wo unsere kommunistische Partei so aufgebaut ist, hat sie in dieser Hinsicht noch ein gut Teil von der Sozialdemokratie an sich. Wir müssen endlich die Partei auf Betriebszellen umstellen, damit wir auf dem 6. Weltkongress darüber nicht mehr zu sprechen brauchen

 

Die Frage der Führung ohne Lenin

Nun noch zum Schluss ein paar Worte zur weiteren Führung der Internationale. Hier muss ich wieder einige Worte des Genossen Bordiga zitieren, der mit einer Courage, die anerkennenswert ist, diese Frage angeschnitten hat. Er sagt wörtlich folgendes:

„Wo sind Garantien dafür, dass die Internationale zur Kommunistischen Weltpartei werden wird? Die Tatsache, dass an der Exekutive die besten Genossen der russischen Partei teilnehmen, ist noch nicht ausreichend, da es sich um eine Weltfrage handelt. Die Wagnisse, die wir bisher unternahmen, weil sie von einem Genie wie Lenin geleitet wurden, muss man gegenwärtig ablehnen als gefährlich für die kommunistische Bewegung des Proletariats.”

Genossen! Wir brauchen keine Zeremonien. Wir müssen offen sagen, in dieser Frage hat Bordiga etwas recht. Wir nehmen es ihm nicht übel, dass er darauf hinweist, dass, wo wir Lenin nicht mehr haben, das allgemeine Vertrauen nicht mehr so unumschränkt sein kann, wir selber haben dieses Vertrauen zu uns in diesem unbedingten Grade nicht mehr, wie wir es früher hatten, als wir wussten, dass unsere Beschlüsse sozusagen endgültig vom Genossen Lenin ratifiziert werden würden. Denn wir alle wussten, dass sein Urteil so reif, so objektiv, so klug, so marxistisch, so weitsichtig sein wird, wie bei niemandem sonst. Es ist unser Unglück, dass wir den besten Kopf, den besten Menschen, den genialsten Führer verloren haben. Das muss auf allen Gebieten große Folgen nach sich ziehen, und wir sind vorsichtiger geworden.

Aber welche Schlüsse kann man daraus ziehen? Unseren Lenin haben wir nicht mehr, einen zweiten Lenin gibt es in der Welt nicht. Aber der Kampf des Weltproletariats muss geleitet werden. Die Schlussfolgerung ist die: Die internationale Leitung muss noch mehr kollektiv sein, sämtliche Parteien müssen der Exekutive, dem leitenden Organ der Internationale, die besten Schüler von Marx und Lenin zuführen, die besten Köpfe, die besten Organisatoren. Welche andern Mittel als diese können wir noch ausdenken? Lenin ist nicht mehr. An seiner Statt müssen wir aus allen Bruderparteien heraus die besten Kräfte aussondern, um die kollektive Leitung der Internationale zu organisieren. Aber nachdem wir dieses leitende Organ aufgebaut haben, da wir eine Exekutive haben, die aus den besten Kommunisten der ganzen KI, der ganzen Welt zusammengesetzt ist, soll in ihr nicht „formelle” Disziplin herrschen, sondern eine wahre proletarische und kommunistische Disziplin. Wir nehmen es Bordiga nicht übel, wir sind nicht so dumm, uns einzubilden: Lenin ist tot, und alles wird beim alten bleiben! Wir selbst appellieren an euch, Genossen aus allen Bruderparteien. Lenin ist nicht mehr, so wollen wir versuchen, ihn, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, mit gemeinsamen Kräften zu ersetzen. Wir brauchen die Internationale zur Befreiung der Arbeiterklasse, wir müssen eine kollektive Führung zustande bringen, ein ehernes Organ, das wirklich führend eingreift und die kollektive Zusammenfassung der gesamten Arbeiterklasse darstellt, den kollektiven Verstand aller Parteien verkörpert.

 

Fälle von Disziplinbruch

Wir hatten Fälle von Disziplinbruch in dieser Zeit. Man hat sie teilweise nicht geahndet. Wir hatten z. B. solche Disziplinbrüche von rechts, wie durch Hoeglund, der Tranmael unterstützte, und von links durch Bordiga, der es ablehnte, ein Mandat zum Parlament anzunehmen, obwohl die Partei und die Exekutive darauf bestanden hatten.

Wir versuchten, geräuschlos diese Fälle zu liquidieren, da wir diese Genossen persönlich hochschätzen. Hoeglund hat sich während des Krieges als guter Revolutionär erwiesen, Bordiga hat ebenfalls ernsthafte Verdienste. Aber ich sage offen, wenn der Kongress keine Garantien schafft, dass sich ähnliche Disziplinbrüche nicht wiederholen, können wir die ganze Verantwortung nicht auf uns nehmen. Unsere Disziplin muss jetzt noch straffer sein, als sie zu Lebzeiten Lenins war. Wir dürfen nicht zurückschauen, sondern müssen vorwärtsblicken und eine Weltpartei schaffen, ein internationales Exekutivkomitee, ein internationales leitendes Organ. Niemand soll es wagen, von der Wahrung bloß „formeller” Disziplin zu reden. Dann sind wir die Internationale Zweieinhalb, dann sind wir nicht Testamentsvollstrecker von Marx und Lenin, dann sind wir nicht viel besser als die Crispien. Wir müssen kämpfen für eine einheitliche kommunistische Partei ohne Fraktionen und ohne Gruppierungen.

 

Die KPR

Was unsere Russische Kommunistische Partei betrifft – ich bin mir darüber klar, dass sie manchem nicht gefällt, sie gefällt Souvarine nicht, manchmal auch Radek nicht (Zwischenruf Radek: Mir gefällt sie sehr!), Sie sehen, sogar Radek gefällt sie –, so erkläre ich ihnen, die KPR ist eine disziplinierte Partei und erblickt ihren größten Stolz darin, der KI das Beste zu geben, worüber sie verfügt. Wir haben nur eine Bitte an euch – Ihr möget dasselbe tun. Lenin ist nicht mehr. Aber der Leninismus ist geblieben. Um ihn zum Siege in der ganzen Welt zu verhelfen, muss eine feste Führung da sein, wir müssen allen Genossen sagen: Wir brauchen eine noch strengere, straffere Disziplin als früher.

Die neue politische Konjunktur in Europa, die langanhaltende Periode der Wirtschaftskrise in der ganzen Welt, stellt uns vor große gewaltige Aufgaben. Wir können sie bewältigen nur unter der Bedingung, dass wirkliche Disziplin zu unserer Elementarpflicht wird.

Gewiss, es ist leicht, ein disziplinierter Soldat zu sein, wenn man in der Mehrheit ist, wenn man alles, was man für die Bewegung für nützlich hält, durchführen kann. Aber man muss auch in der Minderheit diszipliniert sein können.

Es gab eine Zeit, in der wir sogar im Schoß der II. Internationale straffe Disziplin übten, aber später wurde es unsere Pflicht und Schuldigkeit, eine linke Fraktion in der II. Internationale zu bilden (Zwischenruf Wynkoop: Richtig!), mit allen Mitteln gegen den Opportunismus zu kämpfen und dann die II. Internationale auch zu spalten. Das war richtig. Aber das kann nicht mit der III. Internationale geschehen, mit der Leninschen Internationale, der kommunistischen Weltpartei, die einheitlich, aus einem Guss, wie aus einem Block gehauen sein muss. Wir werden Ihnen nicht sagen, dass alles in unserer russischen Partei gut sei, aber nach und nach werden wir alle Mängel gutzumachen wissen. Aber wenn man hört, wie mir ausländische Genossen die Worte einzelner Führer unserer Opposition weitergegeben haben: Wartet nur, im Oktober gibt es ein Defizit im Budget Sowjetrusslands von 400 Millionen, dann wird sich herausstellen, wer recht hatte und wer unrecht – so muss die Kommunistische Internationale eine solche Sprache unmöglich machen! (Stürmischer Beifall!)

Die KI soll sagen, dass sie ebenso gut wie wir alle weiß, welche Schwierigkeiten die proletarische Regierung hatte, hat und haben wird, diese erste proletarische Regierung, die von Feinden umringt ist. (Beifall.)

 

Die II. Internationale geht abwärts, die III. aufwärts

Wenn wir nicht allein ein Lippenbekenntnis für Lenins Lehre ablegen, wenn wir eine wirkliche kommunistische Leninsche Internationale schaffen wollen, wenn die Resolution über die Bolschewisierung der Partei nicht eine leere Phrase sein soll, dann brauchen wir eine eiserne Disziplin, dann müssen wir alle Reste und Überbleibsel des Sozialdemokratismus, des Föderalismus, der „Autonomie” usw. ausmerzen.

Wir dürfen uns nicht scheuen, dies auszusprechen. Ja, wir sind nicht vom Himmel gefallen, wir sind aus dem Schoße der II. Internationale geboren. Die bürgerliche und kleinbürgerliche sozialdemokratische Ideologie ist das Unglück unserer Klasse, sonst hätten wir schon längst die Bourgeoisie und die Sozialdemokratie besiegt. Aber wir müssen gegen diese Gefahr kämpfen, energisch, mutig, beharrlich und tatkräftig, wie es Revolutionären und Leninisten geziemt. Keine Panik, wenn eine Opposition von rechts aufkommt. Klärt die Irrtümer auf, kämpfet, und ihr werdet siegen. Schafft eine wirkliche Kommunistische Internationale!

Die II. Internationale ist noch numerisch stark, aber historisch ist sie zu Grabe getragen. Wir haben uns das früher allzu einfach vorgestellt: die Epoche der II. Internationale ist zu Ende, die Epoche der III. hat begonnen. Historisch ist es richtig, aber im gesellschaftlichen Leben sind die Beziehungen nicht so einfach: das Ende des Zeitalters der II. Internationale und der Anfang des Zeitalters der Kommunistischen Internationale stimmen in der Zeit überein. Eine gewisse Anzahl von Jahren werden die beiden parallel nebeneinander bestehen. Die II. Internationale wird nach und nach den Schauplatz verlassen. Es geht abwärts mit ihr. Wir gehen aufwärts. Wir werden siegen. Dazu gehört eine eiserne Disziplin, eine wirkliche kommunistische Weltpartei, wie sie die KI werden muss. Wir haben nicht umsonst gelobt, im Geiste der Lehre Lenins zu wirken. Als wahre kommunistische Weltpartei müssen wir gegen den Opportunismus der Rechten kämpfen und die Irrtümer der Linken aufhellen. Wir brauchen eine eiserne kommunistische Führung, weil wir vor großen Kämpfen stehen. Wer von uns hat auf dem 4. Kongress daran gedacht, dass wir im Oktober 1923 würden über die Frage der deutschen Revolution so ernsthaft beraten müssen? Aber die Ereignisse waren ganz nahe herangerückt.

Die Dinge reifen schneller heran, als wir glaubten, trotzdem es uns scheint, dass es zu langsam geht. Es ist klar, dass zwischen dem 5. und dem 6. Weltkongress uns entscheidende Kämpfe an vielen Orten der Erde erwarten. Wir müssen bereit sein, alles zu tun, damit wir, nicht in Worten, sondern in der Tat, eine wirklich unbesiegbare kommunistische Weltpartei werden. (Stürmischer, langanhaltender Beifall, der in Ovationen übergeht. Die Delegierten erheben sich von ihren Plätzen und singen die „Internationale”.)

 

[1] Protokoll des V. Kongresses der Kommunistischen Internationale, 17. Juni bis 8. Juli in Moskau, 2 Bde, Verlag der Kommunistischen Internationale/Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1924, 42–107. – der Hrsg.

[2] Gemeint sind vermutlich der Brief des Ekki vom 26. März 1924 „Zur politischen Lage und den Aufgaben der Partei” sowie der Brief vom 24. März 1924 „Zur Gewerkschaftsfrage”, beide abgedruckt in: Bericht über die Verhandlungen des 9, Parteitages der KPD, abgehalten in Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924, Berlin 1924, S. 65. ff, sowie G. Sinowjew: Zur Lage der KPD, in: Die Internationale, 7. Jg. Heft 6 S. 239. ff. – Anm. von Peter Ludz, dem Hrsg. von Georg Lukács: Schriften zur Ideologie und Politik, Luchterhand, Neuwied und Berlin 1967.

[3] Antonio Graziadei: Prezzo e soprapprezzo nell’economia capitalistica. Critica alla teoria del valore di Carlo Marx, Milano 1923. Das Buch erschien im gleichen Jahr auch auf Deutsch – der Hrsg.

[4] Den genannten Rudas-Brief s. hier, Rudas’ kritische Studien hier, hier, hier und hierder Hrsg.

[5] In der Bemerkung geht es um Korsch’ 1923, zuerst im Grünbergschen Archív, dann auch separat erschienenes Buch Marxismus und Philosophieder Hrsg.

[6] Boris ist – nach einer Mitteilung von Richard Löwenthal – das Pseudonym von Boris Ronninger, geboren etwa 1898, vor 1933 Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main – Peter Ludz.

[7] Es geht wahrscheinlich um Korsch‘ Aufsatz Lenin und die Komintern, s. hier – der Hrsg.