Ladislaus Rudas

Die Klassenbewusstseinstheorie von Lukács (I.)[1]

 

„Es verschwinden die Phrasen über das Bewusstsein. Ihre Stelle muss das reelle Wissen einnehmen.“

(Marx–Engels.)

 

In meinem ersten Artikel[2] habe ich mich ausschließlich mit der Polemik des Genossen Lukács gegen Engels befasst. Ich tat es nicht nur deshalb, weil diese Polemik ein abgerundetes Ganzes darstellt, sondern auch deshalb, weil sie alle Grundtendenzen der L.‘schen Philosophie am wünschenswertesten ins helle Licht rückt. Ich glaube mit Recht sagen zu können, dass meine Zergliederung der L.‘schen Polemik gegen Engels gezeigt hat:

1. dass diese Polemik gänzlich verfehlt ist;

2. dass sie auf logischen und marxistischen Irrtümern beruht, die bei einem Philosophen und Marxisten vom Range L.‘s gerade zu erstaunlich sind;

3. dass alle diese – man kann mit vollem Recht sagen – primitiven Irrtümer nur deshalb möglich sind, weil Genosse L., in vornherein idealistisch-agnostizistisch eingestellt, Marx und Engels nicht vorurteilslos liest; an ihre Lektüre mit einer bürgerlich-philosophisch gefärbten Brille herantritt,[3] und deshalb die einfachsten Dinge der Welt miteinander verwechselt;

4. dass er nicht nur Idealist, sondern ein inkonsequenter Idealist ist.

Diese letztere Schlussfolgerung ist es, worauf ich in diesem zweiten Artikel vor aller erst Gewicht legen möchte:

1. Ist es schon an und für sich kein gutes Zeichen, wenn ein Schriftsteller oder Denker ein Eklektiker ist. Denn das zeugt immer davon, dass er entweder der Vertreter einer noch unreifen Klasse oder aber der Vertreter von Zwischenschichten zwischen reifen, entschieden denkenden gesellschaftlichen Klassen ist.

Ich lege auf diese – keineswegs neue Feststellung deshalb Gewicht, weil ich in meinem letzten Artikel versuchen werde, die soziale Schicht aufzusuchen, deren Denken die L.‘sche Philosophie objektiv zurückspiegelt.

2. lege ich aber Gewicht auf diese Feststellung, weil ich schon in diesem Artikel zeigen will, dass L. nicht nur als Idealist im allgemeinen nicht konsequent, ein Eklektiker ist, sondern auch in speziellen aber wichtigen Teilen seiner Theorie Elemente von bürgerlichen Philosophen oder Soziologen übernimmt, aber ohne die Prämissen und immer ohne die Konsequenzen, die bei den bürgerlichen Denkern diese Begriffe oder Theorien verständlich machen, ohne die aber diese Elemente gänzlich unverdaut, wie Fremdkörper den Marxismus direkt verunstalten. Er verquickt den Marxismus mit den dem Marxismus widersprechenden Elementen – eine nicht ungewöhnliche Konsequenz der Inkonsequenz.

Und was am allerschlimmsten, er nimmt gerade die reaktionärsten Seiten gewisser bürgerlichen Philosophen und Soziologen, ohne natürlich reaktionäre Folgerungen daraus ziehen zu wollen. Die Konsequenzen aber, wenn sie auch nicht gezogen sind, gehören mit zu jeder Theorie.

So eine Lehre ist das sogenannte „Zurechnungsproblem“ bei Rickert und Max Weber.

 

1. Das „Zurechnungsproblem“ bei den Rickertianern

Was ist nun das sogenannte Zurechnungsproblem?

Wie aus dem Namen ersichtlich, ist etwas, das unbekannt ist, etwas anderem, das bekannt ist, „zuzurechnen“. Der Name stammt aus der Mathematik, wo es die einfachste Sache der Welt bedeutet. Gesetzt, zwei Zahlenreihen x und y sind in einem solchen Verhältnis miteinander, dass einem jedem Werte von x ein Wert von y entspricht. Das ist bekanntlich der Fall, wenn x und y in einer funktionellen Abhängigkeit von einander stehen, so dass, sagen wir,

f (x) = y.

Sind mir nun verschiedene Werte von x bekannt, wo x nacheinander die Werte 1, 2, 3 annimmt, so sind die Werte von y denen von x zuzurechnen. Diese Aufgabe ist in der Mathematik nicht immer einfach. Schwer oder leicht, geht uns aber hier gar nichts an, da wir nur den Begriff klarmachen wollten. In jedem Zurechnungsproblem muss daher etwas (x) sein, das bekannt, und etwas (y), das unbekannt ist, und das zu dem ersten „zugerechnet“ werden soll. Gleich hier will ich noch etwas hervorheben, was uns in der weiteren Folge sehr wichtig sein wird, da es ein wesentlicher Zug dieses Problems ist, und wir alle Ursache haben, gerade diesen Zug hervorzuheben: Die beiden Größen x und y stehen in der Mathematik natürlich nicht in einem Kausalitätsverhältnis, sondern in einem funktionellen Verhältnis miteinander. Ein Kausalitätsverhältnis hätte in der Mathematik keinen Sinn. Die Ursache der Veränderung des x mag sein, was es will, diese Veränderung zieht die Veränderung des y nach sich, ohne dass man sagen könnte, dass die Ursache der Veränderung von y das x sei. Jedem Werte von x entspricht ein Wert von y – nicht aber jede Veränderung des x verursacht die Veränderung von y. In der Mathematik, wo nichts geschieht, ist dies ganz am Platze. Nun haben aber jene Philosophen und Soziologen, Rickert und Weber, nicht nur diesen Begriff der „Zurechnung“ aus der Mathematik in die Philosophie und Soziologie hinübergenommen, sondern sie haben ihn mit allen seinen mathematischen Konsequenzen und gerade mit der Absicht übernommen, die Kausalität aus der Welt der gesellschaftlichen Erscheinungen entweder ganz auszumerzen oder wenigstens auf die zweite (auf eine unbedeutende) Stelle herabzudrücken! Aus dem Kausalitätsverhältnis wird auch in der Geschichte (im besten Falle) ein funktionelles Verhältnis gemacht. Das „Zurechnungsproblem“ dient bei ihnen dem Zwecke, die exakte kausale Gesetzmäßigkeit gerade des gesellschaftlichen Geschehens zu leugnen, aus der Geschichte eine Geschichtsphilosophie, d.h. eine Geschichtsmetaphysik zu machen; die Soziologie aus einer Wissenschaft, die die allgemeinen Gesetze des gesellschaftlichen Geschehens enthält, zu einer jede gesetzmäßige Erkenntnis des gesellschaftlichen Geschehens leugnenden „Wissenschaft“ herabzudrücken. Und wie von Gott geschenkt, kommt ihnen gerade der mathematische Begriff der „Zurechnung“ und gerade die Eigenschaft dieses Begriffes, die in der Mathematik ihre höchst logische Konsequenz ist: die Eigenschaft nämlich, dass Bekanntes und Unbekanntes, die einander zuzurechnen sind, in keiner kausalen Verknüpfung miteinander stehen! Ist doch gerade der Begriff der Kausalität ihnen, die die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen leugnen, ein Dorn im Auge!

In der Tat: was ist dieses „Zurechnungsproblem“ in der Philosophie Rickerts und bei Max Weber? Wie in der Mathematik, müssen auch hier zwei Größen sein, die einander zuzurechnen sind. Diese beiden Größen sind: die sogenannten „Kulturwerte“ (x) und alles andere in der Gesellschaft (y).

So sagt: Max Weber:

„Nur bestimmte Seiten der stets unendlichen, mannigfaltigen Einzelerscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kulturbedeutung beimessen, sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung. Auch diese kausale Erklärung selbst weist dann wiederum die gleiche Erscheinung auf: ein erschöpfender kausaler Regressus von irgendeiner konkreten Erscheinung in ihrer vollen Wirklichkeit aus ist nicht nur praktisch unmöglich, sondern einfach ein Unding. Nur diejenigen Ursachen, welchen die im Einzelfall „wesentlichen“ Bestandteile eines Geschehens zuzurechnen sind, greifen wir heraus; die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt, nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungsfrage.“ (Wissenschaftslehre, S. 178.)

Ich habe zur Illustrierung des „Zurechnungsproblems“ mit Absicht nur Max Weber herangezogen und nicht Rickert selbst, oder Simmel, die mit noch größerer Schärfe und Bestimmtheit die objektive Gesetzmäßigkeit der Geschichte leugnen. Ich tat dies nicht nur deshalb, weil diese Geschichtstheorien allen Marxisten genügend bekannt, von ihnen wiederholt widerlegt worden sind, sondern weil Genosse L. in erster Reihe die Webersche Fassung vor Augen hat, als er sein Zurechnungsproblem aufstellt. Die Webersche Fassung ist nun natürlich weit entfernt das zu sein, was die Theorie bei Windelband und Rickert war. Dort war sie (wie bekannt) rein agnostizistisch. Die „Kulturwerte“ der „Kulturwissenschaften“ sollen durch eine eigene Geschichtsphilosophie festgesetzt werden.

Da mein Artikel die Schrift des Genossen L. und nicht die Rickertsche Philosophie zum Thema hat, gehe ich darauf nicht näher ein.

Max Weber ist einesteils schon selbst inkonsequent, indem er die Feststellung der Kulturwerte dem jeweiligen wandelnden Interesse des Historikers überlässt und dieses Interesse selbst nicht weiter soziologisch determiniert, andererseits ist er viel mehr Praktiker, viel mehr Soziologe und Wirtschaftshistoriker, um den kausalen Zusammenhang klipp und klar, starr zu leugnen. Immerhin zeigt das hier angeführte Zitat (dem man beliebig weitere zufügen könnte) mit genügender Klarheit und Deutlichkeit denselben Agnostizismus wie die ganze Rickertsche Schule. Denn unter dem Namen „Kausalität“ versteckt sich etwas ganz anderes als das, was unter diesem Namen in der Naturwissenschaft oder – sagen wir – im Marxismus verstanden wird. In der Naturwissenschaft ist es unmöglich, dass zwei (oder mehrere) Ereignisse, die miteinander als Ursache und Wirkung verknüpft sind, beliebig vertauschbar wären und es dem Belieben oder dem „leitenden Erkenntnisziel“ überlassen werden könnte, das, was früher Wirkung war, bald als Ursache der Wirkung, und was Ursache war, ein andermal als Wirkung derselben Ursache zu betrachten. (Den Begriff der Wechselwirkung schließe ich hier, wo es sich um eindeutige Feststellung der Begriffe „Ursache“ und „Wirkung“ handelt, aus.) So z. B. ist das Leben auf der Erde eine Wirkung der Energieausstrahlung der Sonne, das Leben auf der Erde – trotzdem es entschieden ein „Kulturwert“ – kann aber nicht umgekehrt als die Ursache der Energieausstrahlung der Sonne betrachtet werden. Oder im Marxismus: Der „Geist“ des Kapitalismus ist eine Wirkung der – grob gesagt – kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist aber nicht die Wirkung des kapitalistischen Geistes. Da dieser „Geist“ aber der „Kulturwert“ ist, der den „Soziologen“ interessiert, so „greift“ er ihn heraus, gruppiert alles um ihn – und stellt den wirklichen Sachverhalt nach Belieben auf den Kopf. Allgemein gefasst:

Sowohl in der Naturwissenschaft wie in der marxistischen Gesellschaftswissenschaft ist die Kausalität (oder die Wechselwirkung) eine reell wirkende Natur- oder gesellschaftliche Kraft, die die Erscheinungen in gewisse Beziehung mit einander bringt, welche Beziehung in der Wirklichkeit gegeben nicht abänderbar ist, und unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, diese Beziehung empirisch in der Erfahrung aufzusuchen, nicht aber nach einem „Erkenntnisziel“ zu konstruieren. Diese Beziehung ist, eine allgemeine, d. h. nicht nur einzelne Tatsachen, sondern ganze Tatsachenreihen sind voneinander in kausaler Abhängigkeit. Solche Beziehungen können daher durch ein allgemeines Gesetz ausgedrückt werden. Solches Gesetz ist z.B. das Darwinsche Entwicklungsgesetz oder das Marxsche Gesetz der Abhängigkeit zwischen Produktionsprozess und politischen bzw. geistigem Prozess der Gesellschaften, Daher taucht weder in den Naturwissenschaften, noch im Marxismus das Problem der „Zurechnung“ wie bei den Rickertianern und Weber auf. Es ist im Marxismus nie fraglich, was Ursache und was Wirkung in einem Komplex von gesellschaftlichen Ereignissen ist; ebenso wenig was aus diesem Komplex bedeutungsvoll und was unbedeutend ist. Wohlverstanden: bei einer konkreten Tatsache kann wohl die Frage auftauchen, ob sie auf diese oder jene Ursache zurückzuführen sei, die gesetzmäßige Reihenfolge der Verknüpfung der Ereigniskomplexe steht aber außer Zweifel. Weder dass sie in kausaler Verknüpfung stehen, noch wie, in welcher Reihenfolge sie verknüpft sind. Gerade diese Reihenfolge wird durch die Marxsche Gesellschaftslehre festgesetzt. Und diese Lehre ist eine empirische, an Hand der Erfahrung gewonnene Theorie, die nur aussprechen will, was ist, was in den Erscheinungen selbst reell enthalten ist. In dieser Beziehung ist der Marxismus reine Naturwissenschaft.

Gerade das wird durch die „Zurechnung“ geleugnet. Mag die Wirklichkeit sein wie sie will, wir können sie doch nicht erkennen („voll“ erkennen), da „ein erschöpfender kausaler Regressus einfach ein Unding“ ist, noch mehr: da wissenswert „allein“ diejenigen Erscheinungen sind, denen wir eine allgemeine Kulturbedeutung „beimessen“. Wir „greifen“ daher „die wesentlichen Bestandteile eines Geschehens“ heraus – zu diesem „Herausgreifen“ wird entweder gar nicht oder durch eine fremde Philosophie die Regel geliefert –, die anderen bekommen durch diese ebenfalls Wichtigkeit, sie werden ebenfalls wesentlich, da sie mit Wesentlichem verknüpft sind. Was dieses „Wesentliche“ ist, das kann keine Theorie sagen: dem einen, dass Napoleon sich am 2. Februar 1812 erkältet, dem anderen, dass er die Nase der Beauharnais zu groß gefunden hat. Und deshalb: nur keine Theorie! Die Geschichte besteht aus „individuellen Konstellationen, die sich nie wiederholen; jede individuelle Konstellation hat einen zentralen Kulturwert in sich, dem alle anderen „Züge“ dieser Konstellation „kausal“ zuzurechnen sind.

Was hier das Wort „kausal“ bedeutet, ist klar: alle Ereignisse der Geschichte sind zwar kausal, aber nicht im Sinne des eindeutig und reell, also nicht abänderbar, festgelegten Geschehens, sondern nur im Zusammenhang mit dem willkürlich gewählten Zentralproblem. Wählen wir das Zentralproblem, den Kulturwert anders, so ist auch der kausale Zusammenhang anders. Die Kausalität in allem Respekt, er ist absolut – wenn er unsern Willen tut.

Dass dies ein schlecht verkappter Agnostizismus, eine Leugnung jeder exakten Theorie ist, darauf weitere Worte zu verlieren, wäre Zeitverschwendung. Erstens sagt es Max Weber selbst („die Kausalfrage ist… nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen [… ist]“).

Zweitens hat er aus seiner Theorie das Exempel gezogen, indem er in seiner Religionssoziologie die „Weltreligionen“ als die Ursache der Wirtschaftsstruktur darstelle, dann aber eine „Soziologie“ und eine „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ verfasste, die bei einer erdrückenden Fülle von „Tatsachenmaterial“ ängstlich vermeidet, dieses Material unter eine „Formel“ zu bringen, d. h. die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens zu formulieren.

Das Zurechnungsproblem passt aber sehr wohl in eine Theorie der Theorielosigkeit; mit den Prämissen Rickert-Webers steht und fällt es; ohne die Prämissen dieser bürgerlichen Skeptiker ist es sinnlos und ohne die Konsequenzen dieser Schriftsteller noch sinnloser! Denn nehme ich an, dass das gesellschaftliche Geschehen aus „individuellen Konstellationen” besteht – so ist es logisch, dass von einer Gesetzmäßigkeit im Sinne einer marxistischen Soziologie nicht die Rede sein kann. Dann ist es logisch, dass die „Kausalität“ eine eigenartige Fassung bekommt. Sie sinkt logisch auf die zweite Stufe, wogegen die erste Rolle die „Kulturwerte“ spielen werden, die wieder durch Geschichtsmetaphysik (Rickert, Troeltsch) oder durch Zufall (Weber) bestimmt werden. Wir haben hier folgenden logischen Zusammenhang:

Prämisse: Wesentlich in der Geschichte sind die „Kulturwerten“. Diese wechseln, sind aber individuell.

Untersatz: Die Geschichte besteht also aus „individuellen Konstellationen“, deren jede nach den jeweiligen Kulturwertdominanten innerlich „zusammenhängt“.

Konklusion: Es gibt deshalb keine kausale Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Geschehens, keine Theorie, die die „individuellen Konstellationen“ nach einem Gesetz kausal verknüpfte. „Die Kausalfrage“ ist eine „Zurechnungsfrage“.

Lässt man die Prämisse fallen, ebenso den Untersatz, und behält man aus der Konklusion nur die Theorie der Zurechnung bei, ohne die Möglichkeit der Gesetzmäßigkeit zu leugnen, deren logische Konsequenz die Zurechnung ist, so verfährt man höchst inkonsequent! Man übernimmt einen Begriff, die Zurechnung, dessen Rolle gerade darin besteht, die kausale Gesetzmäßigkeit, die im Wesen geleugnet wird, zu vertreten – ohne die kausale Gesetzmäßigkeit zu leugnen! Das ist aber höchst inkonsequent, und zwar eigenartig inkonsequent!

Denn entweder ist man sich bewusst, welche Rolle der Begriff der „Zurechnung“ bei den Rickertianern spielt – und dann hütet man sich, mit diesem Begriff zu operieren, wo der alte Begriff der Kausalität unvereinbar mit dem „Zurechnen“ ist!

Oder: Man weiß sehr wohl, worin diese Rolle des „Zurechnens“ besteht, dass sie die Leugnung der Kausalität bedeutet – aber man neigt selbst zu dieser Auffassung und will die Kausalität selbst durch allerlei „Zusammenhang“, „Sinn“ aus der Welt disputieren.

Oder endlich: Man nimmt den Begriff unbesehen aus dem Arsenal einer reaktionären Philosophie, ohne zu wissen, was man tut und in welches Wespennest man greift – was das bedeutet, das zu beurteilen, überlasse ich dem Leser.

 

2. Das „Zurechnungsproblem“ bei Lukács

Welcher Fall sich bei dem Genossen L. vorfindet, das werden wir sehen.

Vorerst wollen wir konstatieren, dass er „zurechnet“. Er definiert das „Klassenbewusstsein“ des Proletariats (und jeder anderen Klasse) folgendermaßen:

„Konkrete Untersuchung bedeutet also: Beziehung auf die Gesellschaft als Ganzes. Denn erst in dieser Beziehung erscheint das jeweilige Bewusstsein, das die Menschen über ihr Dasein haben, in allen seinen wesentlichen Bestimmungen. Es erscheint einerseits als etwas subjektiv aus der gesellschaftlich-geschichtlichen Lage heraus Berechtigtes, Verständliches und Zu-Verstehendes, also als »richtiges« und zugleich als etwas objektiv an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes, sie nicht adäquat Treffendes und Ausdrückendes, also als »falsches Bewusstsein«. Andererseits erscheint dasselbe Bewusstsein in derselben Beziehung als subjektiv die selbstgesetzten Ziele verfehlend und zugleich ihm unbekannte, ungewollte objektive Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung fördernd und erreichend. Diese doppelt dialektische Bestimmung des »falschen Bewusstseins« hebt seine Behandlung aus der bloßen Beschreibung dessen, was die Menschen unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen, in bestimmten Klassenlagen usw. tatsächlich gedacht, empfunden und gewollt haben, heraus. Dies ist bloß der – allerdings sehr wichtige – Stoff der eigentlichen geschichtlichen Untersuchungen. Die Beziehung auf die konkrete Totalität und die aus ihr folgenden dialektischen Bestimmungen weisen über diese bloße Beschreibung hinaus und ergeben die Kategorie der objektiven Möglichkeit. Indem das Bewusstsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den –  diesen Interessen gemäßen – Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären: die Gedanken also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind. Die Anzahl solcher Lebenslagen ist in keiner Gesellschaft eine unbeschränkte. Mag ihre Typologie durch eingehende Einzelforschungen noch so verfeinert werden, es ergeben sich doch einige sich klar voneinander abhebende Grundtypen, deren Wesensart durch die Typik der Stellung der Menschen im Produktionsprozess bestimmt wird. Die rationell angemessene Reaktion nun, die auf diese Weise einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozess zugerechnet wird, ist das Klassenbewusstsein. Dieses Bewusstsein ist also weder die Summe noch der Durchschnitt dessen, was die einzelnen Individuen, die die Klassen bilden, denken, empfinden usw. Und doch wird das geschichtlich bedeutsame Handeln der Klassen als Totalität letzthin von diesem Bewusstsein und nicht vom Denken usw. des einzelnen bestimmt und ist nur aus diesem Bewusstsein erkennbar.“ (S. 61–62.) (von mir unterstrichen. L. R.)

Damit ist aber aus einem reellen gesellschaftlichen Produkt, aus dem Klassenbewusstsein, das in der Totalität der gesellschaftlichen Erscheinungen kausal entstanden, in kausalem Zusammenhang mit der übrigen Totalität steht – ein Hirngespinst gemacht. Ein Hirngespinst, das wie alle eingebildeten Hirngespinste, in mystischen Nebelschleier gehüllt, Spuk und Zauber verbreitet und anscheinend größere Macht besitzt, als sie den wahren Realitäten zukommt. Das wirkliche Bewusstsein der Menschen übt eine sehr begrenzte Wirkung auf ihre wirkliche Geschichte aus, dieses „zugerechnete“ Bewusstsein „bestimmt“ aber „letzthin“ das geschichtlich bedeutsame Handeln der Klasse als Totalität! Und doch ist es nicht wirklich, weder verkörpert in den Individuen, noch massenpsychologisch in den Massen, es ist ein Bewusstsein, das da wäre, wenn… Gedanken, Empfindungen usw., die die Menschen nur haben würden, wenn…

Zur Unterstützung seiner Mystik zieht Genosse Lukács wieder Marx heran. Er zitiert folgende Stelle aus der „Heiligen Familie“ und setzt sie als Motto vor das Thema „Klassenbewusstsein“:

„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat, als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“

Und er interpretiert diesen Marxschen Satz nach seiner gewohnten Art, aus Marxstellen herauszulesen, was nicht darin steht, und hineinzulesen, was L. wünschte, dass darin stände, folgendermaßen:

„Wie es im Motto hervorgehoben wurde – (ist) Klassenbewusstsein nicht das psychologische Bewusstsein einzelner Proletarier oder das (massenpsychologische) Bewusstsein ihrer Gesamtheit, sondern der bewusst gewordene Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse.“ (S. 86.)

Bevor wir nun die L.‘sche Klassenbewusstseinstheorie zergliedern, noch eine kleine Bemerkung, um dem Experiment alle störenden Nebenerscheinungen fernzuhalten. Nach Lukács ist – nach dem letztens angeführten Zitat – „das Klassenbewusstsein weder das psychologische Bewusstsein einzelner Proletarier noch das massenpsychologische Bewusstsein ihrer Gesamtheit, sondern – der bewusstgewordene Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse“. Schön. Jede Klasse hat eine geschichtliche Lage, und jede solche Lage hat einen „Sinn“. Das ist zwar ganz die Rickert-Webersche Sprache, und hinter diesem „Sinn“ wittern wir wieder Reminiszenzen aus der alten ethisch-rationalistischen Geschichtsdeutung und -verdrehung des Idealismus. Alles auf der Welt hat einen „Sinn“ – wenn jemand (z. B. ein Gott) der Welt einen „Sinn“ vorschreibt, gegen welchen als Ziel sie sich zu „vervollkommnen“ hat. Und nichts hat einen Sinn, das Fallen des Steines ebenso wenig wie der Klassenkampf des Proletariats, außer dem „Sinn“, dass beide nach den Natur- bzw. Gesellschaftsgesetzen verlaufen müssen. „Die geschichtliche Lage“ einer Klasse und der „Sinn“ dieser geschichtlichen Lage sind nur für den Idealisten verschieden voneinander.

In der Tat:

Was ist eine „geschichtliche Lage“? Eine Lage, die wie jede andere, unabhängig vom – obzwar durch das – Menschenbewusstsein über diese Lage abläuft. Was für einen Sinn kann es haben, wenn ich vom „Sinn“ dieser Lage spreche? Einen zweifachen. Die Materialisten sagen:

Dasselbe, was objektiv, also unabhängig davon, wie die Menschen es erkennen, geschieht, wird gleichzeitig vom Menschen, der ein Denkvermögen hat, auch aufgefasst. Fallen Steine auf einer schiefen Ebene herunter – so werden die Fallgesetze erkannt. Fallen Throne und Menschenköpfe – so werden die gesellschaftlichen Gesetze, die Gesetze der Revolution erkannt. Dieses „Erkennen“ ist ihr „Sinn“ – nichts anderes. Und dieser Sinn ist – wie gesagt – ein psychischer Vorgang beim Menschen, dessen Denkvermögen von den Ereignissen berührt wird: aber ebenso, wie dieser psychische Prozess selbst nur eine andere (besonders qualifizierte) Seite von physiologischen Prozessen ist und nicht etwas über diesen physiologischen Prozessen, etwas Übersinnliches,[4] ebenso ist ein erkannter, sinnhabender Prozess nichts anderes als der objektive Prozess selbst, wie er vom Menschen erkannt wird. Deshalb sagen die Materialisten: „Die geschichtliche Lage einer Klasse und der „Sinn“ dieser geschichtlichen Lage sind nicht verschieden voneinander.“

Die Idealisten aber sagen:

Sie sind verschieden voneinander. Jeder „Prozess“ muss einen „Sinn“ haben, d. h. gegen ein Ziel streben. Es ist nicht möglich, dass die Welt (Natur und Gesellschaft) kein Endziel haben soll, gegen welches sie zustrebt; keinen Zweck: das wäre „sinnlos“. Untersuchen wir also einen Natur- oder geschichtlichen Prozess, so ist außer der kausalen Verknüpfung der Ereignisse und über ihnen noch etwas da: das Ziel, gegen welches das betreffende Ereignis strebt; der Zweck, den die Natur und die Gesellschaft hat, und den das betreffende Ereignis zu verwirklichen mithilft. Und nur solche Ereignisse sind „bedeutsam“ oder „geschichtlich bedeutsam“, die dieses Ziel oder diesen Zweck verwirklichen helfen. Wie wir sehen, sind dies die sogenannten „Werte“, „Kulturwerte“ usw., die wir bei Rickert-Weber kennengelernt haben.

Gesetzt den Fall, so ein Rickertianer wäre ein aufgeklärter Mann, sagen wir Sozialdemokrat oder gar Kommunist, so würde er in der heutigen Periode der Revolutionen nicht unterlassen, die Frage zu stellen: „Welchen ‘Sinn haben diese Revolutionen? Bringen sie eine Vervollkommnung dem Menschengeschlechte oder nicht?“ Und je nach dem, was er unter „Vervollkommnung“ versteht (Gerechtigkeit oder Demokratie usw.), würde er z. B. die russische Revolution gutheißen oder verdammen.

Kurz: eine geschichtliche Lage hat für den Idealisten den „Sinn“, dass sie bewertet wird.

Marx und Engels waren immer am entschiedensten dagegen, dass man den Marxismus mit „Werturteilen“ durchbricht (S. Anti-Dühring S. 161; oder: Elend der Philosophie, Vorwort von Engels S. X). Werturteile, die ein Individuum oder eine ganze Klasse fällt, in denen etwas sittlich gutgeheißen oder verdammt [wird], sind selbst kausal zu erklären. Solche Werturteile können Symptome sein von eingetretenen Änderungen im Gesellschaftsprozess, von denen sie in dieser Form Kunde geben (wenn z. B. die Lohnsklaverei sittlich verurteilt wird, ohne dass ihr Wesen erkennt wäre), wer aber behaupten würde, dass das Klassenbewusstsein des Proletariats aus solchen Werturteilen besteht, der würde alles sein können, nur kein Marxist.

Wenn aber Genosse L. sagt: „Das Klassenbewusstsein ist der bewusstgewordene Sinn der geschichtlichen Lage einer Klasse“, so sagt er – nach dem oben Ausgeführten – entweder dieses, dass der „Sinn der geschichtlichen Lage“ solche Werturteile sind, oder einfach, dass er das Erkennen des gesetzmäßigen Ablaufes der gesellschaftlichen Ereignisse und ihrer Tendenzen bedeutet.

Auch in diesem Falle ist das Klassenbewusstsein etwas mehr. Davon werden wir noch zu sprechen haben. Im großen ganzen bin ich mit ihm natürlich einverstanden. Ob zwar dann sehr erstaunlich ist, weshalb diese einfache Tatsache so idealistisch-irreführend formuliert ist.[5] Gerade um diese übel riechende Gefahr zu vermeiden, würden Marxisten eine andere Sprache vorziehen. Diese würden sagen: jede erreichte Stufe der Produktionskräfte treibt die Gesellschaft in gewisse (durch die Theorie erkennbare) Richtung. Diese Richtung ist „höher“ oder „niedriger“, „Entwicklung“ oder „Rückgang“, je nach den Umständen. Das ist ihr „Sinn – nichts anderes. Diese Richtung (=Tendenz) ist erkennbar, kann bewusst werden. Ist sie eine „Entwicklung”, so erscheint sie im Bewusstsein als Aufgabe, die man erstrebt, die eventuell auch verwirklicht wird (wenn keine störenden Ursachen dazwischenkommen). Ist die Richtung ein „Rückgang“, so kann man versuchen, sie aufzuhalten. Das wird vielleicht gelingen – vielleicht, meistens sogar nicht. Das zu erkennen, welcher Fall vorliegt, ist gerade die Funktion der Theorie. Ob, wie und wann die Richtung, in die die gesellschaftliche Entwicklung läuft, bewusst wird oder nicht, ist eine Frage, die uns hier nicht beschäftigt. Nehmen wir an, sie wird bewusst. Dann kann man die Rickert-Weber-Lukácssche Ausdrucksweise wählen und sagen: „Der Sinn der geschichtlichen Lage“ (der Gesellschaft oder der Klasse) „ist bewusst geworden.“ Ich frage aber: „Wo ist er bewusst geworden? In wem ist er bewusst geworden? Wie ist er bewusst geworden?“

Entweder ist er in einzelnen Menschen (sagen wir: Proletarier) bewusst geworden, oder er ist in einem Teile oder in der ganzen Klasse bewusst geworden. Gibt es eine dritte Möglichkeit? Die Menschen waren sich ihrer geschichtlichen Lage bisher nicht bewusst. Warum nicht, und wessen sie sich anstatt ihrer bewusst waren, ist eine andere Frage. Jetzt werden sie sich ihrer aus irgendeinem Grunde bewusst. Heißt das nicht soviel, dass in ihren Köpfen, reellpsychologisch sich jetzt andere, der Wirklichkeit mehr oder vollkommen entsprechende Gedanken, Gefühle, Ziele usw. befinden als vordem? Kann das Wort „bewusstwerden“ etwas anderes auch bedeuten? Dass diese neuen Gedanken, Gefühle, Ziele usw. mit dem Worte „Sinn der geschichtlichen Lage“ zusammengefasst werden, ändert doch nichts an der Tatsache, dass sie bewusst geworden, d.h. psychologisch erlebt werden und erlebt werden müssen, wenn sie bewusst geworden sind? Ist dem aber so, dann begeht Genosse L. – wie schon öfters – wieder einmal einen seiner gewohnten logischen (Bock-) Sprünge. Zur Abwechslung heißt dieser Sprung jetzt nicht Äquivokation oder Quidproquo, sondern ganz einfach – Widerspruch. Und zwar kein dialektischer Widerspruch. Genosse L. leugnet in dem ersten Teile seines Satzes, was er im zweiten Teile anerkennt. Der erste Teil seines Satzes widerspricht dem zweiten Teil vollkommen. Im ersten Teile wird behauptet, dass das Klassenbewusstsein weder das psychologische Bewusstsein einzelner Menschen noch das massenpsychologische vieler Menschen sei. Jetzt würde man glauben, dass Genosse L. einen dritten Ort entdeckt hat, wo sich das Klassenbewusstsein realisiert. Vielleicht der Kopf eines Gottes oder vieler Götter, vielleicht der Kopf der Dame Geschichte oder etwas Ähnliches. Nein. Im zweiten Teile seines Satzes wird das zugegeben, was im ersten geleugnet wird. Denn es wird gesagt: Das Klassenbewusstsein ist „der bewusst gewordene Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse“. Es kann aber – wie gesagt –  nur der Kopf der Menschen sein (entweder einzelpsychologisch oder massenpsychologisch), wo sich das Klassenbewusstsein realisiert, wo etwas ihnen bewusst wird. Nur was ihnen bewusst wird, also nur der Inhalt des Bewusstseins, wird durch L. im zweiten Teile seines Satzes näher bestimmt: er ist der „Sinn der geschichtlichen Lage“. Das ist aber eine ganz andere Frage, mit Verlaub gesagt! Was der Inhalt des Bewusstseins der Menschen jeweilig ist, ob dieser Inhalt der Realität entspricht oder nicht, das ist eine Frage für sich, die aber mit der Frage, ob das Bewusstsein psychologisch oder massenpsychologisch ist, gar nichts zu tun hat! Mag der Inhalt wahr oder falsch sein, den „Sinn der geschichtlichen Lage“ ausdrücken oder nicht, das Bewusstsein, das diesen Inhalt beherbergt, ist entweder einzelpsychologisch oder massenpsychologisch! Nur in einem Falle nicht: wenn „der Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse“ so „bewusst wird“, dass er selbst, dieser Sinn, zu einem aparten, besonderen Bewusstsein wird, verschieden von den Einzelbewusstseinen der Menschen und über den Köpfen der Menschen thronend. Dann haben wir aber einen (verkappten) Gott vor uns! (Philosophisch nennt man das: Hypostasieren.) Im besten (oder schlimmsten?) Falle ist also das „zugerechnete“ Bewusstsein des Genossen L. ein hypostasiertes Bewusstsein – sehr ähnlich einem göttlichen Bewusstsein.

Sie hauen also daneben, Genosse L., Sie beweisen nicht das, was Sie beweisen wollen. Besser gesagt: entweder widersprechen Sie sich selbst, oder Sie vereinen in Ihrem Satze zwei, auf ganz verschiedenen Ebenen liegende Fragen: Sie reden im ersten Teile Ihres Satzes von etwas ganz anderem als in dem zweiten Teile! Im ersten Teile vom Bewusstsein (ob es einzelpsychologisch oder massenpsychologisch oder sonst etwas anderes sei), im zweiten vom Inhalt des Bewusstseins, von dem Sie gleichzeitig zugeben, dass er dennoch bewusst wird. Wo? Im Bewusstsein, das Sie im ersten Teile schon – aus der Welt eskamotiert haben! Sie verfahren wie der tolle Percy bei Shakespeare, der auf die ängstlich-besorgte Frage seiner Frau: „Was reißt dich so von mir weg?“, die Antwort gibt: „Ei, mein Pferd, mein Kind, mein Pferd!“

Es hat sich aber herausgestellt, dass diese „kleine Bemerkung“ nicht eine Nebenfrage betrifft, sondern uns gerade in den Mittelpunkt, in den Kern der ganzen Frage hineinführt. Tut es L. nicht, so müssen wir es auf alle Fälle tun: wir müssen die beiden Fragen – was ist das Bewusstsein der Menschen? und was ist der Inhalt dieses Bewusstseins? – streng auseinanderhalten. Denn es ist klar: was immer der Inhalt des Bewusstseins sei, mögen die Gedanken, Gefühle, Ziele usw., die die Menschen haben, fortwährend wechseln – in jedem gegebenen Zeitabschnitt haben sie einen Komplex von diesen Dingen in ihrem Kopfe, und dieser Komplex wird gerade „Bewusstsein“ genannt. Und dieses Bewusstsein kann nur in den einzelnen Menschen psychologisch oder in den vielen massenpsychologisch verwirklicht sein. Was dieses „psychologisch oder massenpsychologisch verwirklicht sein“ bedeutet, entscheidet eine Wissenschaft, und zwar eine Naturwissenschaft – die Psychologie (Massenpsychologie). In welchem Verhältnis diese zum Marxismus steht, das ist eine äußerst interessante und noch gar nicht genügend aufgeklärte Frage, deren Erörterung jedem Marxisten immer dringendere Pflicht wird. Hätte Genosse L. in diesem Sinne die Frage gestellt, so könnte man ihm dankbar sein, so wäre die Frage wenigstens vernünftig und klar gestellt – wenn auch die Antwort nicht sofort einwandfrei ausgefallen wäre. Gerade diese – die einzig sinnhabende – Frage interessiert aber den Genossen L. nicht im mindesten. Seine Untersuchung ist philosophisch gestellt. Und gerade das ist dem Geiste des Marxismus zuwider!

 

3. Kausalität und Zurechnungsproblem im Marxismus

Eine Frage philosophisch stellen heißt aber in diesem Falle – wie wir gesehen haben – sie metaphysisch stellen. „Das philosophische Bewusstsein ist so bestimmt, dem das begreifende Denken der wirkliche Mensch und die begriffene Welt als solche erst die wirkliche ist.” (Marx, z. Kr. d. p. Oek. Einl. XXXVI.) Nicht umsonst ist Genosse L. auch hier bei Max Weber in die Schule gegangen. Dieser konstruiert eine „verstehende“ Soziologie, deren Kategorien (Grundbegriffe) sich danach richten, dass wir menschliche Handlungen verstehen und demgemäß „deuten“ können. So fragt auch L. fortwährend danach, welchen „Sinn“ diese oder jene „bedeutsame“ Handlung der Klassen hat. Er fragt fortwährend danach: „welche Gelegenheit des Lebens, und in welchem methodischen Zusammenhang, es verdient, als für die Erkenntnis relevante Tatsache in Betracht zu kommen?“ (S. 17.) Und in echt Rickert-Weberschen Geiste beantwortet er diese Frage immer philosophisch – d. h. nach einem „Erkenntnisziel“ oder Entwicklungsziel, das die Tatsachen aller erst zu Tatsachen stempelt. Alle, die sich nicht nach einem im vornhinein festgesetzten Erkenntnisziel orientieren, und die „Tatsachen“ nicht danach auswählen, nennt er „rohe Empiristen“.

Dass damit viel mehr gemeint ist, als gesagt (besser: eingestanden) wird, das ahnt man, wenn man sich erinnert, welche Bedeutung er dem „Sinn“ der geschichtlichen Lage beimisst, welcher Ausdruck – wie wir früher sahen – wenigstens sehr zweideutig ist bei einem Schriftsteller, der auch übrigens eine große Neigung zeigt nach idealistischer Richtung. Aber diese Ahnung wird und sehr bald zur Gewissheit, wenn wir bedenken, dass diese „Theorie“ der Erkenntnisziele sehr nach den Rickert-Weberschen Kulturwerten riecht, die gerade das „Erkenntnisziel“ sind, wonach die „Tatsachen“ sich richten sollen! Der Marxismus hat ein einziges „Erkenntnisziel“ – die Tatsachen in ihrer kausalen Verknüpfung aufzudecken. Was unter den Tatsachen wichtig oder unwichtig ist, das wird einzig und allein aus dem Gesichtspunkte entschieden, welche Wirkung eine Tatsache hat. Ich kann einer Tatsache eine falsche Bedeutung zumessen, ich kann falsche Tatsachen feststellen (wie z. B. die Revisionisten, als sie die Erstarrung der Kleinbourgeoisie „feststellten“, oder Genosse L., als er die „Tatsache“ feststellte, dass Marx die Dialektik der Natur leugnet). Gegen solche „Tatsachen“ hat Lenin einen erbitterten Kampf geführt (z. B. gegen die „Tatsache“ des abnehmenden Bodenertrages). –  Solche Tatsachen werden dann zwar berichtigt, aber die richtigen bleiben dennoch Tatsachen. Natürlich wird der Zusammenhang der Tatsachen durch die Theorie festgelegt. Aber nur, weil die Theorie selbst nichts anderes ist als der gedankliche Ausdruck reell bestehender Tatsachenverhältnisse. Nicht jede beliebige Theorie drückt gültige Verhältnisse von Tatsachen aus, sondern nur die wahre Theorie. Und „wahr“ ist eine Theorie, wenn sie auf Tatsachen beruht, von ihnen abgelauscht ist. Die Welt, wenn sie auch noch nicht begriffen ist, wenn also noch keine Theorie da ist, durch die sie erklärt wird, ist da, sie ist da mit allen reellen Beziehungen zwischen den Dingen und Menschen – wird sie später begriffen, so ist dieses Begreifen, die Theorie, eine Tatsache unter den Tatsachen, die nicht verfehlen wird, ihre Wirkung auszuüben. Man kann aber keineswegs sagen: die Tatsachen richten sich nach der Theorie, und nicht die Theorie nach den Tatsachen. Man kann nie sagen: „Desto schlimmer für die Tatsachen.“ So verfährt aber der Philosoph. Für ihn ist eine Tatsache nur dann eine solche, wenn sie in seine Theorie passt, wenn sie durch sein „Erkenntnisziel“ „relevant“ wird. Für ihn – für L. – ist das begreifende Denken der wirkliche Mensch; die begriffene Welt die wirkliche. Nun ist es eine Tatsache, dass die Menschen Bewusstsein haben. Dieses Bewusstsein spielt auch bei ihnen eine gewisse – nicht einmal eine unerhebliche – Rolle. Jede Gesellschaftstheorie muss sich mit dieser Tatsache in erster Linie abfinden, war diese Tatsache doch der Ausgangspunkt aller Idealisten, die eine ganz erhebliche Rolle in der Geistesgeschichte der Menschheit spielten. Was ist dieses Bewusstsein, und welche Rolle spielt es in der Geschichte? Der Marxismus gibt darauf eine klare und präzise Antwort: ich konstatiere die Tatsache, dass die Menschen ein Bewusstsein haben; ich verfolge die Geschichte und konstatiere, dass dieses Bewusstsein darin diese und diese Rolle spielt. Es fällt mir aber nicht in den Sinn, dieses Bewusstsein zu leugnen! Oder es durch ein „konstruiertes“ Bewusstsein zu ersetzen, das nirgends anzutreffen ist, von dem man nicht weiß, ist es ein Vogel oder ein Fisch, das nur in meinem Begriffe existiert. Das ist die philosophische Fragestellung, das ist die Fragestellung des Genossen Lukács!

In der Tat:

Die Menschen haben ein Bewusstsein und bilden sich sogar ein, dieses Bewusstsein entscheidet über das Schicksal der Welt. (Wir werden sehen, dass sich dies sogar Genosse Lukács einbildet!) Die Menschen haben Gedanken, Gefühle, sie stellen sich sogar Ziele – und sie bilden sich sogar ein, diese Gedanken, Gefühle spielen eine wichtige und unabhängige Rolle in der Geschichte; diese Ziele sind dieselben, die in der Geschichte ebenfalls verwirklicht werden. Die Materialisten haben diese Meinung der Menschen immer bekämpft. Nach der besonderen Form der jeweiligen materialistischen Lehre hat man das Bewusstsein der Menschen auf dieses oder jenes zurückgeführt, bis endlich der moderne Marx-Engelssche Materialismus das Bewusstsein der Menschen letzten Endes auf die wirtschaftliche Struktur der Menschen zurückführte. Und zwar nicht ein konstruiertes, sondern das lebendige, in den Menschenköpfen verwirklichte Bewusstsein. Eins ist aber jedem Materialismus, von welcher Form auch immer, gemein: zwischen dem Bewusstsein der Menschen und der es umgebenden Welt (Gesellschaft) besteht ein kausaler Zusammenhang! Das Bewusstsein der Menschen ist das Produkt der sie umgebenden Welt. Das ist zwar eine elementare Wahrheit, leider dreht sich aber unser ganzer Streit gegen Genossen L. um elementare Wahrheiten des marxistischen Materialismus.

Diese elementare Wahrheit ist aber unverträglich mit jeder „Zurechnung“. Denn entweder ist das Bewusstsein der Menschen eine reelle Tatsache des gesellschaftlichen Lebens, die mit anderen Tatsachen kausal verknüpft ist, oder nicht. In diesem letzteren Falle mag es eine „Zurechnungsfrage“ sein. Ist es aber kausal verknüpft (wie das der Marxismus annimmt), darin kann man die Art dieser kausalen Verknüpfung näher bestimmen, man muss die Bedeutung dieser Tatsache, des Bewusstseins, strenge erwägen, die Anmaßungen der Menschen betreffs ihres Bewusstseins richtigstellen – außer diesem Bewusstsein, das eine reelle Tatsache des gesellschaftlichen Lebens, eine gesellschaftliche Erscheinung unter anderen ist, gibt es und kann es aber kein anderes hypothetisches, nirgends, außer in dem Begriffe des Philosophen existierendes Bewusstsein geben, das erst gewonnen wird, nachdem die Theorie die objektiv geschichtliche Lage einer Klasse erst fest gestellt hat und dann hinterdrein ein Bewusstsein dazu konstruiert, ein Bewusstsein dazu „zurechnet“, das diese Lage adäquat (=restlos treu) widerspiegelt. Natürlich modelt sich das Bewusstsein der Menschen nach ihrer gesellschaftlichen Lage, nach ihrer Lage im Produktionsprozess, nach ihrer Klassenzugehörigkeit. Das Leben im Produktionsprozess ist Z. B. der längste und wichtigste Teil des Lebens des Industriearbeiters. Die Eindrücke, die er dort im Verhältnis zu den Maschinen, zu seinen Mitproduzierenden, den andern Arbeitern, im Verhältnis zu den Arbeitsaufsehern und endlich zum Kapitalisten bekommt, machen einen bedeutenden Teil seines Bewusstseins aus. Mutatis mutandis – ist es mit allen Menschen so, denn in der Klassengesellschaft gibt es keine Menschen, sondern nur Klassenmenschen. Heute: Kapitalisten, Lohnarbeiter usw. (Marx, Z. Kr. d. p. Oek. Einl. XXXV.) Deshalb ist das Bewusstsein der Menschen kein allgemein menschliches Bewusstsein (das ist der Irrtum z. .B. der modernen Psychologie, des Freudismus), sondern ein Klassenbewusstsein. Alle, die im Produktionsprozess dieselbe Stelle einnehmen, haben mehr oder weniger wesentlich dasselbe Bewusstsein, ein Klassenbewusstsein.

Damit ist aber gleichzeitig gesagt: dass das individuelle Bewusstsein selbst von vornherein – ein gesellschaftliches Produkt, ein Klassenprodukt ist. Würde man aus dem Bewusstsein des Individuums aussondern, was nur ihm persönlich gehört, was er persönlich zu ihm beigetragen hat, so würde davon sehr wenig übrigbleiben. Von der Wiege bis zur Bahre ist der Mensch ein Gesellschaftsmensch – sein Bewusstsein wird im Verkehr mit seinem Mitmenschen gemodelt, wobei er Bewusstseinsinhalte bekommt, die fix und fertig, ohne sein Wissen und Zutun im gesellschaftlichen Prozess entstanden, von vergangenen Generationen auf die neuen hinterlassen, von diesen ihrerseits weiter gewoben werden. Sprechen wir von einem individuellen Bewusstsein und im Gegensatz dazu von einem gesellschaftlichen oder Klassenbewusstsein – so meinen wir damit gar nicht, dass außer dem individuellen Bewusstsein noch irgendwo ein anderes existieren würde. Sondern, dass das Individuum, trotzdem sein Bewusstsein von vornherein ein vergesellschaftetes ist, notwendigerweise neben dem wesentlichen für alle Klassenangehörige typischen Züge auch nebensächliche, zufällige, d. h. aus seinem individuellen Verkehr mit einem kleinen Kreis von Mitmenschen stammende Inhalte auf weist, hinwieder wesentliche, den meisten seiner Klassengenossen zukommende Züge aus ihm auch fehlen können und bestimmt auch fehlen.

Den Gradunterschied zwischen dem Individuum als Individuum und dem Individuum als Mitglied einer Klasse einerseits, und zwischen den beiden Bewusstseinen andererseits, bestimmen unzweideutig folgende Sätze von Marx und Engels:

„Die Individuen gehören nur als mittlere Individuen, nur insofern sie unter den Existenzbedingungen ihrer Klasse leben, zu einer Gemeinschaft; in dieser Beziehung haben sie miteinander nicht als Individuen, sondern als Klassenmitglieder zu tun.“ (Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Archiv S. 245.)

Die „mittleren“ Individuen und die reell-lebenden Individuen sind aber keine voneinander verschiedenen Lebewesen, Wirklichkeiten!

Spreche ich also theoretisch vom Klassenbewusstsein des Proletariats, so verfahre ich wie jede Wissenschaft: ich lasse die zufälligen Züge, die dem besonderen Produktionsprozess, dem besonderen Verhältnis zum einzelnen Kapitalisten usw. entspringen, weg und nehme nur das allen Gemeinsame, das dann charakteristisch, typisch, das „mittlere“ wird. Aber immer mit dem Vorbehalt, dass das so gewonnene „Bewusstsein“ nirgends rein, nirgends außerhalb der lebendigen Einzelmenschen realisiert ist. Aus dem so gewonnenen Bewusstsein wird der Marxist nie einen geschichtlichen Dämon, einen „Demiurg des Wirklichen, der Geschichte“ machen –  sonst hört er auf Marxist zu sein, er wird zum Althegelianer, bei dem – wie bekannt – die Idee gerade diese Rolle spielte. Natürlich ist das so gewonnene Bewusstsein eine Realität. Ist es doch durch die Wissenschaft so gewonnen, dass gerade jene Elemente der Einzelbewusstseine ausgesondert wurden, die allen gemeinsam sind. Gerade deshalb, weil diese Elemente allen gemeinsam sind, gerade deshalb sind sie auch die wesentlichsten Elemente, diejenigen, die in allen Mitgliedern derselben Klasse gleichmäßig wirkend sind oder wirkend werden. Und was in vielen gleichmäßig wirkt, das wird nach dem Gesetz des Umschlagens der Quantität in Qualität zu etwas Neuem, zu etwas anderem. Darum ist das Klassenbewusstsein eine Realität, ein reelles gesellschaftliches Produkt und eine reelle gesellschaftliche Kraft (deren Bedeutung nur innerhalb der vom Marxismus gezogenen Grenzen gehalten werden muss), und darum ist das Klassenbewusstsein nicht die „arithmetische Summe“, noch der „Durchschnitt der Einzelbewusstseine“. Aber auch keine „Zurechnungsfrage“.

Zu welchen Konsequenzen die Annahme einer „zugerechneten“ Bewusstseins an Stelle des wirklichen Bewusstseins führt, werden wir später ausführlich sehen. Gleich hier wollen wir aber eine Konsequenz hervorheben, die manchen Leser (man kann sagen: jeden, der nur etwas sich in marxistischen Schriften umgeschaut hat, oder sogar nur das heutige Leben nicht ganz mit geschlossenen Augen betrachtet), sehr überraschen wird. Diese Konsequenz lautet: nur das Proletariat hat ein Klassenbewusst sein! Höchstens noch die Bourgeoisie, aber das ist schon nicht so gewiss, im Gegenteil sehr fraglich!

Man höre:

„Es ist sehr bezeichnend, sowohl für den Anarchismus als Theorie, wie für das »Klassenbewusstsein« der Bauern, dass einige konterrevolutionäre Aufstände und Bauernkämpfe von mittleren und reichen Bauern Russlands an diese Gesellschaftsauffassung als Zielsetzung den ideologischen Anschluss gefunden haben. So kann bei diesen Klassen… nicht eigentlich von Klassenbewusstsein gesprochen werden: ein volles Bewusstsein ihrer Lage würde ihnen die Hoffnungslosigkeit ihrer partikularen Bestrebungen der Notwendigkeit der Entwicklung gegenüber enthüllen. Bewusstsein und Interessen stehen hier demzufolge im Verhältnis eines kontradiktorischen Gegensatzes zueinander. Und da Klassenbewusstsein als ein Zurechnungsproblem der Klasseninteressen bestimmt wurde, macht dies auch die Unmöglichkeit seiner Entwicklung in der unmittelbar gegebenen, geschichtlichen Wirklichkeit philosophisch verständlich.“ (S. 73. Von mir unterstrichen L. R.)

Ich kann niemandem zumuten, dass er sich in den Irrgängen des L.schen Stil-Labyrinths ohne Ariadne-Faden zurechtfindet; sonst würde ich zu diesem Zitat gar keinen Kommentar hinzufügen: es würde von selbst klarer dartun, was für Hirngespinste hier dem Leser als Marxismus geboten werden, als jede Kritik es zu tun imstande ist.

Man bedenke, was hier gesagt wird. Bei den Bauern kann „eigentlich“ von einem Klassenbewusstsein gar nicht gesprochen werden. Warum? – fragt der erstaunte Leser. Die Bauern haben doch ein Klassenbewusstsein, sie haben Gedanken, Empfindungen, Ziele usw., das beweist doch das tägliche Leben. „Nein“, sagt Genosse L., „sie haben es nicht.“ Nicht vielleicht deshalb, weil sie ein erborgtes Bewusstsein haben, erborgt von anderen Klassen (von der Bourgeoisie oder vom Proletariat), was auch möglich wäre. Ob zwar auch in diesem Falle die Bauern doch so manches in ihrem Bewusstsein hätten, was sie nicht erborgt haben, das ihrer eigenen Stellung in der Produktion entsprungen, sehr gut als ihr spezifisches Klassenbewusstsein benannt werden könnte. So beschreibt Bucharin in seinem „Hist, Mat.“ das Klassenbewusstsein der Bauern folgendermaßen:

„Hang zum Privateigentum, das sie von allem Neuen abhält, Individualismus, Abgesondertheit, Argwohn gegen alles, was jenseits ihres Dorfes liegt.“ (Theor, des hist. Materialismus. S. 340. Deutsche Ausgabe.)

Und hier bemerkt Bucharin ebenfalls, dass die Bauern sehr oft die Theorie des Anarchismus annehmen, von der er witzig sagt, dass sie aus zwei Paragraphen besteht: § 1. „Nichts wird sein.“ § 2. „Niemand wird ermächtigt, den vorhergehenden Paragraphen auszuführen.“ Über den wahren Zusammenhang der Bauernideologie und des Anarchismus, und wie ihn 1. deutet, werden wir später ein paar Worte zu sagen haben.

So viel ist aber aus dem bisher Gesagten klar, dass die Bauern ein Klassenbewusstsein doch haben, und dass sogar ein Marxist wie Bucharin dieser Meinung ist. „Nein“, sagt Genosse L., „sie haben »eigentlich« kein Klassenbewusstsein.“ Warum? – fragen wir noch einmal. Darum, weil sie kein volles Bewusstsein ihrer Lage haben. Denn hätten sie ein volles Bewusstsein ihrer Lage, so müssten sie die Hoffnungslosigkeit ihrer partikularen Bestrebungen einsehen.

Ja, wird jeder vernünftige Mensch sagen müssen, wie ist es denn mit anderen Klassen bestellt? Die städtische Kleinbourgeoisie – ist sie in einer anderen Lage? Oder die Bourgeoisie – ist sie in einer anderen Lage? Können diese Klassen ein volles Bewusstsein ihrer Lage haben? Nicht im entferntesten! Die besten Seiten des L.schen Buches sind gerade diejenigen, worin er darlegt, dass die Ideologienlehre, die Klassenbewusstseinslehre des Marxismus gerade das besagt, dass sie das nicht haben und nicht haben können! Gerade weil ihr Interesse es erfordert, ihre Lage, die Hoffnungslosigkeit dieser Lage nicht zu sehen, machen sie sich allerlei falsche Gedanken, Ideologien – das nennt man gerade Klassenbewusstsein einer Klasse.

Die heutige Gesellschaft zerfällt in Klassen. Jede Klasse nimmt einen besonderen Platz im Produktionsprozess ein. Nach diesem eingenommenen Platz, nach der Rolle, die jede Klasse im Produktionsprozess spielt, hat jede Klasse andere Interessen, und gemäß ihren Produktionsbedingungen und gemäß ihren Interessen ein anderes Bewusstsein. Gerade das wird doch Klassenbewusstsein genannt!

Hätten die verschiedenen Klassen nicht eine verschiedene Stellung im Produktionsprozess und nicht verschiedene Interessen, so hätten sie alle dasselbe Bewusstsein, ein allgemein-menschliches Bewusstsein, und keine verschiedenen Klassenbewusstseine. Dieses allgemein-menschliche Bewusstsein würde in diesem Falle gleichzeitig ein volles Bewusstsein der objektiven Lage sein. Das ist heute nicht möglich, weil feindliche Klassen gegeneinanderstehen, deren Lage und Interesse sie zwingt, der Welt falsch bewusst zu werden, Ideologien zu haben.

Unter allen heutigen Gesellschaftsklassen ist nur das Proletariat in der Lage, dass seine Stellung in Produktionsprozess wie auch sein Interesse ihm es ermöglicht, die Welt (Gesellschaft) so zu erkennen, wie sie ist: also ein volles Bewusstsein seiner Lage zu haben. Ob, wie und inwieweit diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird – ist eine andere, uns hier nicht interessierende Frage. Aber man nennt das Bewusstsein des Proletariats nicht deshalb ein Klassenbewusstsein, weil es richtig oder falsch seine Lage zurückspiegelt, sondern weil dieses Bewusstsein, mit all seinen Eigentümlichkeiten, nur auf das Proletariat beschränkt ist, ebenso wie das Bewusstsein der anderen Klassen, wieder mit all seinen Eigentümlichkeiten, beschränkt ist auf die anderen Klassen. Deshalb kann man das Bewusstsein des Proletariats, trotzdem es die Welt objektiv-richtig zurückspiegelt, nicht allgemein-menschliches Bewusstsein, sondern nur ein Klassenbewusstsein nennen.

Also: die Wahrheit ist gerade das Gegenteil von dem, was Genosse L. behauptet! Eben weil die Welt von jeder Klasse anders (und infolgedessen natürlich von einigen unter ihnen falsch) aufgefasst wird, deshalb haben sie ein spezielles Klassenbewusstsein, darin besteht gerade ihr Klassenbewusstsein. Gerade im Gegenteil dazu, wie Genosse L. es behauptet, stehen Klassenbewusstsein und Interesse im engsten Zusammenhange und nicht „im kontradiktorischen Gegensatz“ zueinander. Nach L. müssten doch die Bauern – tote Gegenstände oder wenigstens Tiere sein, sie dürften überhaupt kein Bewusstsein haben! Stehen doch bei ihnen „Bewusstsein und Interessen im kontradiktorischen Gegensatz zueinander“. Sie haben aber ein Interesse. Und sie haben ein Bewusstsein, wie immer es beschaffen sein mag. Nach L. schließt aber das eine (das Interesse) das andere (das Bewusstsein) aus („kontradiktorischer Gegensatz“), also haben sie kein Bewusstsein, sie sind tote Sachen oder Tiere. Oder haben sie ein Interesse und ein ganz entgegengesetztes Bewusstsein da zu? Und wenn ihr Bewusst. sein nicht Klassenbewusstsein genannt werden kann, wie sonst?

„Philosophisch“ mag das alles verständlich sein, ich muss gestehen, dass einfach prosaisch, nicht „philosophisch, es ganz und gar unverständlich ist. Hören wir zu, wie Lenin die Lage und das Klassenbewusstsein der Bauern charakterisiert und dann werden wir sofort sehen, worin der Unterschied zwischen einem Marxisten-Materialisten und einem Philosophen-Idealisten bestellt:

„Die Lage des Bauern ist so beschaffen gemäß seinem Sein, seinen Produktionsbedingungen, seinen Lebensbedingungen, den Bedingungen seiner Wirtschaft, dass der Bauer – ein Halbarbeitender und ein Halbspekulant ist.“

Die Bauern – sind eine besondere Klasse. Als Arbeitende sind sie Feinde der kapitalistischen Ausbeutung, aber gleichzeitig sind sie selbst Eigentümer. Der Bauer wurde Hunderte von Jahren im Glauben erzogen, dass das Brot ihm gehört und dass es ihm frei steht, es zu verkaufen. Das ist mein Recht – denkt der Bauer, denn das ist meine Arbeit, mein Schweiß und Blut. Seine Psychologie schnell zu überwinden ist unmöglich, das ist ein langer und schwieriger Prozess des Kampfes.“

„Die Frage steht so, dass der Bauer gewöhnt ist zum freien Handel mit dem Brote.“

„Der Bauer ist ein Halbarbeitender, ein Halbspekulant. Der Bauer ist ein Arbeitender deshalb, weil er mit seinem Schweiß und Blut sein Brot erlangt; er wird von den Gutsbesitzern, Kapitalisten, Händlern ausgebeutet. Der Bauer ist ein Spekulant deshalb, weil er das Brot, diesen Gebrauchsgegenstand, verkauft…“ (Lenin: Vom Betrug des Volkes mit den Lösungen von Freiheit und Gleichheit. Ges. Werke XVI. S. 210 ff. Russisch.)

Erstens wird hier die Bauernschaft als eine „besondere Klasse“ anerkannt. Nach L. ist aber fraglich, ob „sie im streng marxistischen Sinne überhaupt Klasse genannt werden“ kann. (s. 73.) Aber das bemerke ich nur nebenbei.

Zweitens: was wird hier geschildert, als die besondere Klassenpsychologie („seine Psychologie schnell zu überwinden ist unmöglich“), das Klassenbewusstsein der Bauern?

Weil sie eine besondere Klasse mit besonderer Psychologie, besonderem Klassenbewusstsein sind, das teilweise dem Proletariate günstig, teilweise aber ihm gefährlich ist – deshalb keine Gleichheit zwischen Bauer und Proletarier in der Konstitution der Sowjetrepubliken.

So spricht ein Materialist-Marxist, der eine konkrete Frage konkret analysiert und sich nicht mit philosophischen Phrasen begnügt. Der Marxist-Materialist fasst das Bewusstsein der Klassen nicht als „Zurechnungsproblem“ auf, sondern als eine, manchmal sehr gefährliche gesellschaftliche reelle Macht, Wirklichkeit, mit der man rechnen und wonach man seine Politik richten muss. Wird aus dem Klassenbewusstsein ein „zugerechnetes“ Gespenst gemacht, so wird auch die Politik des Proletariats gegen Gespenster gerichtet und gespensterhaft geführt – nicht zum Vorteil der proletarischen Revolution!

Und warum nehmen oft die Bauern die Theorie des Anarchismus an? Nicht – wie Genosse L. es sagt –, weil sie kein Klassenbewusstsein haben, sondern wieder gerade umgekehrt: weil sie eins besitzen! Die Bauern sind – wie wir aus Lenins Worten sehen – eine kleinbürgerliche Klasse (Halbarbeitende, Halbspekulanten). Und der Anarchismus – eine kleinbürgerliche Theorie. Die zerstückelte Wirtschaftsweise, der Individualismus des Bauern schreit direkt nach einer Theorie, die individualistisch ist, deren Ideal die Kleinwirtschaft ist. Das ist doch klar! Ebenso klar ist es, dass die Bauern einmal zu den Kapitalisten, ein andermal zum Proletariat halten. Weil sie Halbarbeitende, Halbspekulanten sind! Nicht aber als wären sie keine besondere Klasse, mit besonderem Klassenbewusstsein!

Dies alles wäre fast gar nicht verständlich bei einem Schriftsteller, der sich Marxist nennt, wenn nicht klar auf der Hand läge, was Genosse L. miteinander verwechselt. Er verwechselt das Klassenbewusstsein, wie es tatsächlich ist, mit dem Klassenbewusstsein, wie es wäre, wenn es kein Klassenbewusstsein wäre; er verwechselt das Klasseninteresse, das bei den Klassen tatsächlich vorhanden ist, mit dem Klasseninteresse, das es wäre, wenn es kein Klasseninteresse wäre. Es ist doch klar:

1. Hätten die nichtproletarischen Klassen ein „Klassenbewusstsein, so wie es Genosse L. bestimmt, also hätten sie eine volle Erkenntnis ihrer Lage, würden sie die Gesellschaft so erkennen, wie sie objektiv ist: dann hätten sie alle das Klassenbewusstsein – des Proletariats, der einzigen Klasse, die die Gesellschaft so erkennt, wie sie objektiv ist. Dann hätten aber gleichzeitig alle Klassen dasselbe Bewusstsein, also: es wäre kein Klassenbewusstsein überhaupt vorhanden. Die ganze Menschheit hätte dasselbe Bewusstsein.

2. Das Klassenbewusstsein einer Klasse hat Grade, weil keine Klasse einheitlich ist. Der Grad, die Klarheit und Unklarheit des Bewusstseins der Klassen ist eine Frage, und das typische Klassenbewusstsein einer Klasse ist eine andere Frage. Wenn L. nur das ein Klassenbewusstsein nennt, das der objektiven Lage der Klasse voll entspricht – wie nennt er dann das Denken der Klasse, solange es diese Stufe nicht erreicht hat? In diesem Falle gibt es nur ein theoretisches, aber kein wirkliches Klassenbewusstsein, auch beim Proletariat nicht, denn auch bei diesem ist nur die Vorhut, die kommunistische Partei – „bewusst“. Mit mehr oder weniger Klarheit haben aber die übrigen Mitglieder der Klasse des Proletariats ebenfalls ein der Lage des Proletariats entsprechendes Bewusstsein, sind doch die Kommunisten – schon nach dem „Kommunistischen Manifest“ – keine besondere Klasse innerhalb des Proletariats. Und wenn Proletarier nicht voll oder wenig „klassenbewusst“ oder sogar klassenfeindlich gesinnt sind, so deshalb, weil ihre Lage im Wirtschaftsprozess selbst nicht rein typisch ist. Entweder sind sie nicht in Großbetrieben beschäftigt, oder aber gehören sie zum „kleinbürgerlichen Proletariat“. Oder kennt Genosse L. diesen Engelsschen Ausdruck nicht? Dieser Ausdruck besagt aber, dass die Klassen keine starren Gebilde, sondern fließende Prozesse sind. Ebenso ihre Klassenbewusstseine. so dass sehr gut in dem Kopfe der wirklichen lebendigen Menschen Ideologien verschiedener Klassen Platz haben können – verschiedene Klassen beeinflussen einander. „Der Übergang ist fließend“ – hier ebenso wie auch anderswo.

3. Interesse und Bewusstsein können nur dann im „kontradiktorischen Gegensatz“ miteinander stehen, wenn dieses Interesse – kein Klasseninteresse ist. Wenn die Bauern keine besondere Klasse: Halbspekulanten, Halbarbeitende wären, so würden sie einsehen, dass ihr Interesse – der Kommunismus ist. Das einzusehen hindert sie aber gerade ihr Klassenbewusstsein, ihr Klasseninteresse! Wenn sie so weit kommen werden, dass sie dieses einsehen (und die praktischen Maßregeln der proletarischen Revolution, gepaart mit der Propaganda der kommunistischen Partei bringen sie dazu), dann legen sie ihr spezifisches Klassenbewusstsein ab und nehmen das Bewusstsein des Proletariats an dessen Stelle an. Das ist Dialektik! Solange sie aber eine besonders Klasse sind, haben sie ein besonderes Klassenbewusstsein und besondere Interessen! Und diese beiden, weit entfernt, „im kontradiktorischen Gegensatz zu sein, sind bei ihnen gerade umgekehrt in vollstem Einklange.

Nur wenn man diese drei Punkte in Betracht zieht, kann man sich die Absurditäten des Genossen L: erklären, in die ihn sein „Zurechnungsproblem“ verwickelt. Es passiert dem Genossen L. hier mit seinen Lehrern Rickert und Max Weber dasselbe, was dem russischen Bogdanow mit Mach passiert ist. Plechanow schildert das folgendermaßen:

„Sogar dort, wo Sie (nämlich Bogdanow, L. R.) meinen, dass Sie unabhängig von Ihrem Lehrer sind, verderben Sie nur die von ihm angeeignete Lehre. Und dabei verderben Sie sie, in dem Sie vollkommen treu bleiben seinem Geiste. … Sie machen nur zu einer handgreiflichen Absurdität das, was bei Ihrem Lehrer nur eine potenzielle Absurdität (absurdum an sich, hätte Hegel gesagt) war.“ (Plechanow: Dritter offener Brief gegen Bogdanow. S. 85, Russisch.)

*

Manches, was durch diese „Zurechnung“ einem gespenstischen Klassenbewusstsein zugesprochen wird, ist die Funktion der Theorie. Die Theorie ist imstande, lange bevor eine Klasse sich dessen bewusst ist, die Grundtendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung vorauszusehen. Und da das Bewusstsein in den Menschen mit zu dieser Entwicklung gehört, kann die materialistische Theorie, die die kausale Abhängigkeit des Bewusstseins von den materiellen Produktionskräften, von den reellen Produktionsverhältnissen usw. verkündet, auch die Entwicklungsrichtung des Bewusstseins, und des Klassenbewusstseins des Proletariats im besonderen, voraussehen. Und wie zu erwarten ist, besagt das durch L. herangezogene Marxzitat nur dieses. Und das ist etwas ganz anderes, als was L. daraus folgert.

Die betreffende Stelle befindet sich in der „Heiligen Familie“ in einer Debatte gegen Bauer. Man erlaube mir, die ganze Stelle unverkürzt zu zitieren, da „der schlagendste Beweis der philosophischen Schrullen die Praxis ist“.

„Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs, wie die kritische Kritik zu glauben vorgibt, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von den Schein der Menschlichkeit im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefasst sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewusstsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muss das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigene Lebensbedingung aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. – Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation, wie in der ganzen heutigen Organisation der bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet. Es bedarf hier nicht der Ausführung, dass ein großer Teil der englischen und französischen Proletarier sich seiner geschichtlichen Aufgabe schon bewusst ist und beständig daran arbeitet, dieses Bewusstsein zur vollständigen Klarheit herauszubilden.“

Aus diesem Zitat – das braucht fast gar keinen Kommentar, um es einzusehen – folgt ebenso wenig die Leugnung des reellen (Klassen-) Bewusstseins, und seine Ersetzung durch ein hypothetisches, „zugerechnetes“, wie aus dem anderen Marxzitat die Leugnung der Dialektik in der Natur und ihre Beschränkung auf die Gesellschaft folgte. Wie dort, ist es hier in gleicher Weise einfach unverständlich, wie man so etwas daraus herauslesen will!

Es ist doch klar, was Marx meint. Die sozialistischen Schriftsteller schreiben dem Proletariat eine gewisse weltgeschichtliche Rolle zu. Warum tun sie das, und warum können sie das tun? Weil die heutige Gesellschaft gewissen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, die die zukünftige Bahn der Gesellschaft ebenso notwendig vorschreiben, wie die Bahn eines herabgeworfenen Steines durch die Fallgesetze notwendig vorgeschrieben wird. Der Stein weiß davon nichts, dass sein Fall durch Naturkräfte notwendig vorgeschrieben ist: ebenso mag es sein, dass das Proletariat von seiner Rolle einstweilen keine Vorstellung hat. Aber nur einstweilen –  sagt Marx. Denn da die Proletarier keine Steine sind, sondern Menschen, die ein Bewusstsein haben, so werden sie sich auch schon ihrer geschichtlichen Rolle bewusst werden. Die Engländer und Franzosen fangen schon an, sich ihrer geschichtlichen Aufgabe bewusst zu werden, die andern werden schon folgen.

Woher ich das weiß? Daher – sagt Marx –, weil ich als Materialist weiß, dass das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein abhängt, ein Produkt dieses gesellschaftlichen Seins ist. Da dieses Sein so beschaffen ist, dass das Proletariat durch das Elend usw. absolut notwendig zu diesem Handeln gezwungen wird, so ist es ebenso absolut notwendig, dass mit der Zeit auch das Bewusstsein in ihm erwacht.

Mehr steht wieder nicht in diesem Zitat und – ich muss wiederholen – wer mehr daraus herausliest, der irrt sich gewaltig!

Was darin steht, ist doch gerade genug! Die Rolle des Bewusstseins ist doch präzis, klar und nicht missdeutbar bestimmt. Marx sagt nicht – wie Lukács uns glauben machen will –, es ist einerlei, was die Proletarier sich als Ziel vorstellen oder vorstellen werden. Das wäre eine fatalistische Theorie, und Marx war kein Fatalist. Er sagt nur: Es handelt sich nicht darum, was das Proletariat sich einstweilen als Ziel vorstellt. Und wie wir wissen, ist gerade die Geschichte jenes Gebiet, wo die Zeit. (um mit L. zu reden) eine sehr wichtige Kategorie ist. Das Proletariat ist einstweilen unreif zu seiner Befreiungstat. Das Reifwerden hängt von vielen Umständen ab; unter ihnen spielt auch das Bewusstsein des Proletariats eine gewisse, vielleicht sogar große Rolle. Das hindert aber nicht vorauszusehen, dass das Proletariat reif werden, dass die Zeit kommen muss, wo es seine Mission erfüllen, wo es sich auch dessen bewusst werden wird. Einstweilen handelt es sich aber nur darum, diese zukünftige Aufgabe des Proletariats aus der Struktur der heutigen Gesellschaft herauszulesen – später wird diese theoretische Erkenntnis, die vorerst nur in wenigen Köpfen da ist, alle oder die meisten Köpfe der Proletarier erfüllen. Was für ein „Zurechnungsproblem“ ist hier verborgen?

Gerade umgekehrt: das Bewusstsein der Proletarier wird kausal durch die Umwelt erklärt. Dieses Bewusstsein ist hier gerade das „psychologische Bewusstsein einzelner Proletarier oder das (massenpsychologische) Bewusstsein ihrer Gesamtheit“. Und gerade im Gegenteil dazu, wie Genosse L. es behauptet, wird „das geschichtlich bedeutsame Handeln der Klasse als Totalität“ gerade nicht „letzthin von diesem (zugerechneten) Bewusstsein… bestimmt und nur aus diesem Bewusstsein erkennbar“. Was nicht nur „das geschichtlich bedeutsame“, sondern jedes Handeln der Klasse „letzthin“ bestimmt, ist dies von Marx geschilderte objektive Sein der Klasse. Dieses Sein schreibt der Klasse ihr Ziel vor, d. h. erweckt in ihr ein entsprechendes Bewusstsein. Und dann bestimmt dieses reelle und nicht ein „zugerechnetes“ Bewusstsein das Handeln der Klasse. Freilich bei weitem nicht „letzthin“. Das Bewusstsein ist ein notwendiger Durchgangspunkt aller objektiven Notwendigkeiten beim Menschen. Alles Materielle muss ins Ideelle umgesetzt werden. Aber „letzthin“ bestimmt – das Materielle.

„Die kritische Kritik darf dies um so weniger anerkennen, als sie sich selbst zum ausschließlich schöpferischen Element der Geschichte proklamiert hat. Ihr gehören die geschichtlichen Gegensätze, ihr die Tätigkeit, sie aufzuheben.“

Das schreibt Marx unmittelbar nach der zitierten Stelle. Hat er nicht seinen Lukács ebenfalls vorausgeahnt und mitgetroffen?

Feiert die „kritische Kritik“ heute nicht in der Philosophie des Genossen Georg Lukács ihre Wiedergeburt?

(Schluss folgt.)

 

[1] Arbeiter-Literatur (Wien), Oktober 1924 (Jg. 1, Nr. 10.), 669–697. – S. die russische Version des Aufsatzes hier. – der Hrsg.

[2] S. Nr. 9 der „Arbeiter-Literatur”.

[3] Am Ende unseres Artikels werden wir gerade diese Tatsache frappant bestätigt finden!

[4] Feuerbach (Werke II. 348, zitiert bei Plechanow) sagt: „Ich bin ein psychologisches Objekt für mich selbst und ein physiologisches Objekt für andere.“

[5] Dass bei Gen. L. ganz bestimmt der erste Fall vorliegt, werden wir später konstatieren können.