Peter Bürger

Verschüttete Spuren. Georg Lukács in der Frankfurter Schule[1]

 

1. Abwehr
Es ist noch nicht allzu lange her, daß ich in einer Diskussionsrunde mit Bremer Kollegen, die sich vor über einem Jahrzehnt zusammengefunden hat, um das interdisziplinäre Programm Horkheimers wiederaufzunehmen, den Vorschlag machte, nochmals zu den Grundtexten der Frankfurter Schule zurückzukehren, wobei mit dem Verdinglichungsaufsatz aus Geschichte und Klassenbewußtsein zu beginnen wäre. Der Kreis reagierte darauf zunächst mit betretenem Schweigen, dann mit lautstarker Entrüstung. Vom Stalinisten Lukács war die Rede und von der Unlesbarkeit seiner Prosa. Wenn ich wenigstens die Theorie des Romans vorgeschlagen hätte, das wäre noch diskutabel gewesen, aber Geschichte und Klassenbewußtsein, nein. Es war ganz sinnlos, auf die Anwürfe zu antworten, den Stalinismus-Vorwurf gegen den Autor von Geschichte und Klassenbewußtsein zurückzuweisen oder gar anzudeuten, was die Frankfurter der Verdinglichungsthese von Lukács verdankten. Die Atmosphäre war gereizt und beruhigte sich erst wieder, als eine Freundin mir beisprang, indem sie den Gegenvorschlag machte, der sogleich ohne Diskussion angenommen wurde, ein neues Buch über Melancholie zu diskutieren, von dem sich freilich nachträglich herausstellte, daß es noch gar nicht im Handel war. Bis heute habe ich die Heftigkeit der Reaktionen nicht recht begriffen. Es war, als rühre der Name Lukács an eine schlecht verheilte Wunde, erinnere an ein Stück der eigenen Vergangenheit, an das man nicht erinnert werden wollte. Hatte die Verstocktheit der Eltern-Generation die 68er unter uns eingeholt?

Aber hatte ich selbst Anfang der 90er Jahre nicht auch mit Abwehr reagiert, als Eva Corredor, eine in den USA lehrende Ungarin, in einem Interview über Lukács mir die Frage vorlegte, ob die Konstruktion der Prosa der Moderne nicht Lukács viel verdanke? Ich hätte die Bedeutung der Revolutionen von 1848 für die Ideologiegeschichte des Bürgertums, die Gegenüberstellung von Naturalismus und Ästhetizismus am Ende des 19. Jahrhunderts, schließlich die Anerkennung des Realismus als einer literarischen Bewegung der Moderne nennen können. Statt dessen bin ich damals einer konkreten Beantwortung der Frage ausgewichen. – Ich habe mir den Text des Interviews noch einmal vorgenommen. „Do you not, in many ways even in your models, follow the vision and criticism of Lukács?“ hatte die Interviewerin mich mit einer  allerdings sehr allgemein gehaltenen Formulierung gefragt. Und ich hatte darauf mit heftiger Zurückweisung geantwortet: „No, no. I do not think so. I think it is quite different.”[2] Offenbar habe ich damals das Bemühen, mich in ein Gespräch über die Zusammenhänge zwischen meinen Arbeiten und dem Denken von Lukács zu verwickeln, nur als Versuch wahrnehmen können, aus mir einen Lukács-Schüler zu machen. Dagegen habe ich mich gewehrt, so ließ ich die Chance ungenutzt verstreichen, meine Arbeiten mit dem Blick einer Lukács-Leserin zu betrachten und an ihnen etwas Verborgenes auszumachen.

Erst als ich jetzt nach 30 Jahren Geschichte und Klassenbewußtsein wieder zur Hand nahm und mir die vergilbten Notizen entgegenfielen, mußte ich mir eingestehen, daß Eva Corredors Gedanke so abwegig nicht war, wie er mir damals erschien. „Orthodoxer Marxismus“ las ich auf den ersten Seiten des in schwarzer Pappe gebundenen Amsterdamer Raubdrucks aus dem Jahre 1967, „orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen ‚Glauben’ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines ‚heiligen’ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode“.[3] Und sogleich standen mir die Anfänge der Bremer Universität vor Augen: der Verbalradikalismus von Studenten und Professoren, die Marx-Texte in der Tat wie Glaubensartikel zitierten und sich nicht im mindesten dadurch beunruhigt zeigten, daß es eine auch nur halbwegs solide Theorie des Spätkapitalismus nicht gab, die von der Arbeiterschaft als einer revolutionären Klasse redeten, als lebten wir nicht in der erstaunlich krisenfesten Gesellschaft der Bundesrepublik. Marxismus als Methode (für die Frage der Orthodoxie habe ich mich nie interessiert) – das war die Antwort, die es mir, dem sich links verstehenden, bürgerlichen Einzelgänger ermöglichte, dem gespenstischen Treiben der Scheinrevolution etwas entgegenzusetzen: das Projekt einer zu entwickelnden kritischen Literaturwissenschaft, die ihre praktischen Folgen im Sinne einer aufklärerischen Bewußtseinsbildung eher bescheiden einschätzte. Und während ich weiterlas, den alten Anstreichungen folgend, wurde mir immer deutlicher, was ich Lukács verdankte: zunächst die Einsicht in die Historizität ästhetischer Kategorien, genauer in den Zusammenhang von Gegenstandsentwicklung und Kategorienentwicklung, den das I. Kapitel der Theorie der Avantgarde im Anschluß an die Grundrisse von Marx thematisiert: Ästhetik war nicht als Theorie vom überzeitlichen Wesen der Kunst aufzufassen, sondern als geschichtlich bedingter und mithin veränderbarer Rahmen der Kunstproduktion und -rezeption, kurz als normativer Kern der Institution Kunst. Sodann den Gedanken, der mir bereits aus den Schriften Benjamins vertraut war, daß die Erforschung der Vergangenheit nur in dem Maße gelingen kann, wie die Selbstkritik der Gegenwart vollzogen ist. Dementsprechend lag für mich die herausragende Bedeutung der historischen Avantgardebewegungen vor allem darin, daß sie die Kritik der bürgerlichen Institution Kunst vollzogen hatten, von ihnen aus sich also die Entwicklung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft konstruieren ließ. Schließlich folgte aus dem Prinzip der Historizität der ästhetischen Kategorien, daß wir die Literatur der vorbürgerlichen Epochen nur dann verstehen konnten, wenn wir unsere durch die Autonomie-Ästhetik gelenkte Sicht durch eine andere korrigierten. Eine Sicht, die der Tatsache Rechnung trug, daß beispielsweise in der höfisch-feudalen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts gesellschaftliche Kategorien wie die bienséances noch als ästhetische fungieren, Kunst und Leben also noch nicht in der Weise voneinander getrennt sind wie später im Rahmen der autonomieästhetisch geregelten Institution Kunst.

Es ist nicht einfach, heute einen Eindruck davon zu vermitteln, was 1971 die Lektüre des Verdinglichungsaufsatzes von Lukács spannender machte als jeden Abenteuerroman. Einen Nachklang der Erregung, die ich damals empfand, glaube ich noch beim Wiederlesen gespürt zu haben. Unsere akademischen Lehrer der 50er Jahre hatten uns die Arbeit am Einzelproblem gelehrt, von der idealistischen Philosophie kannten wir nur Bruchstücke, deren Zusammenhang im Dunkeln blieb. Während ich mich nun langsam durch die oftmals schwerfälligen Sätze von Lukács’ Prosa hindurcharbeitete, die nichts mehr von dem verführerischen Glanz seiner vormarxistischen Schriften hatte, erschloß sich mir nach und nach die Entwicklung der idealistischen Philosophie als nachvollziehbarer Problemzusammenhang, der – das war das Entscheidende – auf einen gesellschaftlichen Zustand verwies, dessen Blockierungen noch die unserer Gesellschaft waren. Gedankenfiguren wie das Kantische „Ding an sich“ oder die Fichtesche Tathandlung des sich und die Welt setzenden Ich, die mich bisher eher befremdet hatten, wurden als konsequente und zugleich aporetische Lösung einsehbarer Problemkonstellationen deutlich. Dabei legte Lukács die Antinomien des Idealismus, die er herausarbeitete, nicht als Defizite aus, sondern als exakten, in die Sprache philosophischer Abstraktion gekleideten Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft. Das Faszinierende dieser, meine Verständnismöglichkeiten aufs Äußerste anspannenden Lektüre bestand darin, daß sie mir eben nicht nur einen theoriegeschichtlichen Problemzusammenhang einsichtig, sondern darüber hinaus die Aporien des philosophischen Gedankens als Ausdruck ungelöster gesellschaftlicher Fragen erkennbar machte. Vor allem der kurze Abschnitt über die zentrale Stellung der Ästhetik in der idealistischen Philosophie – nur in der Kunst war das Subjekt der „Tathandlung“ auffindbar – dürfte lange untergründig in mir nachgewirkt haben. Jedenfalls entsinne ich mich nicht, daß ich Anfang der 80er Jahre, als ich meine Studie Zur Kritik der idealistischen Ästhetik schrieb, nochmals zu dem schwarzen Band von Geschichte und Klassenbewußtsein gegriffen hätte. Übrigens als mein Buch wenige Jahre später erschien, war für viele Kollegen der anspielungsreiche Titel schon nicht mehr entschlüsselbar. Die Zeiten hatten sich geändert – auch in Bremen.
 

2. Verdinglichung
Ich habe die Geschichte meiner Begegnung mit dem ersten marxistischen Buch von Lukács deshalb so relativ ausführlich erzählt, weil ich vermute, daß sie sich zumindest teilweise mit der Lektüreerfahrung von Adorno deckt. Auch er dürfte Mitte der 20er Jahre das Verdinglichungskapitel beinahe als Offenbarung erfahren haben. Jedenfalls besucht er 1925 Lukács in Wien und ist zutiefst enttäuscht, daß der zum Funktionär der Kommunistischen Internationale gewandelte Philosoph sich für sein nur zwei Jahre zurückliegendes Werk nicht mehr interessiert.[4]

Mit Ausnahme von Benjamin verdankt Adorno kaum einem zeitgenössischen Denker so viel wie Lukács. „Vorerst besteht er zum guten Teil aus Lukács und mir“ charakterisiert Siegfried Kracauer den jüngeren Freund im Dezember 1921 in einem Brief an Leo Löwenthal.[5] Im Frühjahr desselben Jahres hatte der Abiturient die soeben erschienene Theorie des Romans gelesen, in der Lukács, Hegelsche Gedankenmotive aufnehmend, den Gegensatz von vormoderner und moderner Welt geschichtsphilosophisch auf den Begriff gebracht hatte. Der junge Theodor Wiesengrund, wie er damals noch hieß, dürfte in dem Buch seine eigenen Erfahrungen als begriffene wiedererkannt haben. Der Hochbegabte, Frühreife, von liebevollen Frauen Umhegte, der den gymnasialen Klassenverband als Alptraum „der wüsten Volksgemeinschaft, der Unterdrückung aller durch alle“[6] erlebt, findet in Lukács’ Theorie des Romans einen Begriff, der den täglich von Neuem erfahrenen Schrecken aufschließt: zweite Natur. Was war die Schule anderes als zweite Natur, eine geschichtlich entstandene, also auf menschliches Handeln zurückgehende Einrichtung, die wie die erste Natur dem Subjekt als Zusammenhang von Gesetzmäßigkeiten entgegentrat, sich aber gleichermaßen seinem Sinnverlangen wie seinem Handlungsbedürfnis entzog. Auch der Schrecken, der von den erstarrten Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft ausging und der dem nicht unähnlich war, den der Wilde vor der ihn überwältigenden Macht der Natur empfand, wurde von Lukács verständlich gemacht, wenn er die zweite Natur als „Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten“ bezeichnete.[7] Noch  10 Jahre später in seinem programmatischen Vortrag Die Idee der Naturgeschichte wird Adorno nicht nur Lukács’ Ausführungen über zweite Natur zitieren, sondern auch dessen spekulativen Gedanken, „nur durch den metaphysischen Akt einer Wiederentdeckung des Seelischen, das sie in ihrem früheren oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt“ (ThdR, 62), ließen sich die erstarrten Gebilde der zweiten Natur erneut zum Leben erwecken. Zwar nicht wie es zu dieser Wiedererweckung des Seelischen kommen könnte, wohl aber worum es dabei geht, davon gibt der zurecht berühmte Eingang der Theorie des Romans eine Ahnung, nämlich um die Möglichkeit eines erfüllten Lebens in lebendigen Institutionen, die Lukács zufolge „das Weltzeitalter des Epos“ gekannt hat. Man muß ihn nochmals lesen, diesen Eingang, um nachempfinden zu können, was der Frankfurter Abiturient 1921 in dem Text von Lukács fand: nicht nur eine die eigene Erfahrung aufschließende Theoriesprache, in der die Sinnlichkeit mancher Formulierungen Schellings und des frühen Hegel nachklang und die doch auf ihre Weise präzise war.

Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne […]. Dann gibt es noch keine Innerlichkeit, denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele. Indem diese auf Abenteuer ausgeht und sie besteht, ist ihr die wirkliche Qual des Suchens und die wirkliche Gefahr des Findens unbekannt: sich selbst setzt diese Seele nie aufs Spiel; sie weiß noch nicht, daß sie sich verlieren kann und denkt nie daran, daß sie sich suchen muß (ThdR, 22f.).

Noch in seiner Lukács-Polemik aus dem Jahre 1958 erkennt Adorno den Rang der Theorie des Romans fast ohne Einschränkung an, wenn er von der „nach damaligen Begriffen außerordentlichen Dichte und Intensität der Darstellung“ spricht. Und wenn er fortfährt, das Buch habe „einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward“[8], dann gesteht er ein, daß er sein eigenes Schreiben als Fortführung des von dem jungen Lukács entwickelten Essayismus begreift. Wie eigentümlich hölzern klingt dagegen der Satz, mit dem er in derselben Schrift auf die 1923 unter dem Titel Geschichte und Klassenbewußtsein veröffentlichten Studien über marxistische Dialektik eingeht. Lukács habe „als dialektischer Materialist die Kategorie der Verdinglichung erstmals auf die philosophische Problematik prinzipiell angewandt“ (NII, 152). Nichts, aber auch gar nichts scheint darin von der Faszination auf, mit der der junge Philosophie-Student das erste marxistische Buch von Lukács gelesen haben dürfte; bestand die Leistung des zurecht berühmten Verdinglichungskapitels doch darin, die Entfremdungserfahrung, die Lukács in der Theorie des Romans geschichtsphilosophisch als den Makel der Moderne ausgemacht hatte, materialistisch auf die kapitalistische Warenproduktion zurückzuführen. Um die Wirkung von Geschichte und Klassenbewußtsein in ihrer ganzen Tragweite zu ermessen, muß man sich deutlich machen, daß damals die Marxschen Frühschriften, die um die Entfremdungsproblematik kreisen, noch nicht veröffentlicht waren. Um so überzeugender mußte ein Ansatz wirken, der die Marxsche Analyse des Warenfetischismus mit Max Webers Darstellung okzidentaler Rationalität verknüpfte und daraus ein Instrumentarium zur kritischen Erfassung der Gegenwart machte. Anders als Marx, der im ersten Kapitel des Kapital den Warenfetischismus am einfachen Warentausch entwickelt, argumentiert Lukács, daß dieser ein spezifisches Problem des entfalteten Kapitalismus sei. Erst mit der Universalisierung der Warenkategorie ergreife diese die ganze Gesellschaft, dringe Verdinglichung immer tiefer ins Bewußtsein der Menschen ein. Die „Bewußtseinsprobleme der Lohnarbeit“ (GuK, 111) –  Entfremdung des Arbeiters gegenüber dem eigenen Tun, Unmöglichkeit, verändernd in die Abläufe einzugreifen, denen er unterworfen ist, Verdinglichung seiner Eigenschaften und Fähigkeiten zu veräußerbaren ‚Besitz’ – seien keinesfalls auf die Arbeiterschaft beschränkt, sie kehrten vielmehr „in der herrschenden Klasse“ (ebd.) wieder. Auch das bürgerliche Individuum fand sich in einer Welt verfestigter Einrichtungen vor, auf die es keinen Einfluß hatte, war gezwungen, sich unterschiedlichen Kontexten anzupassen und die eigenen Fähigkeiten wie Waren anzubieten und zu veräußern, erfuhr sich daher um so stärker als isoliertes Einzelwesen, je unerbittlicher die Warenkategorien alle Bereiche der Gesellschaft erfaßte und zur Totalität eines Funktionszusammenhangs zusammenschloß.

Die Bedeutung, die die Lektüre von Geschichte und Klassenbewußtsein für den jungen Adorno gehabt hat, läßt sich kaum überschätzen. Zum einen erhellte sie das eigene Leiden an der Gesellschaft, das erst viel später in den Minima Moralia zur Sprache kommen wird, machte es in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit durchschaubar; dadurch verlor es seine idiosynkratische Stummheit und verwandelte sich in eine Erfahrung, die etwas über den Zustand der Gesellschaft aussagte. Zum andern eröffnete das Buch dem jungen Philosophen neue theoretische Horizonte. Es bot eine Sicht auf die idealistische Philosophie, die deren Denkmotive als in sich konsequent entwickelte, aber letztlich aporetische, weil rein gedankliche Antwort auf das Problem der Verdinglichung erkennbar machte. Daß Lukács selbst eine Art materialistische Überbietung der idealistischen Philosophie entwarf, wenn er das Proletariat zum Subjekt-Objekt der revolutionären Tathandlung machte, minderte die erhellende Kraft seiner Zusammenschau nicht, die sich vielmehr der Wahl eines perspektivischen Blicks aus der Zukunft verdankte. Adorno brauchte also keineswegs das (übrigens auch von Lukács bald aufgegebene) Vertrauen auf die Spontaneität des Proletariats und die damit verbundenen Revolutionshoffnungen zu teilen, um aus dessen materialistischer Kritik des Idealismus Gewinn zu ziehen. Er wird sich ihrer noch bei der Konzeption der Negativen Dialektik entsinnen.

Zunächst aber dürfte ein anderer Aspekt des Verdinglichungs-Aufsatzes seine Aufmerksamkeit erregt haben: daß mit der Ware eine ökonomische Kategorie benannt war, die zugleich die Subjekte und ihr Bewußtsein prägte, mit andern Worten: daß hier eine materialistische Ideologietheorie vorlag. Als Adorno dann in den 30er Jahren seine ersten großen kulturtheoretischen Essays schreibt, das Wagner-Buch und den Aufsatz Über den Fetischcharakter in der Musik, mit dem er auf Benjamins Kunstwerk-Aufsatz antwortet, greift er auf den Verdinglichungsgedanken zurück. Die These des Aufsatzes von der affektiven Besetzung des Tauschwerts – „recht eigentlich betet der Konsument das Geld an, das er selber für die Karte zum Toscaninikonzert ausgegeben hat“[9] –  sucht das Motiv der Verdinglichung bis in die Erlebnisformen hinein zu verfolgen. Hatte Benjamin die zerstreute Wahrnehmung des Kinobesuchers als anti-auratische Rezeptionsweise aufwerten wollen, die dem technischen Medium angemessen sei, antwortet Adorno darauf, daß der zerstreute Rezipient zur Auffassung eines Werk-Ganzen unfähig sei, und greift damit auf  Lukács’ Ansatz zurück, dem die Unfähigkeit zur Erfassung einer Totalität als Merkmal verdinglichten Bewußtseins galt. Auch in seinen brieflichen Auseinandersetzungen über Benjamins Passagen-Projekt arbeitet Adorno mit den Begriffen von Lukács. An einer Stelle bemängelt er, daß Benjamin den „Hegelschen, von Georg [Lukács] und seitdem aufgenommenen und sehr wichtigen Begriff der zweiten Natur“ nicht zur Anwendung gebracht habe.[10] An einer andern erinnert er daran, daß „die ‚Einheit’ der Moderne […] im Warencharakter lieg[e]“ (ÜWB, 117). Und gegen Benjamins Verfahren, Inhalte von Baudelaires Gedichten mit Fakten aus der Sozialgeschichte zu konfrontieren, argumentiert er mit Lukács’ Begriff der gesellschaftlichen Totalität: „Die materialistische Determination kultureller Charaktere ist möglich nur vermittelt durch den Gesamtprozeß“ (ÜWB, 139).

Es mag verwegen scheinen, auch in der Dialektik der Aufklärung, in die so viele unterschiedliche Theorietraditionen einmünden, Max Webers Darstellung abendländischer Rationalität ebenso wie die radikale Vernunftkritik Nietzsches, Spuren der Lektüre von Geschichte und Klassenbewußtsein finden zu wollen. Doch wenn Horkheimer und Adorno von der Aufklärung sagen: „ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt“,[11] so mögen sie sich daran erinnert haben, daß es bei Lukács heißt: „Es entsteht so aus dem Rationalismus als Universalmethode notwendig die Forderung des Systems“ (GuK, 129). Bedeutsamer ist der Gegensatz zwischen der zunehmenden Rationalität aller einzelnen Operationen der Berechnung und Ausbeutung der Natur und der Irrationalität des gesellschaftlichen Ganzen, der beide Bücher verbindet. Vor allem aber der Gedanke, daß die Gesetzmäßigkeiten der modernen Gesellschaft den Subjekten mit derselben Unerbittlichkeit entgegentreten wie einst die Naturmächte, dürfte die Autoren der Dialektik der Aufklärung darin bestärkt haben, dem nachzugehen, was sie in die Formel fassen: „Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (DdA, 10). Der verschachtelte Satz schließlich, in dem Lukács die rationalistischen Formsysteme charakterisiert, liest sich beinahe wie eine erste Formulierung der These der Dialektik der Aufklärung:

Der Widerstreit zwischen ihrem Wesen als von „uns“ „erzeugten“ Systemen und zwischen ihrer menschenfremden und menschenfernen fatalistischen Notwendigkeit ist nichts anderes als die logisch-methodologische Formulierung des modernen Gesellschaftszustandes: eines Zustandes, in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß „naturwüchsigen“, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, „selbsterzeugten“ Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte […] getan haben (GuK, 141f.).

Die Einsatzstelle für das Denken der Frankfurter ist hier unschwer zu erkennen. Sie knüpfen an den von Lukács angedeuteten Parallelismus zwischen erster und zweiter Natur an und entwickeln von daher die Kritik der „Antinomien des bürgerlichen Denkens“; deren Lösung freilich durch die revolutionäre Tathandlung des Proletariats können sie aufgrund neuer geschichtlicher Erfahrungen nicht mehr nachvollziehen.

Als Adorno seine Aphorismensammlung Minima Moralia zum Abschluß bringt, hat er wieder Geschichte und Klassenbewußtsein auf seinem Schreibtisch liegen. Um das Schicksal des Individuums unter der Herrschaft der Warenform anschaulich zu machen, zitiert er eine Stelle aus dem Verdinglichungs-Aufsatz und fährt dann fort: „Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht, zur Equipierung. Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt in den Dienst“ (MM, 309). Freilich vermeidet er es, Lukács zu nennen, er spricht statt dessen nur von „einem Dialektiker.“ Man wird das aus der politischen Situation der Zeit verstehen müssen. Als 1951 die Minima Moralia mitten im Kalten Krieg erscheinen, wäre die Bezugnahme auf Lukács vermutlich einer Selbstdenunziation gleichgekommen, denn dieser galt damals im Westen als Stalinist, während er in Ungarn bereits als „Rechtsabweichler“ bekämpft wurde.

Ein anderer Aphorismus der Minima Moralia beginnt mit dem Satz: „Die metaphysischen Kategorien sind nicht bloß die verdeckende Ideologie des gesellschaftlichen Systems, sondern drücken jeweils zugleich dessen Wesen aus“ (MM, 311). Hier hat er einen Satz von Lukács in seine Sprache übersetzt. Bei Lukács hieß es: „Die ideologischen Momente ‚verdecken’ nicht bloß die wirtschaftlichen Interessen, sind nicht bloß Fahnen und Kampfeslosungen, sondern Teile und Elemente des wirklichen Kampfes selbst“ (GuK, 70f.).

Der vorletzte Aphorismus der Sammlung schließlich – er handelt von der Dialektik – ist eine verdeckte Auseinandersetzung mit Lukács. Gleich in der ersten seiner Studien hatte dieser der Überzeugung Ausdruck verliehen, „daß im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann“ (GuK, 13). Den Hinweis auf „die Begründer“ ironisch aufnehmend, erinnert Adorno daran, daß die Dialektik als Verfahren, „stets und mit Erfolg den Spieß umzudrehen“, in der Sophistik entstanden ist und fährt fort: „ Ihre Wahrheit oder Unwahrheit steht daher nicht bei der Methode als solcher, sondern bei ihrer Intention im historischen Prozeß“ (MM, 330). Anders als bei Lukács, der mit Hegel annimmt, daß in der dialektischen Negation der Negation tatsächlich ein qualitativer Sprung eintritt und das Neue sich zeigt, sieht Adorno aufgrund der seit dem Erscheinen von Geschichte und Klassenbewußtsein gemachten historischen Erfahrungen in der Negation der Negation „die alte Qualität roh wieder zutage[kommen]“ [MM, 331]. Damit kündigt er das Vertrauen auf den dialektischen Fortschritt in der Geschichte und zugleich das in die Dialektik als Methode. „Weil die dialektische Bestimmung der neuen Qualität jeweils auf die Gewalt der objektiven Tendenz sich verwiesen sieht, die den Bann der Herrschaft tradiert, steht sie unter dem fast unausweichlichen Zwang, wann immer sie mit der Arbeit des Begriffs die Negation der Negation erreicht, auch im Gedanken das schlechte Alte fürs nichtexistente Andere zu unterschieben“ (MM, 331). Die Hoffnung, daß es anders sein, daß zumindest der Denkende dem Andern seine Andersheit belassen könnte, zieht sich in dem Wörtchen fast zusammen. Wie eine Dialektik aussehen könnte, die nicht der Selbsttäuschung verfällt, sie wäre das „Wissen vom Ganzen“, führt Adorno vor, indem er Hegels Kritik der bloßen Subjektivität als Schein noch einmal in ein Moment der Wahrheit und eines der Unwahrheit zerlegt. Freilich auch dagegen hat der Text den Verdacht, der dialektische Gedanke kehre damit zu der schlechten Auffassung zurück, „daß jedes Ding seine zwei Seiten hat“ (MM, 333). Erst später wird Adorno den Gedanken einer negativen Dialektik formulieren, die sich den Schritt zur Synthese versagt.
 

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Wenn ich auf das Geschriebene zurückblicke, will es mir scheinen, daß ich Adorno viel zu nahe an Lukács herangerückt habe, daß der Wunsch, die verschütteten Spuren aufzudecken, mich dazu verleitet hat, die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Denkern überdeutlich herauszuheben, und daß ich dabei die Differenzen vernachlässigt habe. Diese liegen oft in der Nuance. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich Adorno den Verdinglichungsgedanken in der Form aneignet, die Lukács ihm gegeben hat, nämlich als eine Kategorie, die die Gesellschaft des entwickelten Kapitalismus als ganze durchschaubar macht. In der Weise allerdings, wie er den Begriff des Fetischismus einsetzt, weicht er vom Marx’schen Gebrauch ab, an den Lukács sich hält. Bei Marx ist der Fetisch eine Metapher, die die aus dem Warentausch entspringende Täuschung bezeichnet: Die Warenproduzenten sehen die Beziehungen, in die sie miteinander treten, wenn sie ihre Produkte austauschen, als Beziehungen von Dingen an. Diesen dinglichen Schein nennt Marx Fetischismus. Wenn nun Adorno davon spricht, der Konzertbesucher bete das Geld förmlich an, das er für das Toscanini-Konzert ausgegeben habe, dann nähert er den Terminus Fetisch seiner ursprünglichen Bedeutung an. Die Metapher wird ihm zu einer Beschreibungskategorie, die nicht mehr ein hinter dem Rücken der Individuen sich vollziehendes und diese bestimmendes Geschehen meint, sondern das, was die Individuen tatsächlich tun. Diese genießen nicht etwa die Musik, sondern den Preis, den sie für das Konzert bezahlt haben. Nun ist eine vergleichbare Begriffsverschiebung in Lukács’ Text zumindest angelegt. Wenn er davon spricht, der Journalist werde zum „Verkäufer seiner objektivierten und versachlichten geistigen Fähigkeiten“ (GuK, 111) – Adorno wird die Stelle in seinen Minima Moralia zitieren – , dann nähert er seinerseits den Verdinglichungsbegriff einer Beschreibungskategorie an. Aufs Ganze gesehen dominiert bei ihm jedoch ein theoretischer Gebrauch des Begriffs. Adorno dagegen knüpft an das von Kracauer und Benjamin auf unterschiedliche Weise entwickelte Verfahren einer philosophischen Auslegung des Einzelphänomens an und situiert früh sein Denken zwischen dem systematischen, auf die Totalität der Gesellschaft ausgerichteten Theorie von Lukács und dem Benjaminschen Verfahren, in der Konstellation von Phänomenen das gesellschaftliche Ganze aufscheinen zu lassen. Die Schwierigkeit, beide Ansätze zusammenzuführen, ist bei Adorno immer dann zu spüren, wenn er die eine Herangehensweise gegen die andere ausspielt. Nicht nur kritisiert er Benjamin mit Argumenten von Lukàcs; er hält auch letzterem vor, das einzelne Kunstwerk mitsamt seinen immanenten Problemen zu verfehlen. Das Vertrauen darauf, daß es möglich sein müßte, beide Ansätze doch in einer Gedankenbewegung zu vereinen, dürfte Adorno freilich einem Satz aus Geschichte und Klassenbewußtsein verdanken, in dem es heißt: „Das Wesen der dialektischen Methode besteht […] darin, daß in jedem dialektisch richtig erfaßten Moment die ganze Totalität enthalten, daß aus jedem Moment die ganze Methode zu entwickeln ist“ (GuK, 186).
 

3. Essay
Vor mir liegen der „Brief an Leo Popper“ Über Wesen und Form des Essays, mit dem der junge Lukács seine erste deutschsprachige Buchpublikation, den Essayband Die Seele und die Formen, von 1911 einleitet, und Adornos Der Essay als Form, mit dem dieser 1958 seine Noten zur Literatur eröffnet. Anders als im Fall von Geschichte und Klassenbewußtsein hat Adorno hier den Bezug auf den Vorgänger durch mehrere Verweise deutlich angezeigt. Freilich meint er Lukács’ Rede vom Essay als Kunstform zurückweisen zu müssen, obwohl dieser nachdrücklich betont hatte, er führe die Bezeichnung nur ein, um den Essay „so scharf wie überhaupt möglich [von der Dichtung] zu isolieren“,[12] ein Gegensatz in der Sache zwischen beiden Autoren also diesbezüglich gar nicht vorliegt.

„Der Essay spricht immer von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem; es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus dem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet“ (SuF, 20). Adorno hat den zentralen Gedanken von Lukács in einer Anmerkung zitiert. An der Weise, wie sie ihn durchführen, zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Konzeption des Essays. Lukács erläutert den Satz, indem er die Form des Essays in der Welthaltung des Essayisten gründet, den er auch als Kritiker oder Platoniker bezeichnet: „Der Kritiker ist der, der das Schicksalhafte in den Formen erblickt […]. Die Form ist sein großes Erlebnis, sie ist als unmittelbare Wirklichkeit das Bildhafte, das wirklich Lebendige in seinen Schriften“ (SuF, 16). Diese glasklaren Sätze sind nicht leicht zu verstehen, weil Lukács das Wort Schicksal hier zur Charakteristik einer Lebensform verwendet, die gerade dadurch charakterisiert ist, daß sie nichts Schicksalhaftes hat: „Der Platoniker ist der Mensch ohne Schicksal, der Mensch, mit dem nichts geschieht; seine Form ist der Essay“, schreibt er am 25. April 1909 an Leo Popper. Die Problematik, die dem Essay mithin zugrunde liegt, wäre eine, die uns aus den frühen Schriften von Hofmannsthal bekannt ist: Das Leben wird als etwas erfahren, an dem man nicht teilhat; der Essayist sieht sich daher auf die Reflexion über das Leben verwiesen. Aber nicht nur deshalb wendet er sich dem bereits Geformten zu. Wenn Lukács von Form spricht, meint er keineswegs nur künstlerische Form, sondern ein letztlich ethisches Prinzip, das der chaotischen Mannigfaltigkeit des Lebens entgegengesetzt werden muß. „Die Form ist die höchste Richterin des Lebens“, heißt es in dem Aufsatz Metaphysik der Tragödie (SuF, 248). Mit dem Form-Begriff zielt der junge Lukács auf die Möglichkeit eines radikalen Eingriffs ins Leben, er nimmt in den Essays die Stelle ein, die in Geschichte und Klassenbewußtsein die Fichtesche Tathandlung einnehmen wird. In beiden Fällen geht es darum, das Bestehende aus der Routine herauszureißen und ihm den Stempel einer geistigen Entscheidung aufzuprägen.

Der Lukácssche Text verdankt seine eigentümliche Intensität der Tatsache, daß der Autor sich nicht darauf beschränkt, formale Merkmale des Essays zusammenzutragen, sondern die Charakterisierung des Essays mit den Gehalten seines eigenen Denkens auflädt. Eben hierin wird Adorno ihm folgen und sich gerade deshalb von den Ausführungen von Lukács sehr weit entfernen. Auch Adorno verortet den Essay zwischen Wissenschaft und Kunst, auch er begreift ihn als eine Gattung, die von bereits Geformtem ausgeht. Aber anders als Lukács geht es ihn nicht darum, die Form in einer bestimmten Welthaltung zu fundieren; vielmehr nutzt er das Thema, um sein eigenes Denken zugleich zu charakterisieren und im Text selbst vorzuführen. Sich voneinander ausschließenden Gegensätzen abstoßend, sucht Adorno einen Denkraum des Zwischen zu erschließen, der mit der Wissenschaft die Begrifflichkeit, mit der Kunst die Arbeit an der Form der Darstellung teilt. Der Gedanke, daß sich der Essay an Geformtem abarbeitet, drängt ihn dazu, sich gleichermaßen von Heideggers Anspruch eines ursprünglichen Denkens wie von dessen Anlehnung an dichterische Sprache abzusetzen. Hatte Lukács den Essayisten als Vorläufer bestimmt, der vorausdeutet auf das „große, erlösende System“, und damit den Essay in der Sehnsucht fundiert – „das Da-Sein der Sehnsucht […] entlarvt alles scheinbar Positive und Unmittelbare“ (SuF, 29) -, erklärt Adorno, dem antisystematischen Zug seines Denkens folgend, der Essay ziehe „die volle Konsequenz aus der Kritik am System“.[13] Beide geben sich nicht damit zufrieden, den Essay formal vom Gegensatz zum philosophischen System her zu bestimmten, sondern geben diesem Gegensatz die besonderen Konturen ihres Denkens, wodurch sie zu unterschiedlichen Resultaten gelangen.

Der Lukácssche Essayist ist das problematische bürgerliche Individuum, das an der allgemeinen Orientierungslosigkeit seiner Zeit leidet und entschlossen ist, diese um jeden Preis zu überwinden (das unterscheidet ihn von den Angehörigen der Generation des Fin de siècle). Dadurch erhält Lukács’ Schreiben eine Ausrichtung auf die Zukunft, der er in der Revolutionserwartung von Geschichte und Klassenbewußtsein dann einen konkreten Inhalt zu geben versucht. In beiden Fällen gewinnen die Texte aus dieser Perspektive ihre Kraft, und zwar unabhängig davon, ob der Leser die Sicht des Autors teilt oder nicht. Was sich ihm mitteilt, ist der Schreibgestus, der auf etwas in der Zukunft Liegendes hindrängt. Aus mehreren Gründen konnte Adorno an diesen Gestus nicht mehr anknüpfen, an den des Lukácsschen Essays nicht, weil er ein gebrochenes Verhältnis zum philosophischen System hat; an die revolutionäre Perspektive von Geschichte und Klassenbewußtsein nicht, weil er sie wohl zu keiner Zeit geteilt hat. So wird bei ihm der Essay zu der a-systematischen Denkform schlechthin, deren Umrisse er aus der Negation der Regeln von Descartes’ Discours de la méthode gewinnt (N I, 30ff.). Das Konstruktionsprinzip, das nicht wenigen seiner Essays zugrunde liegt, bleibt dabei freilich ungenannt: die dialektische Verkehrung. Gerade der „abgebrauchte Bilderschatz“, heißt es im Eichendorff-Aufsatz, entfalte hier noch einmal „die außerordentlichsten Wirkungen“ (N I, 123). Das Problem der dialektischen Volte liegt in ihrer Unabhängigkeit vom gedanklichen Material, an dem sie vollzogen wird. Es ist, als würde Adorno seinem eigenen Prinzip untreu, sich auf das einzelne Gebilde einzulassen, und vertraute nun doch der Methode der Dialektik, die er in den Minima Moralia als passe-partout kritisiert hat. Der Essayist Adorno weiß eben mehr, als der Theoretiker Adorno ihm zugesteht. Gerade weil seine Essays Modell-Charakter haben, kann man an sie heute nicht ohne weiteres anknüpfen.

Auch der Gestus der Lukácsschen Essays läßt sich tel quel nicht wieder aufnehmen, aber vielleicht läßt er sich umbilden zu einem für seine Resultate tatsächlich offenen Schreiben. Nicht ein wie auch immer geartetes Wissen läge diesem Schreiben zugrunde, sondern das Verlangen danach, schreibend eine Erkenntnis hervorzubringen. Sein Ausgangspunkt wäre denn auch nicht eine klar formulierte Problemstellung (obwohl auch das nicht grundsätzlich auszuschließen ist), sondern eher eine Irritation. Freilich ein solches Schreiben muß sein eigenes Mißlingen stets mit einkalkulieren. Die Chance, schreibend einen Gedanken hervorzubringen, eröffnet sich nur dem, der bereit ist, das Risiko des Leerlaufs einzugehen.
 

4. Zweite Ethik
Auf Lukács’ Abrechnung mit der künstlerischen Moderne hat Adorno polemisch reagiert: „Am krassesten wohl manifestierte sich in dem Buch ‚Die Zerstörung der Vernunft’ die von Lukács’ eigener“ (N II, 153). Lukács hat darauf geantwortet, indem er ein zunächst auf Schopenhauer gemünztes Wort aus eben jenem Buch nun auf Adorno bezieht: dieser habe das „Grand Hotel Abgrund“ bezogen, ein „schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, [könne] die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen“ (ThdR, 17; Vorwort von 1962).

Die Heftigkeit von Adornos Polemik ist auf den ersten Blick schwer verständlich. Daß ihn Lukács’ Rede vom „dekadenten Avantgardeismus“ persönlich getroffen haben könnte, ist wenig wahrscheinlich. Eher dürften Lukács’ Argumente gegen den Subjektivismus der ästhetischen Moderne für ihn eine Herausforderung dargestellt haben. Auf den letzten Seiten der Ästhetischen Theorie kommt er darauf zu sprechen; freilich auch diesmal ohne den Namen von Lukács zu nennen.

Ein Argument des Diamat ermangelt prima vista nicht der Überzeugungskraft. Der Standpunkt der radikalen Moderne sei der des Solipsismus, einer Monade, die der Intersubjektivität borniert sich versperre. Verdinglichte Arbeitsteilung laufe Amok. Das spotte der Humanität, die zu verwirklichen wäre. Der Solipsismus selbst indessen sei, wie die materialistische Kritik und längst vor ihr die große Philosophie demonstriert habe, illusionär, die Verblendung der Unmittelbarkeit des Für sich, das ideologisch die eigenen Vermittlungen nicht Wort haben wolle.[14]

Lukács hatte Hegels Kritik des romantischen Subjektivismus auf die Moderne übertragen. Wie dieser der romantischen Ironie vorhält, sie vernichte alles Objektive und für sich Geltende, so kritisiert Lukács an der modernen Literatur „das Leugnen einer jeden Vernünftigkeit im Dasein“.[15] Und wie Hegel der Romantik vorwirft, sie lasse allen Sachgehalt in der abstrakten Freiheit des Ich untergehen, so verwirft Lukács die ästhetische Moderne als solipsistisch: Das in sich verstockte Subjekt, das den Bezug aufs Allgemeine verloren hat, werde zur Flucht ins Pathologische gedrängt. Zwar vermag Lukács darin durchaus ein Moment des Protests zu erkennen, dieser bleibe aber „abstrakt und leer, verurteil[e] die Wirklichkeit, aus der geflohen wird, rein summarisch und allgemein“ (WmR, 28).

Wenn Adorno Lukács’ Moderne-Kritik widerlegen will, dann muß er Argumente dafür beibringen, daß die Subjektivität des modernen Künstlers, wie gebrochen auch immer, auf die Objektivität des gesellschaftlichen Prozesses bezogen ist und die Werke der Moderne daher wahrheitsfähig sind. Aber weder der für einen Dialektiker eher problematische Hinweis auf „die Unmittelbarkeit der Erfahrung“ (ÄT, 384) noch der auf das Leiden des Subjekts an der Gesellschaft sind als Gegenargumente stichhaltig. Denn Lukács hatte ja gar nicht geleugnet, daß der moderne Künstler an der Realität der kapitalistischen Gesellschaft leidet, sondern nur behauptet, daß vom Standpunkt des vereinzelten Subjekts aus die Gesellschaft nicht konkret in den Blick genommen werden könne und daher der Wahrheitsgehalt moderner Werke abstrakt bleibe. Nun gibt es bei Adorno sehr wohl ein Argument, das auf das von Lukács aufgeworfene Problem antwortet; es klingt hier freilich nur an: „Vermöge ihrer Form transzendiert sie [die Kunst] das bloße und befangene Subjekt“ (ÄT, 386). Dahinter steht Adornos Theorie des künstlerischen Materials, das, durch und durch gesellschaftlich geprägt, dem Künstler als ein gleichsam objektivierter Bestand von Formen und Verfahrensweisen entgegentritt. Wenn im künstlerischen Material die gesellschaftliche Entwicklung abgelagert ist, dann allerdings vermag der monadisch gegen die Gesellschaft sich verschließende Künstler, der sich ganz auf die immanenten Probleme konzentriert, die das Material ihm aufgibt, den Solipsismus zu durchbrechen und seinen Werken objektiven Wahrheitsgehalt zu verleihen. Die Schlüssigkeit der Adornoschen Theorie wird erst erkennbar, wenn man sie als Antwort auf die Moderne-Kritik von Lukács begreift.

Rätselhaft bleibt freilich, warum Adorno immer wieder der Versuchung erliegt, den Namen von Lukács zu unterdrücken. Der Hinweis auf die Situation des Kalten Kriegs, den ich oben angeführt habe, reicht als Erklärungsgrund sicherlich nicht aus. Hat Adorno vielleicht eine Ahnung davon gehabt, wie sehr sein eigenes Denken sich im Nachvollzug und in der Abgrenzung von Lukács bewegt, und hat er diese doppelte Nähe gescheut? Oder hat er sich über die eigentümliche Stellung seines Denkens zwischen Benjamin und Lukács vielleicht nie Rechenschaft abgelegt? Denn er argumentiert keineswegs nur mit Lukács und dessen Totalitäts-Begriff gegen Benjamin, sondern durchaus auch mit Benjamin gegen Lukács. „Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen“, mit diesen Sätzen beginnt Adornos Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie aus dem Jahre 1931.[16] Auch hier fällt der Name von Lukács nicht.

Vielleicht muß man, um die eigentümliche Verweigerung der Nähe zu einem der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu verstehen, die Perspektive wechseln und nicht nur auf Adorno blicken, sondern vor allem auf Lukács. Dieser hat in einer seltenen Reinheit den Typus des Denkers verwirklicht, der mit seiner ganzen Person für sein Denken einsteht. Das reicht vom Verzicht auf die großbürgerlichen Lebensumstände des einstigen Heidelberger Privatgelehrten – Else Ernst, die Frau des Lukács-Freundes Paul Ernst, berichtet davon in ihren Aufzeichnungen über eine letzte Begegnung mit Lukács in Wien Anfang der 20er Jahre – bis zu der Bereitschaft, um der als richtig erkannten Sache wegen Schuld auf sich zu laden. Schon bei dem jungen Essayisten spürt man, daß er, wenn er von der Schuld des tragischen Helden spricht, nicht eine literaturwissenschaftliche, sondern existentielle Frage behandelt und dabei bereits an die Schuld denkt, in die er sich verstricken könnte. 10 Jahre später, im Augenblick des Übertritts zum Kommunismus wird er dann das Konzept der Zweiten Ethik entwickeln, das er wiederholt an einem Satz von Hebbels Judith erläutert hat: „Und wenn Gott zwischen mich und die mir auferlegte Tat die Sünde gesetzt hätte – wer bin ich, daß ich mich dieser entziehen könnte?“[17] Zwar bezieht sich Lukács auf die Romane, die der russische Terrorist Boris Sawinkow unter dem Namen Ropschin veröffentlicht hat, aber dahinter wird die Beschäftigung mit Kierkegaards Darstellung des alttestamentarischen Abraham erkennbar. Gibt es, fragt er, eine Rechtfertigung für eine Tat, die, nach den Gesetzen der Ethik beurteilt, Mord ist? Wenn Agamemnon seine Tochter opfert, schreibt Kierkegaard, dann bewegt er sich im Rahmen der Ethik. Die Pflicht des Vaters gegenüber dem eigenen Kind wird außer Kraft gesetzt durch ein (vorgeblich) höheres Allgemeines, das große Unternehmen der Griechen gegen Troja, dessen Gelingen vom Wohlwollen der Götter abhängig ist. Aber wie verhält es sich, wenn die Tat durch kein Allgemeines mehr gedeckt ist? Wie Abraham handelt der Terrorist als einzelner. Damit läßt er die Ethik, den Raum allgemein geltender Prinzipien hinter sich. Abraham findet die Rechtfertigung für das Opfer Isaaks im Paradoxon des Glaubens, das dem menschlichen Verstand nicht zugänglich ist. Der Terrorist, der zum Mörder wird, so Lukács, opfert sich selbst als ethische Person auf. Eben darin liegt seine Rechtfertigung. Die zweite Ethik des Selbstopfers setzt die erste außer Kraft. Durch das Christentum ist die archaische Logik des Opfers in die moderne Welt hineingelangt, wo sie ihre Kraft zieht gerade aus der Mißachtung der Prinzipien des Allgemeinen. Zwar sollte das Selbstopfer des Gottessohns das Ende aller Opfer bedeuten, aber seine Wirkung dürfte letztlich darin bestanden haben, den Opfergedanken erneut zu stärken. Im 20. Jahrhundert hat er noch einmal die radikalsten Denker umgetrieben, Heidegger und Bataille ebenso wie Lukács. Wenn es stimmt, was György Dalos von Lukács behauptet (daß er als Kommissar der ungarischen Revolutionsregierung im Jahre 1919 an der Front bei Szolnok Deserteure erschießen ließ),[18] dann wird man sagen können, daß er die zweite Ethik nicht nur gedacht, sondern auch gelebt hat.

Adorno dürfte früh das Opfer verworfen haben als Mittel, um die Aporien der Moderne zu lösen. Das weitgehend auf ihn zurückgehende Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung ist diesbezüglich aufschlußreich. Anders als Klages oder Bataille, die, auf der Suche nach dem ursprünglichen Sinn des Opfers, das Verschmelzen des Opfernden mit dem Opfer betonen, geht Adorno den Spuren der Rationalität im Opfer nach und sieht in ihm Tausch und listigen Betrug am Werk. Das Selbstopfer, in dem die Identität des Opfernden mit dem Opfer unmittelbar gegeben ist, blendet er aus. Während Klages und Bataille mit der Erneuerung des Opfers die Hoffnung auf eine Überwindung der rationalistischen Moderne verbinden, weist Adorno das Opfer eindeutig der Vorzeit zu. Zwar formuliert er: „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung“ (DdA, 71), aber er läßt doch keinen Zweifel daran, daß mit dem „Opfer des Augenblicks an die Zukunft“ (DdA, 66), das das identische Ich immer von neuem zu bringen hat, zugleich die Institution des Opfers überwunden ist. –

Könnte es nicht sein, daß die Ambivalenz, die Adornos Verhältnis zu Lukács prägt – Nähe zu dem Theoretiker des entwickelten Kapitalismus bei gleichzeitiger Abwehrhaltung gegenüber dem Politiker – auch daher rührt, daß ihm die Konsequenz, mit der dieser sein Denken gelebt hat, zutiefst fremd ist? Die Faszination, die von dem Werk und der Person Lukács’ ausging und noch ausgeht und die sich dem existentiellen Denkgestus seiner frühen Texte ebenso verdankt wie der Entschiedenheit, mit der der Großbürgersohn zum Kommunismus übergeht, diese Faszination ist nicht abtrennbar von der Auflehnung gegen das Übermaß an Selbstgewißheit, das Denken und Handeln zur Einheit zusammenschließt. Lukács hat ein Bild des engagierten Intellektuellen aufgerichtet, das anziehend und abstoßend zugleich war. Anziehend war die Kompromißlosigkeit des Gedankens; abstoßend die sich daraus ergebenden Konsequenzen, von denen mancher begreiflicherweise zurückschreckte.

 
[1] Zuerst in gekürzter Form erschienen in: Neue Rundschau 2003, Heft 3, 163-173.

[2] Eva L. Corredor, Lukács after Communism. Interviews with Contemporary Intellectuals. Durham/London: Duke University Press 1997, 50f.

[3] G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik [1923]. Amsterdam: de Munter 1967, 13; diese Ausgabe wird im folgenden zitiert: GuK.

[4] Vgl. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule […]. München: Hanser 1986, 97f.

[5] Vgl. ebd., 82.

[6] Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Bibl. Suhrkamp, 236). Frankfurt 1969, 255; im folgenden zitiert: MM.

[7] G. Lukács, Die Theorie des Romans […]. 3Neuwied/Berlin: Luchterhand 1965, 62; im folgenden zitiert: ThdR.

[8] Th. W. Adorno, Erpreßte Versöhnung, in: ders., Noten zur Literatur II (Bibl. Suhrkamp, 71). Frankfurt 1963, 152; im folgenden zitiert: NII.

[9] Th. W. Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, in: ders. Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 41969, 19.

[10] Th. W. Adorno, Über Walter Benjamin (Bibl. Suhrkamp, 260) Frankfurt 1970, 119; im folgenden  zitiert: ÜWB.

[11] Max Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: Querido 1955, 17; im folgenden zitiert: DdA.

[12] G. Lukács, Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper, in: ders., Die Seele und die Formen (Sammlung Luchterhand, 21). Neuwied/Berlin 1971, 8; im folgenden zitiert: SuF.

[13] Th. W. Adorno, Der Essay als Form, in: ders., Noten zur Literatur I (Bibl. Suhrkamp, 47). Frankfurt 1963, 21; im folgenden zitiert: N I.

[14] Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Gretel Adorno / R. Tiedemann (Ges. Schriften, 7). Frankfurt: Suhrkamp 1970, 384; im folgenden  zitiert: ÄT.

[15] G. Lukács, Wider den mißverstandenen Realismus. Hamburg: Claassen 1958, 30;  zitiert: WmR.

[16] Th. W. Adorno, Philosophische Frühschriften (Ges. Schriften, 1). Frankfurt: Suhrkamp 1973, 325.

[17] Zit. n. G. Lukács, Ethik und Taktik [1919], in: ders., Ethik und Taktik […], hrsg. v. J. Kammler / F. Benseler (Sammlung Luchterhand, 39), Darmstadt / Neuwied 1975, 53.

[18] G. Dalos, Der Versteckspieler. Gesellschaftsroman aus dem Ungarischen von G. Dalos / Elsbeth Zylla. Frankfurt: Insel 1994, 110.