László Radványi

Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie[1]

 

Die marxistische Theorie und Bewegung durchleben in der Gegenwart eine starke Krise. Sie ist den meisten Marxisten überhaupt noch nicht bewusst geworden, sodass ihr Dasein gar nicht anerkennen. Doch ist sie da, und wenn sie den meisten Marxisten auch nicht bewusst ist, stellt sie doch das allerdringendste Problem des gegenwärtigen Marxismus dar, umso mehr, als die Folgen dieser Krise in der marxistischen Praxis äußerst tiefgehend sind, und den, der das Wesen dieser Krise einmal erkannte, als in jedem Moment dieser Praxis latent oder unmittelbar mitbestimmend erscheinen.

Diese Krise des Marxismus betrifft das Verhältnis der ökonomischen zur geistigen Sphäre, der wirtschaftlichen Wirklichkeit zur Ideologie. Die Theorie von Marx ergab die Grundeinsichten, die die Klärung und Lösung dieser Problematik ermöglichen, doch sie gab nicht die detaillierte Konkretisierung dieser Einsicht, die Anwendung der Grunderkenntnisse auf die einzelnen Sphären der kapitalistischen Kultur, der bürgerlichen Ideologie. Und die Marx-Epigonen haben den durch ihren Meister eröffneten Weg zur Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen den ökonomischen und ideologischen Sphären überhaupt versperrt. Entweder indem sie die Hegelschen Grundelemente des Marxismus aus dieser eliminierten und sie durch Kantsche Gedankengänge zu ersetzen suchten, wodurch natürlich das originäre System des Marxismus seine eigentlichen Grundlagen verlor, und dadurch auch der Fähigkeit verlustig ging, die Struktur der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und somit auch der gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Sphären dieser Gesellschaftsordnung zu verstehen. Oder aber sie deuteten die Marxsche Ideologienlehre im Sinne eines plumpen naturwissenschaftlichen Materialismus, indem sie jegliche Geistigkeit als bloße Funktion, als bloßes Produkt der ökonomischen Tatsächlichkeit auffassten, gleichsam als wie wenn die geistigen, ideologischen Sphären sich aus der jeweiligen ökonomischen Struktur automatisch-mechanisch ableiten ließen. Aus der Marxschen Lehre der konstitutiven Bedingtheit der geistigen Sphären durch die ökonomische wurde die Lehre von der Absolutheit und Alleinwirklichkeit des Ökonomischen und der bloßen Scheinwirklichkeit alles Geistigen. Wir können das Wesen dieses Prozesses der zwiefachen Verflachung der Marxschen Lehre dann am klarsten erfassen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass hier nichts anderes geschah, als dass der Marxismus in dieser Periode, in der er sich in der Praxis von seiner ursprünglichen Revolutionarität entfernte und sich der bürgerlichen Gesellschaft näherte, auch in der Theorie sich von dem dialektischen Revolutionarismus, der ihn in seiner ersten revolutionären Periode mit der Hegelschen Ausgipfelung des deutschen Idealismus verband, entfremdete, sich der bürgerlichen Weltanschauung näherte und sich den beiden Weltanschauungsrichtungen des nachrevolutionären, konservativ gewordenen Bürgertums: teils dem spezifisch bürgerlichen Neukantianismus, teils dem ebenso spezifisch bürgerlichen naturwissenschaftlichen Materialismus ergab.

Die Krise des Marxismus der Gegenwart nun darin, dass die Bewegung, obwohl sie auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiet die Periode ihrer Verbürgerlichung bereits überwunden hat, sich auf dem theoretischen, weltanschaulichen Gebiet von der Herrschaft des bürgerlichen Weltbildes nicht befreien konnte, ja sogar sich immer mehr der plumpen naturwissenschaftlich-materialistischen Weltansicht des nachrevolutionären Bürgertums ergab. So sehen wir heute die sonderbare Tatsache, dass auch in den fortschrittlichsten Heimatgebieten des revolutionären Marxismus der naive unkritische naturwissenschaftliche Materialismus, den Marx am heftigsten bekämpft hatte, vorherrscht, und in einer vorkantisch anmutenden Metaphysik gipfelt. Am deutlichsten tritt dieser Materialismus in der Um- und Verdeutung der Marxschen Ideologientheorie zutage. Wir können diese Auffassung, und überhaupt die Stellungnahme des gegenwärtigen Marxismus zur „geistigen“ Welt am besten mit dem Wort „ökonomischer Absolutismus“ oder „Panökonomismus“ charakterisieren. Die ökonomische Sphäre ist für die meisten heutigen Marxisten die alleinige Vollwirklichkeit. Alle ideologischen Sphären seien bloß von abgeleiteter und geringerer Wirklichkeit, und vollends einige Sphären, wie in erster Linie die Philosophie, bloßer Schein, seien überhaupt bloß Auswirkungen der Widersinnigkeit und Ungerechtigkeit der jetzigen Gesellschaftsordnung.

Dass bei dieser Anschauung die Erkenntnis des wahren Wesens der geistigen Sphären und ihrer wirklichen Zusammenhänge mit der ökonomischen unmöglich ist, und die eigentliche philosophische Grundlage des Marxismus umgeworfen und erschüttert wird, ergibt sich von selbst; doch dessen ist die überwiegende Mehrzahl der Theoretiker und Praktiker des gegenwärtigen revolutionären Marxismus sich nicht bewusst. Immerhin dringt die Erkenntnis dieser Sachlage in der neuesten Zeit immer mehr durch, und, wenn sie auch in dem marxistischen Lager noch auf allerhärtesten Widerstand stößt, so wird sie sich doch gewiss bald freie Bahn brechen können.

Im Dienste dieser Erkenntnis steht das Büchlein von Karl Korsch. Der Autor wählt sich das Verhältnis des Marxismus zur Philosophie zum Gegenstand, um durch die Analyse dieses Verhältnisses aufzuzeigen, dass dies Stellungnahme, die der Marxismus der Epigonen den geistigen, ideologischen Sphären gegenüber eingenommen hat, falsch und unhaltbar ist.

Den Ausgangspunkt der Schrift bildet die Darstellung der Rolle, die die Philosophie seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in der Weltanschauung der bürgerlichen und der Arbeiterklasse spielte.

Korschs Gedankengang ist, kurz gefasst, der folgende. Eine jede Klasse ist auch in der weltanschaulichen, philosophischen Sphäre nur so lange schöpferisch, revolutionär, als sie auf dem wirtschaftlich-politischen Gebiet revolutionär ist. Die bürgerliche Klasse brachte in ihrer revolutionären Periode die Philosophie des „klassischen deutschen Idealismus” hervor, die auf dem geistigen Gebiet einen unüberschätzbaren Schritt vorwärts bedeutet und deren Gipfelpunkt, die Philosophie Hegels, als der stärkste geistigrevolutionäre Vorstoß des revolutionären Bürgertums, bereits die Grundelemente der Überwindung der bürgerlichen, kapitalistischen Periode und manche Grundelemente der kommenden neuen Weltanschauung enthält. Doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die kapitalistische Gesellschaftsordnung schon genügend gefestigt, und damit hörte natürlich die revolutionäre Periode des Bürgertums auf. Das Bürgertum wurde konservativ; es erkämpfte sich die seinen Wesensgesetzlichkeiten entsprechende wirtschaftliche und politische Ordnung – jetzt galt es diese Ordnung aufrechtzuerhalten, sie um jeden Preis zu sichern. Und dieses Aufhören der politisch-wirtschaftlichen Revolutionarität brachte wesensgesetzlich auch das Ende der schöpferisch-positiven Periode der bürgerlichen Philosophie mit sich. Das Bürgertum ward nicht nur wirtschaftlich-politisch, sondern auch weltanschaulich-philosophisch konservativ; und die revolutionären Ergebnisse seiner Philosophie wurden ihm selbst unangenehm und gefährlich. Dadurch entstand die sonderbare Tatsache, dass die Hegelsche Philosophie um die Mitte des 19. Jahrhunderts (ganz gleichzeitig mit der Entrevolutionierung und Konservativwerden des Bürgertums) plötzlich von dem Schauplatz der bürgerlichen Kultur verschwand: teils einfach vergessen, teils plötzlich nicht mehr verstanden wurde. Die bürgerlichen Geschichtsschreiber fassen dies einmütig so auf, als wie wenn die Philosophie für einige Jahrzehnte überhaupt entschlafen wäre, um dann in der „Zurück-zu-Kant“-Bewegung wieder aufzuerstehen. In Wirklichkeit geschah aber etwas ganz anderes: nämlich dies, dass die revolutionäre Philosophie des revolutionären Bürgertums nach dem Abschluss seiner revolutionären Periode auf die neue revolutionäre Klasse, auf das Proletariat überging, um durch dessen theoretischer Hauptvertreter, durch Marx, von ihren bürgerlichen Klassenbedingtheiten befreit und schöpferisch-revolutionär weitergeführt zu werden. Die in den 60er und 7oer Jahren entstandene neukantische Richtung der bürgerlichen Philosophie gehört nicht mehr in die schöpferische Linie des Werdensprozesses des philosophischen Bewusstseins, sondern stellt lediglich ein rudimentäres Weitervegetieren bereits überwundener Gedankengänge dar. Mit dem Konservativwerden des Bürgertums und dem Verschwinden der Hegelschen Philosophie ist die schöpferische, revolutionäre Philosophie endgültig auf die in die Geschichte eintretende revolutionäre Klasse des bewusstwerdenden Proletariats übergegangen.

Die Arbeiterklasse brachte in ihrer ersten revolutionären Periode die neue, revolutionäre Weltanschauung hervor: den Marxismus, der aus dem Gipfelpunkt des klassischen deutschen Idealismus, aus der Hegelschen Philosophie hervorging, doch diese Grundlage schöpferisch umgestaltete und weiterführte. Doch nach der ersten, revolutionären Periode folgte die jahrzehntelange Periode der Stagnation des Klassenkampfes, die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts mit ihrer relativ friedlichen Herausbildung der kapitalistischen Weltstruktur. Und diese unrevolutionäre, evolutiv-reformäre Periode des Proletariats konnte sich wesensnotwendigerweise nicht nur auf die wirtschaftlich-politische Sphäre beschränken, sondern zeitigte durchgreifende Folgen auch in der Theorie, in der Ideologie. Das zeitweilige Schwinden der Revolutionarität aus der Praxis verursachte auch die gleichzeitige Verflachung des Marxismus, das Schwinden der dialektischen Dynamik und überhaupt aller seiner revolutionären Grundfaktoren – die Verbürgerlichung des Marxismus. So entstand einerseits der neukantisch angehauchte Revisionismus und Reformismus, der die revolutionärphilosophischen Grundlagen des Marxismus durch vorhegelisch-kantische abstrakte Ideologeme ersetzen wollte, und anderseits der plumpe Vogt-Büchner-Moleschottsche naturwissenschaftliche Materialismus, der sich auf manche, von Marx längst endgültig widerlegte Gedankengänge Feuerbachs gründete, der überhaupt jegliche philosophische Fragestellung verwarf, und alles Philosophische aus der marxistischen Weltanschauung wegleugnen, ausmerzen wollte. Beide Richtungen waren sich dessen nicht bewusst, dass sie eigentlich gegen den revolutionären Kern des Marxismus ankämpfen; und sie vollzogen unbewusst ihre Rolle: sie verbürgerlichten die Theorie des Proletariats, um sie seiner verbürgerlichten Praxis anzupassen.

Doch um die Jahrhundertwende nahm die Stagnierungsperiode des Klassenkampfes endgültig ihr Ende, und den letzten, imperialistisch-monopolistischen Stadium des Kapitalismus gegenüber erhob sich das zum neuen revolutionären Bewusstsein erwachte Proletariat, um den letzten, entscheidenden Kampf auszufechten. Und diese neue wirtschaftlich-politische Revolutionarität brachte natürlich auch die revolutionäre Erneuerung der proletarischen Ideologie, die Wiedergeburt. des wahren, revolutionären Marxismus mit sich. Der zur neuen Macht erwachte Marxismus warf die während seines Schlummers ihm angehefteten vorhegelisch-revisionistischen und panökonomistischen Verunstaltungen von sich ab, und greift in seiner ursprünglich-revolutionären Form in die Praxis ein.

Doch auch Korsch sieht, dass der neue revolutionäre Geist des Proletariats sich bisher von der kantianisch-revisionistischen Seite der Verbürgerlichung des Marxismus viel radikaler und konsequenter befreien konnte, als von der Verabsolutierung des Ökonomischen und der völligen Leugnung des „Geistigen“. Und seine Absicht geht dahin, auch dieses letzte, entscheidendste Moment der Verflachung des wahren Marxismus zu beseitigen.

Konkret äußert sich die völlig negative Stellungnahme der Vulgärmarxisten der Philosophie gegenüber darin, dass sie nur die „exakten“, „voraussetzungslosen“, völlig unabhängigen Einzelwissenschaften anerkannten und die wesensnotwendig totalitätsorientierte philosophische Forschung verwarfen. Korsch wendet sich folgendermaßen gegen diese Auffassung: „Von vornherein klar ist das Negative, dass auch die… Geringschätzung aller philosophischen Probleme durch die meisten marxistischen Theoretiker der zweiten Internationale nur einen Teilausdruck darstellt von jenem Verlorengehen des praktisch-revolutionären Charakters der marxistischen Bewegung, welches seinen theoretischen Gesamtausdruck im gleichzeitigen Absterben des lebendigen materialistisch dialektischen Prinzips in den Vulgärmarxismus der Epigonen gefunden hat. Zwar haben, wie bereits erörtert wurde, auch Marx und Engels sich stets dagegen gewehrt, dass ihr wissenschaftlicher Sozialismus noch eine Philosophie sei. Es ist aber ziemlich leicht zu zeigen, … dass für die revolutionären Dialektiker Marx und Engels der Gegensatz zur Philosophie etwas vollständig anderes bedeutet hat, als für den späteren Vulgärmarxismus, Nichts lag einem Marx und Engels ferner, als ein Bekenntnis zu jener voraussetzungslosen, über den Klassen stehenden, rein wissenschaftlichen Forschung, zu der sich ein Hilferding und die meisten anderen Marxisten der Zweiten Internationale schließlich bekannt haben. Vielmehr steht der richtig verstandene wissenschaftliche Sozialismus eines Marx und Engels zu diesen voraussetzungslosen, reinen Wissenschaften der bürgerlichen Gesellschaft (Ökonomie, Geschichte, Soziologie usw.) sogar in noch viel schärferem Gegensatz, als zu der Philosophie, in der einst die revolutionäre Bewegung des dritten Standes ihren höchsten theoretischen Ausdruck gefunden hat.“

Im Gegensatz zum Vulgärmarxismus, für den die Philosophie eine durch den Marxismus endgültig überwundene und gegenstandslos gewordene „Hirnweberei“ ist, hat Marx die Philosophie immer als eine reale Wirklichkeit betrachtet und behandelt. („Die Philosophie steht nicht außer der Welt, sowenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt.“). Und die Grundthese von Marx über den Übergang der Theorie in die Praxis kann man um so weniger als eine Negation der Philosophie betrachten, als auch die gesamte Philosophie des deutschen Idealismus, auch theoretisch stets die Tendenz gehabt hat, mehr als eine Theorie, mehr als eine Philosophie zu sein: zugleich eine auf die Totalität der Welt gerichtete, praktische Aufgabe zu erfüllen. „So wenig aber durch die Übernahme einer solchen Weltanschaulichen Aufgabe (in der bekanntlich der gemeine Sprachgebrauch sogar das eigentliche Wesen jeder Philosophie erblickt) die idealistische deutsche Idealphilosophie von Kant bis Hegel aufgehört hatte, eine Philosophie zu sein, so wenig scheint es gerechtfertigt, die materialistische Theorie Marxens allein aus dem Grunde, weil sie nicht eine rein theoretische, sondern zugleich eine praktisch-revolutionäre Aufgabe zu erfüllen hat, für eine nicht mehr philosophische zu erklären. Vielmehr wird man sagen müssen, dass der dialektische Materialismus von Marx-Engels in der Form, wie er in den 11 Thesen über Feuerbach und in den gleichzeitigen, gedruckten und ungedruckten Schriften zum Ausdruck kommt, seinem theoretischen Wesen nach durchaus als eine Philosophie zu bezeichnen ist: nämlich als eine revolutionäre Philosophie, die ihre Aufgabe als Philosophie darin sieht, den in allen Sphären der gesellschaftlichen Wirklichkeit gleichzeitig gegen den gesamten bisherigen Gesellschaftszustand geführten revolutionären Kampf in einer bestimmten Sphäre dieser Wirklichkeit, in der Philosophie, wirklich zu führen, um auf diese Weise am Ende, zugleich mit der Aufhebung der gesamten bisherigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch die Philosophie, die dieser Wirklichkeit als ihr wenn auch ideeller Teil mit angehört, wirklich aufzuheben. Nach dem Marxschen Wort: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen«.”

Man darf eben den historischen Materialismus Marxens nicht mit dem abstrakten naturwissenschaftlichen Materialismus eines Feuerbach und seiner Schüler verwechseln (wie dies all zu oft geschehen ist und geschieht). Marx selbst hat sich dagegen ganz entschieden gewehrt. Marx war immer sich dessen bewusst, dass die Philosophie und die anderen geistigen, ideologischen Wirklichkeiten nicht durch bloße ökonomisch-politische Aktion erledigt werden können, sondern dass man den Kampf mit der bürgerlichen Philosophie usw. auf geistigem Wege führen muss. Der vulgärmarxistische Wirklichkeitspluralismus, in dessen Hierarchie die ökonomische Sphäre als die alleinige Vollwirklichkeit und die Philosophie und die anderen ideologischen Sphären als eine unwirkliche und gegenstandslose Scheinwelt figurieren, beruht auf einem vollen Missverständnis der Marxschen Lehre, welches Missverständnis durch manche Äußerungen Engels’ sehr erleichtert werden.

Was dem gegenwärtigen Marxismus in erster Linie Not tut, ist die „theoretische Wiederherstellung der wirklichen Konsequenzen des dialektisch-materialistischen Prinzips für die Auffassung der geistigen Wirklichkeiten“.

Das philosophische Fundament der Marxschen Theorie ist die These der Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand. Nur auf Grund dieser, aus der Hegelschen Dialektik in die Marxsche übergegangenen Grundauffassung ist die Marxsche Lehre adäquat verstehbar; nur auf Grund der Einheit des Bewusstseins und seines Gegenstandes kann man das durch Marx erkannte Verhältnis zwischen den materiellen Produktionsverhältnissen und den Bewusstseinsformen einer Epoche adäquat erfassen. Und „ohne dieses… Zusammenfallen von Bewusstsein und Wirklichkeit, welches bewirkt, dass auch die materiellen Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Epoche das, was sie sind, nur zusammen mit denjenigen Bewusstseinsformen sind, in denen sie sich sowohl im vorwissenschaftlichen, als auch im (bürgerlich) wissenschaftlichen Bewusstsein dieser Epoche widerspiegeln, und ohne diese Bewusstseinsformen in Wirklichkeit nicht bestehen könnten, hätte eine Kritik der politischen Ökonomie nie und nimmer zu dem wichtigsten Bestandteil einer Theorie der sozialen Revolution werden können.“ Das ganze Weltbild Marxens beruht auf der Grundvoraussetzung, dass die Welt des Bewusstseins und die materielle Welt nicht zwei voneinander scharf getrennte Reiche sind, sondern nur die zwei Teile eines einheitlichen Ganzen, die in diesem Ganzen kein Einzelleben führen, sondern sich in steter Wechselwirkung und gegenseitiger Durchdringung entwickeln, und die nicht isoliert, sondern nur aufeinander bezogen und nur als sich gegenseitig bedingende Teile dieses Ganzen, und nur aus diesem Ganzen verstanden und erklärt werden können. Die Vulgärmarxisten betrachten jedoch die Welt nicht in dieser Einheit, sondern als einzelne isolierte, voneinander unabhängige, „eigengesetzliche“ Gebiete zerrissen, und deshalb konnten sie notwendigerweise auch das Verhältnis zwischen den materiellen und den Bewusstseinsformen der einen Welt nicht verstehen.

Doch jetzt sei die Tatsache, die den Verfall des Marxismus bedingte: die arevolutionäre Lage des Weltproletariats, geschwunden, und der Marxismus drängt wesensnotwendig zur Wiedererlangung seiner originären Gestalt. Und dies ist keine historische Frage. Nicht deshalb ist die ursprüngliche Gestalt des Marxismus wiederherzustellen, weil sie historisch früher war, sondern weil sie die Möglichkeit zur adäquaten Erfassung des Ganzen der bürgerlichen Gesellschaft gibt, welche Möglichkeit der Vulgärmarxismus verloren hat.

Und dem ursprünglichen, reinen („orthodoxen“) Marxismus erscheint auch die Stellung der Philosophie zur ökonomischen Tatsächlichkeit in ganz anderem Licht als dem Vulgärmarxismus. Sie ist keine „Hirnweberei”, keine sekundäre oder gar Scheinwirklichkeit, kein bloßes Produkt oder gar Abfallprodukt der ökonomischen Verhältnisse, sondern die materielle Welt und die Welt des Bewusstseins bilden ein zusammenhängendes Ganzes, in dem sie sich gegenseitig bedingen. Ohne Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft könne man ihre Bewusstseinsstruktur nicht ändern; aber auch umgekehrt: ohne revolutionäre Umwälzung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft sei unmöglich ohne die Umwälzung der Bewusstseinsformen der Gesellschaft. Der Kampf des Proletariats um die neue Welt dürfe weder nur praktisch (ökonomisch-politisch), noch nur theoretisch sein. Er muss gleichzeitig auf dem ökonomischen und auf dem geistigen Gebiet geführt werden. Man kann die bürgerliche Philosophie durch das Denken allein nicht aufheben. „Die gesellschaftlichen Bewusstseinsformen können vielmehr auch im Denken, auch im Bewusstsein, nur aufgehoben werden unter gleichzeitiger praktisch-gegenständlicher Umwälzung der in diesen Formen bisher begriffenen materiellen Produktionsverhältnisse selbst.“ Und dass dieser Materialismus Marxens mit dem naiven und abstrakten naturwissenschaftlichen Materialismus Feuerbachs und seiner Anhänger nichts zu tun hat, zeigt am besten eine der Marxschen Thesen über Feuerbach, die zugleich besser, als irgendein Zitat das eigentliche Wesen und Grundmotiv des Marxschen Denkens aufzeigt: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.“ Der Materialismus, der in diesen Sätzen zum Ausdruck kommt, bedeutet nicht die Vernichtung der Philosophie, die Vernichtung des Geistes, sondern im Gegenteil: er bedeutet die wahre Erkenntnis der eigentlichen Rolle und des eigentlichen Sinnes der Philosophie – die Erkenntnis, dass die Philosophie keine abstrakte, rein theoretische Disziplin ist, sondern dass sie auf die Praxis gerichtet ist und wesensnotwendig in die Praxis übergeht. Die Marxsche Lehre bringt also für die Philosophie nicht eine Einschränkung, sondern im Gegenteil: eine ungeheure Erweiterung des Funktionsbereiches: das ganze Gebiet der Praxis eröffnet sich, sie wird zur Praxis: zur wirklichen, irdisch-diesseitigen, menschlich-sinnlichen Praxis, die die Welt nicht interpretiert, sondern verändert.

Und wie die Philosophie keine minderwirkliche Sphäre ist, sondern ein vollwirklicher Faktor in dem einheitlichen Ganzen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, so sind auch alle übrigen geistigen Sphären (wie Religion, Kunst usw.) genauso gesellschaftliche Wirklichkeiten, wie die im engeren Sinne ökonomischen und auch politischen, juristischen Bewusstseinsformen, und wie überhaupt alle Bereiche der sozialen Welt. Die vulgärmarxistische Verachtung und Vernachlässigung dieser geistigen Sphären war der theoretische Ausdruck einer praktisch falschen Einstellung; zur Adäquaten Erkenntnis und zur adäquaten Praxis könne man nur auf Grund der originär-marxistischen Auffassung gelangen, die auf Grund der in den letzten Jahrzehnten wiederaufgelebten revolutionären Praxis des Proletariats sich nun wieder Bahn bricht und zur Geltung gelangt.

Diese Gedankengänge sind in der Schrift von Korsch mit äußerster Klarheit und Konsequenz und mit Verarbeitung der gesamten diesbezüglichen Literatur wiedergegeben. Auch derjenige, der die Grundüberzeugung des Verfassers nicht teilt, muss ihr die Einsicht entnehmen, dass der originäre Marxismus kein Panökonomismus ist, die ökonomische Sphäre nicht als das alleinige Bereich der Vollwirklichkeit betrachtet, sondern auch die geistigen Sphären als durchaus wirkliche konstitutive Teile des Ganzen des gesellschaftlichen Lebens anerkennt.

 

[1] Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1925. Nr. 2, S. 528–535. – der Hrsg.