Karl Korsch

Lenin und die Komintern[1]

 

I.

Als erster Punkt steht auf der Tagesordnung des 5. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale „Lenin und die Komintern. Über die Grundlagen und die Propaganda des Leninismus”. Das bedeutet nicht nur ein Bekenntnis des Kongresses zum Geist des Leninismus und eine weithin sichtbare Bekundung des Willens der Kongressteilnehmer, alle Fragen, denen der Kongress gegenüberstehen wird, im Geiste des wahren Leninismus zu lösen. Es kann auch nicht bedeuten, dass auf diesem Kongress bestimmte, im letzten Jahre der Kommunistischen Internationale in Mittel- und Westeuropa in den Brennpunkt des Streites getretene Probleme, die erst als spätere Punkte auf der Tagesordnung stehen, vorweg erledigt werden sollten, vor der Analyse der wirtschaftlichen Weltlage, die den zweiten Punkt der Tagesordnung ausfüllt. Gewiss bildet in der gegenwärtigen Entwicklungsperiode der Kommunistischen Internationale unter allen Aufgaben des mittel- und westeuropäischen und amerikanischen Kommunismus die uns von Lenin vermachte Aufgabe der „Eroberung der Mehrheit unter den wichtigsten Schichten der Arbeiterklasse” die allerwichtigste, und gewiss kann diese bisher noch nicht gelöste Aufgabe von uns nur im Geiste des Leninismus wahrhaft gelöst werden, d. h. konkreter im Geiste jener „Schlussfolgerungen”, die Lenin in der eindrucksvollsten Weise am Ende seiner klassischen Schrift über den Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus aus der Geschichte der russischen Bolschewiki und aus den Erfahrungen der europäischen Parteien abgeleitet hat. „Den konkreten Plan der noch nicht ganz revolutionären Maßnahmen und Methoden, die die Masse zum wirklichen, entscheidenden letzten großen, revolutionären Kampf führen, zu finden, zu fühlen und zu verwirklichen” – darin besteht wirklich auch heute, im Jahre 1924, ganz ebenso wie es Lenin vier Jahre früher ausgesprochen hat, und heute, nach drei Jahren sogenannter „Einheitsfronttaktik” sogar noch offensichtlicher als damals, „die Hauptaufgabe des zeitgenössischen Kommunismus in Westeuropa und in Amerika”. Aber der Lösung dieser praktischen Hauptaufgabe der Leninisten dient eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten des Kongresses zusammen, und nicht ein einzelner besonders, und nur in diesem Sinne dient ihr mit allen anderen auch jener erste Punkt der Tagesordnung, der von „den Grundlagen und der Propaganda des Leninismus” spricht. Hier handelt es sich darum, dass die gesamte Komintern heute, nach dem erschütternden Ereignis des Todes ihres großen Gründers und Führers, Wladimir Iljitsch Lenin, nun erst recht zeigen kann und muss, dass sie imstande und gewillt ist, auch theoretisch und ideologisch das Erbe Lenins anzutreten, den „Geist” Lenins in ihrer Theorie und Praxis als geschichtliche Realität, als „Leninismus” aufzubewahren und lebendig und aktuell weiter zu verwirklichen, auf diesem Wege also in der geschichtlichen Wirklichkeit der Komintern den toten Lenin auch in seiner theoretisch-ideologischen Funktion durch ein großes mächtiges Kollektiv von lebendigen Leninisten zu ersetzen.[2]

Indem das Exekutivkomitee „Lenin und die Komintern” auf die Tagesordnung des 5. Weltkongresses setzte, hat sie vor aller Welt erklärt, dass an der Erfüllung dieser großen Aufgabe, einer ganz ungeheuren Aufgabe, wie sie sich in dieser Form noch niemals in der Weltgeschichte eine Partei gestellt hat, nicht nur die natürliche Haupterbin Lenins, die russische Bolschewikenpartei, sondern ebenso auch alle anderen Sektionen unserer großen kommunistischen Partei, der Kommunistischen Internationale, theoretisch und praktisch mitarbeiten sollen. Und schon der Kongress selbst wird auf diesem Wege die ersten wichtigen Schritte tun müssen; es wird seine Aufgabe sein, die in der Tagesordnung nur erst unbestimmt angedeutete Parole der „Propaganda des Leninismus” in einer für die ganze Komintern gültigen Weise klar und vollständig und detailliert zu formulieren, jede Sektion der Kommunistischen Internationale auf die für sie nach ihrer Lage und ihrem Entwicklungszustande besonders wichtigen Einzelaufgaben hinzuweisen und die großen Richtlinien zu bestimmen, nach denen bei der Lösung aller dieser Aufgaben verfahren werden soll.

Die Bedeutung des ersten Tagesordnungspunktes des 5. Weltkongresses geht aber noch viel weiter. Man muss sich darüber klar sein, dass der Kongress mit der näheren Bestimmung der mannigfachen Teilaufgaben, aus welchen sich die „Propaganda des Leninismus“ zusammensetzt, zu der Frage des „Leninismus“ nur erst nach der sozusagen technischen Seite hin Stellung genommen haben wird, Selbstverständlich hat auch diese technische Seite der Frage eine außerordentlich große Bedeutung: die „Propaganda des Leninismus“ bildet einen wichtigen Teil der großen kommunistischen Gesamtaufgabe der „Organisierung der Revolution“. Und sicher gestaltet sich die Erfüllung gerade dieser propagandistischen Aufgabe in denjenigen Sektionen der Kommunistischen Internationale, die die Staatsgewalt noch nicht erobert haben, d. h. also in allen europäischen und amerikanischen Sektionen, schon unter legalen, erst recht illegalen Verhältnissen, außerordentlich viel schwieriger als im proletarischen Sowjetrussland, und wird darum in jenen Ländern großenteils auch ganz andere, der besonderen Lage jedes Landes genau angepasste Formen annehmen müssen, die einer näheren Erörterung und Bestimmung durch das höchste Organ der Kommunistischen Internationale, des Weltkongress, durchaus bedürfen. Aber diese mehr oder weniger technischen Fragen bilden doch keineswegs den Kern der Sache.

In Wirklichkeit ist mit der Frage „Lenin und die Komintern. Über die Grundlagen und die Propaganda des Leninismus“ die Methode der bolschewistischen Theorie als solche auf die Tagesordnung gesetzt. Durch die Klärung der „Grundfragen des Leninismus” und die Durchführung eines auf diesen Grundlagen aufgebauten Systems der Leninistischen Propaganda in allen Sektionen der Kommunistischen Internationale soll die gesamte Komintern ideologisch zu einer festen Einheit zusammengeschmiedet werden auf dem gemeinsamen Boden der revolutionären marxistischen Methode in derjenigen Form, in der sie der Theoretiker des Bolschewismus, Lenin, „wiederhergestellt“ und den Fälschungen und Verwirrungen der sogenannten „Marxisten“ der vereinigten 2. Internationale entgegengestellt hat. Wie also im 3. Punkt der Tagesordnung das Programm der Kommunistischen Internationale, so steht in der Frage des „Leninismus” die Methode unserer revolutionären bolschewistischen Theorie zur Debatte.

 

II.

Wird der 5. Weltkongress imstande sein, diese ungeheuer wichtige, zugleich aber ungeheuer schwierige Aufgabe zu lösen? Wird er die methodischen Grundlagen des „Leninismus“ so scharf und richtig fixieren können, dass auf diesen Grundlagen eine methodische und systematische leninistische Propaganda aufgebaut werden kann? Wird der Prozess der ideologischen Vereinheitlichung innerhalb der Kommunistischen Internationale weit genug fortgeschritten sein, um alle Sektionen und Gruppen der Komintern in dem Bekenntnis zu einer theoretischen Methode zu vereinen, die in ihren wesentlichen Zügen für alle die gleiche sein müsste?

Hier ergeben sich ungeheure Schwierigkeiten, die eine wirklich bis in die Tiefe gehende Lösung der Aufgabe nahezu ausschließen. Einerseits kann bisher in den verschiedenen Sektionen der Kommunistischen Internationale und besonders gerade auch in der deutschen Kommunistischen Partei von einer einheitlichen Anerkennung des „Leninismus“ als „der“ allein gültigen Methode der marxistischen Theorie überhaupt noch nicht gesprochen werden. Andererseits bestehen mit Bezug auf die Frage, worin denn das Wesen des „Leninismus“ als Methode besteht, auch unter denen, die sich zu ihm bekennen, gegenwärtig noch mehrere voneinander in wesentlichen Zügen abweichende Anschauungen. Eine große Anzahl führender und geführter marxistischer Theoretiker, die sich organisatorisch zur Kommunistischen Internationale rechnen und in ihrer praktischen Politik „leninistisch“ zu handeln bereit sind, lehnen den Satz, dass auch theoretisch die Methode Lenins als „die“ wiederhergestellte Methode des „wissenschaftlichen Marxismus“ zu gelten habe, rundweg ab. Sie erkennen die Leninsche Methode als eine für die praktisch-politischen Zwecke des proletarischen Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode (d. h. also in einer Periode, die im internationalen Maßstabe, und in Europa und Amerika auch im nationalen Maßstabe, noch nicht die Periode der politischen Machtergreifung darstellt!) ausreichende Methode der Orientierung dieses Kampfes an, erkennen sie aber durchaus nicht an als die konkreteste und wahrste Methode der materialistischen Dialektik, als die wiederhergestellte Methode des revolutionären Marxismus. Als solche gilt ihnen vielmehr entweder die Methode der Gründerin der deutschen Kommunistischen Partei, Rosa Luxemburg, oder aber sie erklären sowohl die Leninsche, als auch die Luxemburgsche Methode für einseitig und wollen nur die von Karl Marx in seiner wissenschaftlichen Reifeperiode selbst angewendete Methode als wahrhaft marxistische Methode anerkennen. Es ist nicht möglich, in diesem kurzen Aufsatz eine gründliche Auseinandersetzung mit diesen absoluten Gegnern der Leninschen Methode (als einer, bzw. als „der“ Methode des wissenschaftlichen Marxismus) auch nur zu beginnen. Diese Aufgabe soll erst in den folgenden Heften dieser Zeitschrift in kollektiver Zusammenarbeit eines möglichst großen Kreises kommunistischer Theoretiker in Angriff genommen werden. Für heute begnügen wir uns mit der Bemerkung, dass für uns die politische Praxis des Bolschewismus und die von Lenin „wiederhergestellte“ Form der revolutionären marxistischen Theorie ein derartig untrennbar zusammenhängendes Ganzes bilden, dass wir nicht einzusehen vermögen, wie man es z. B. fertigbringen kann, in der Frage der Rolle der Kommunistischen Partei für die proletarische Revolution als „praktischer Politiker“ auf den kommunistischen Standpunkt der Resolution des 2. Weltkongresses zu stehen und zugleich als „wissenschaftlicher Marxist“ den Zusammenhang zwischen der ökonomischen Entwicklung und dem proletarischen Klassenkampf in den spezifisch Luxemburgschen Formen der dialektisch-materialistischen Methode zu begreifen. Uns scheint, dass erst vom Standpunkt jenes von Lenin „wiederhergestellten“ und noch einen Schritt weiter getriebenen, ganz „materialistischen“ Materialismus Marxens aus, der auch die menschlich sinnliche Tätigkeit und Praxis als solche in ihrer gegenständlichen Wirklichkeit begreift, die bolschewistische Auffassung der „Rolle der Partei“ voll anerkannt werden kann, während vom Standpunkt der Luxemburgschen Dialektik aus, die nach der praktischen Seite hin eine noch nicht so „materialistische“ Dialektik ist wie die Leninsche, an dieser Leninistischen Auffassung von der Rolle der Partei immer ein peinlicher Überrest von „Subjektivismus“ kleben bleibt. Wie dem aber auch sei, soviel scheint klar: Eine Resolution über die „Grundlagen des Leninismus“ und ein System „Leninistischer Propaganda“, die auf dem 5. Weltkongress von „luxemburgianischen“ und „leninistischen“ Marxisten (wozu drittens noch diejenigen Marxisten kommen, die weder die Luxemburgsche Weiterentwicklung noch die Leninsche Wiederherstellung der marxistischen Methode als echten und vollständigen Marxismus anerkennen) gemeinsam beschlossen würden, müsste unvermeidlicherweise ebenso unbefriedigend ausfallen, wie ein von denselben Theoretikern übereinstimmend für die gesamte Kommunistische Internationale beschlossenes kommunistisches Programm. Die völlige Klärung des Verhältnisses zwischen der Luxemburgschen und der Leninschen Methode der marxistischen Theorie bildet die unerlässliche Voraussetzung für die Bestimmung „der Grundlagen und der Propaganda des Leninismus“.

Auch von dem Streit zwischen Luxemburgianern und Leninisten ganz abgesehen, besteht über die Frage nach dem Wesen des Leninismus als theoretischer Methode heute durchaus noch keine allgemeine Übereinstimmung, oder vielmehr diese Übereinstimmung besteht heute sogar noch weniger als früher. Und es ist ja auch ganz selbstverständlich, dass in einer Zeit, wo infolge einer akuten Krise die wichtigsten Fragen der bolschewistischen Praxis zum Gegenstand eines erbitterten Fraktionsstreites geworden sind, auch die Frage der theoretischen Methode des Leninismus in die Qual des Kampfes mit hineingezogen werden muss, denn das methodische Bewusstsein einer marxistisch-kommunistischen Partei steht nicht außerhalb oder in irgendeinem Sinne über der Praxis dieser Partei, sondern bildet einen wichtigen Bestandteil dieser revolutionären Praxis selbst. Wir dürfen uns also nicht darüber wundern, dass wir in den von den verschiedenen Seiten gegenwärtig unternommenen Versuchen zur Bestimmung der Methode der Leninistischen Dialektik alle die Richtungen wiederfinden, die sich heute auch praktisch in dem Streit über die Taktik und andere praktisch-politische Fragen innerhalb der Komintern gegenüberstehen. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht ein Aufsatz des Genossen Thalheimer „Über die Handhabung der materialistischen Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution“, der in Heft 1/2 der neuen kommunistischen Zeitschrift „Arbeiterliteratur“ erschienen ist.

 

III.

Genosse Thalheimer will die leninistische Methode, die auch nach ihm nichts anderes ist als die von Lenin mit derselben Kühnheit und zugleich mit derselben Vorsicht und Exaktheit wie von Marx selber angewendete marxistische Methode der materialistischen Dialektik, an der Entwicklung von drei besonderen Fragen erläutern: der Frage der proletarischen Diktatur, der Agrarfrage und der Frage des nationalistischen und imperialistischen Krieges. Der Abschnitt über die Frage der Diktatur endigt mit der „Feststellung“, dass Lenin die Sowjetform des Staates nicht etwa als „die endlich entdeckte politische Form“ der Diktatur der Arbeiterklasse, sondern bis zuletzt nur als „einen neuen Typus“ des Staates bezeichnet habe, worin schon die Möglichkeit abweichender „Abarten, Spielarten, Formen“ dieses Typus enthalten sei. Der Abschnitt über die Agrarfrage erklärt, dass Lenin durch seine Behandlung dieser Frage „eine besonders lehrreiche und exakte Anwendung der materialistisch-dialektischen Methode“ gegeben habe. (Diese Anwendung bestand nach Thalheimers Darstellung darin, dass Lenin, um den Kern der Sache der proletarischen Revolution, den Übergang der politischen Macht an das Proletariat, zu retten, alle „starren“ Forderungen des bisherigen bolschewistischen Agrarprogramms fallen ließ und darauf vertraute, dass im Fortgang des „Lebens“ alles andere sich schon „von selbst“ finden würde, „als das Resultat der Macht des Beispiels, als Resultat praktischer Erwägungen“.) Im dritten und letzten Abschnitt erklärt Genosse Thalheimer den Umstand, dass Lenin bei seiner Behandlung der nationalen Frage einerseits die Fälschungen des Sozialpatriotismus kritisch vernichtet, andererseits aber auch betont hat, dass unter bestimmten Bedingungen selbst im Europa des Weltkrieges die Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen nationalen Krieg zwar „nicht wahrscheinlich“, aber doch „theoretisch nicht unmöglich“ sein würde, für „ein wahres Musterbeispiel der konkreten dialektischen Analyse“.

Es liegt uns nun fern, hinter der Bewunderung, die Genosse Thalheimer der Leninschen Lösung dieser drei wichtigen und schwierigen Fragen zollt, auch nur um Haaresbreite zurückstehen zu wollen. Wir müssen aber doch sehr ernsthaft die Frage aufstellen, inwiefern Lenin durch seine Behandlung dieser Fragen, so wie Genosse Thalheimer sie schildert, gerade solche „besonders“ lehrreichen und exakten Musterbeispiele der Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode des Marxismus gegeben habe. Worin besteht z. B. die besonders lehrreiche und exakte Anwendung der materialistisch-dialektischen Methode in dem Leninschen Verhalten zur Agrarfrage? Auch Karl Marx hat bekanntlich der revolutionären Klasse, sobald sie sich erhoben hat, die Fähigkeit zugeschrieben, „unmittelbar in ihrer eigenen Lage den Inhalt und das Material ihrer revolutionären Tätigkeit zu finden: Feinde niederzuschlagen, durch das Bedürfnis des Kampfes gegebene Maßregeln zu ergreifen, die Konsequenzen ihrer eigenen Taten treiben sie weiter. Sie stellt keine theoretischen Untersuchungen über ihre eigene Aufgabe an“ („Klassenkämpfe im Frankreich“, Dietzsche Ausgabe, S. 31). Mit dem gleichen Recht durfte auch der Theoretiker und Praktiker der russischen Revolution mitten im Kampf auf jene immanente, unbewusste und natürliche Dialektik vertrauen, die im „Leben“ und in dem revolutionären Klassenkampf als einem Teil dieses Lebens sich „von selbst“ durchsetzt. Aber wandte er gerade hier, wo er (um mit Marx zu sprechen) „auf theoretische Untersuchungen verzichtete“, die dialektische Methode an? Wandte er sie gerade hiermit „besonders lehrreich“ und „besonders exakt“ an? Wir meinen vielmehr, dass hier umgekehrt gerade die Stelle berührt wird, wo auch die höchst entwickelte materialistische Dialektik, die ihrer Idee nach den historischen Prozess der proletarischen Revolution voll begreifen sollte, an ihre Grenze gelangt, wo der konkrete historische Prozess in seiner materiellen Wirklichkeit zwar objektiv noch dialektisch verläuft, in diesem seinen Verlauf aber von dem Dialektiker eine Strecke weit nicht mehr begriffen werden kann. Es gehört zu den Erfordernissen einer exakten Theorie der marxistischen Methode, die Existenz dieser Grenze nicht zu ignorieren; aber es ist schon etwas viel, wenn man gerade hierin den eigentlichen Kern der „materialistischen Dialektik“ von Marx und Lenin erblicken will. Und ähnlich, wenn auch in anderer Weise, macht Genosse Thalheimer auch bei den beiden anderen von ihm ausgewählten Beispielen der leninistischen Handhabung der marxistischen dialektischen Methode aus gewissen Zügen der Marx-Leninschen Methode, die freilich zu einer wirklich materialistischen, in keinem Sinne mehr metaphysischen Methode auch mit gehören, aber doch um Himmelswillen nicht das innerste Wesen dieser dialektisch-materialistischen Methode ausmachen, die Hauptsache und das Kernstück des Materialismus, des Marxismus und des Leninismus überhaupt. Und zu dieser Verzerrung des Wesens der marxistisch-leninistischen Methode, die er an seinen drei Beispielen konkret vollbringt, fügt er überdies in der Einleitung und in einzelnen eingestreuten Bemerkungen seines Aufsatzes noch eine ebenso verzerrte allgemeine Theorie des Wesens dieser Methode hinzu. Er übertreibt den Marxschen Grundgedanken, dass die Wahrheit immer konkret ist, zu der Karikatur, dass die Resultate des materialistisch dialektischen Denkens bei Lenin wie bei Marx überhaupt niemals und in keiner Form über den augenblicklichen Erfahrungskreis, aus dem sie abgeleitet und für den sie bestimmt sind, hinaus allgemeiner gelten könnten – als ob nicht Marx (z. B. in dem Brief an Michailowski) und Lenin (z. B. in der Einleitung zum „Radikalismus“, die die Überschrift hat: „In welchem Sinne kann man von der internationalen Bedeutung der russischen Revolution sprechen?“) sehr genau unterschieden hätten zwischen denjenigen Resultaten ihrer materialistisch-dialektischen Forschung, die eine solche allgemeinere Bedeutung haben, und die sie nicht haben. Was ist denn überhaupt eine „materialistisch-dialektische“ Methode wert, die uns nichts mehr gibt, was in irgendeinem Sinne über die uns schon bekannte gegenwärtige Erfahrung hinausgreift, sondern vielmehr, wie es Thalheimer ausdrückt, gar nicht mehr hervor bringt als historische Resultate, einerseits theoretische Widerspiegelung (!), Analyse einer bestimmten Zeit, andererseits Richtlinien für den Kampf des Proletariats, ebenfalls „in einer bestimmten Zeit“?

In Wirklichkeit hat die mit dieser Umformung der Marx-Leninschen materialistischen Dialektik durch den Genossen Thalheimer geschaffene neue Methode mit der materialistischen Dialektik nichts mehr zu tun. In seinem Bestreben, die materialistische Methode von Marx und Lenin ganz „materialistisch“ als die Methode einer rein historischen Erfahrungswissenschaft und Praktik zu fassen, hat Genosse Thalheimer die Grenze dessen, was man materialistische Dialektik nennen kann, schon überschritten und ist zu einem völlig undialektischen Historismus, Positivismus und Praktizismus gelangt. Während Rosa Luxemburg, wie wir weiter oben angedeutet haben, in ihrer Auffassung der menschlichen Praxis noch nicht ganz materialistisch geworden, in dieser einen Hinsicht noch Hegelianischer Dialektiker geblieben ist, hat Genosse Thalheimer umgekehrt mit den Resten der Hegelianischen Dialektik zugleich alles Dialektische aus der Methode der marxistischen Wissenschaft hinausgetrieben; die materialistisch-dialektische Methode Marxens, die wesentlich das konkrete Begreifen der proletarischen Revolution als geschichtlicher Prozess und als geschichtliche Aktion der proletarischen Klasse ist, wandelt sich bei ihm um in eine bloß passive, ideologische „Widerspiegelung“ einzelner, nach Zeit und Ort verschiedener geschichtlicher Tatsächlichkeiten.

Diese theoretische Verfälschung des Wesens der marxistischen und leninistischen materialistisch-dialektischen Methode führt praktisch zu einer Entwertung aller durch diese Methode von Marx und Engels und Lenin und anderen Marxisten gewonnenen Ergebnisse. Und es ist ziemlich leicht einzusehen, woher diese Tendenz zur Entwertung der Ergebnisse der Marx-Leninschen Forschungsmethode entspringt und wohin sie führt. Nehmen wir als Beispiel die hundertfache Wiederholung Thalheimers, dass der Sowjetstaat von Lenin nur als ein Typ mit möglichen Spielarten und Abarten bezeichnet wird. So sehr entwerten kann man die Ergebnisse der Marx-Leninschen Methode nur, wenn man, sei es bewusst, sei es unbewusst, von diesen Ergebnissen loskommen will. Die Auffassung des Sowjetstaates als nur eines Typus der proletarischen Diktatur, mit mannigfachen möglichen Spielarten, macht es dem Theoretiker des „Leninismus“ möglich, von der „starren“ Form der Rätediktatur (die nach dem wirklichen Lenin zwar nur den noch weiter entwicklungsfähigen „Anfang“, aber immerhin doch „den“ Anfang „der“ sozialistischen Form des Demokratismus bezeichnet!) loszukommen zu den verschiedenen möglichen „Abarten, Spielarten“ und – Entartungen dieses „Typus“, z. B. zu der sächsischen „Arbeiterregierung“. Und so mit allen sonstigen „Ergebnissen“ der Marxschen und Leninschen Theorie. Sind sie alle schlechthin nur „historische Erzeugnisse“, gebunden an ihre bestimmten historischen Voraussetzungen, anwendbar nur auf die Verhältnisse einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Landes, so ist es selbstverständlich, dass unter neuen Verhältnissen, gegenüber neuen Erfahrungen und veränderten politischen Bedürfnissen alle diese bisherigen Resultaten des Marxismus ihre Gültigkeit verlieren und durch die neuen Erkenntnisse und Richtlinien ersetzt werden können und müssen, in denen sich diese neue Lage nunmehr für den Leninistischen Handhaber der materialistischen Dialektik „widerspiegelt“. Indem Genosse Thalheimer den revolutionären und dialektischen Materialismus Marx-Lenins in eine nicht mehr dialektische und also auch nicht mehr revolutionäre, bzw. umgekehrt: nicht mehr revolutionäre und infolgedessen auch nicht mehr dialektische), rein historische Erfahrungswissenschaft und Praktik umwandelt, setzt er unter der verführerischen Verkleidung des „Leninismus“ tatsächlich eine ihrer Tendenz nach opportunistische und reformistische Methode an die Stelle der revolutionären Methode des Marxismus.

 

IV.

Wir haben die von Thalheimer vertretene Auffassung der leninistischen Methode mit besonderer Ausführlichkeit behandelt nicht nur darum, weil Genosse Thalheimer als zweiter Referent für die Programmfrage auf dem 5. Weltkongress bestimmt ist und schon darum seine Stimme zweifellos auch in der Frage nach dem Wesen des Leninismus als Methode auf dem Kongress mit besonderer Aufmerksamkeit gehört werden wird. Noch mehr kam es uns darauf an, an einem typischen Beispiel ausführlich und deutlich zu zeigen, dass der Versuch einer Bestimmung der „Grundlagen des Leninismus“ und besonders einer Fixierung des Wesens der Leninschen Methode auf dem 5. Weltkongress nicht nur mit großen, gegenwärtig noch fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, sondern überdies auch mit gewissen Gefahren verbunden ist, die um so größer sind, als sie gerade auf diesem, scheinbar rein theoretischen und dem praktischen Kampf der Fraktionen weit entrückten Gebiete sehr viel leichter unbemerkt und unbeachtet bleiben können. Unter der für uns alle teuren, revolutionären Flagge des „Leninismus“ wird gegenwärtig mancherlei revisionistische, reformistische, opportunistische und liquidatorische Konterbande in die Praxis und in die Theorie des revolutionären Kommunismus einzuschmuggeln versucht. Und in ihrem tiefsten Grunde bedeutet die vom Genossen Thalheimer jetzt formulierte Theorie der Leninistischen Methode nur die falsche Theorie zu einer falschen politischen Praxis. Wie sich die in Deutschland seit dem Leipziger Parteitag angewendete opportunistische und reformistische Einheitsfronttaktik zu der revolutionären Methode der Agitation und Massenmobilisation verhält, so verhält sich die „leninistische“ Methode Thalheimers und der ihm nahestehenden Genossen zu der wirklichen Methode des revolutionären Leninismus, d. h. zu der von Lenin wiederhergestellten und vollendeten materialistisch-dialektischen Methode des revolutionären Marxismus. Der 5. Weltkongress wird, wie bei allen anderen, unmittelbar praktischen Fragen der kommunistischen Politik, so auch bei der Erörterung der theoretischen Fundamente dieser Politik, bei der Programmfrage und bei der Frage nach den Grundlagen des Leninismus bestimmte Schutzwälle gegen die steigende Flut des kommunistischen Revisionismus errichten müssen. Durch die Erfüllung dieser negativen Funktion kann er dem drohenden Verfall der von Lenin wiederhergestellten und vollendeten Methode der revolutionären marxistischen Wissenschaft, die ihrem Wesen nach nichts anderes ist als das theoretische Bewusstsein von der revolutionären Aktion der proletarischen Klasse, machtvoll entgegenwirken. Für eine positive Fixierung des Wesens des Leninismus als Methode ist der gegenwärtige Entwicklungsmoment der Komintern ebensowenig geeignet, wie für die Fixierung eines für eine ganze Epoche der kommunistischen Politik endgültigen kommunistischen Programms.

 

[1] Die Internationale (Berlin), 2. Juni 1924 (Jg. 7., H. 10–11.), 320–327. – der Hrsg.

[2] Näheres hierüber besonders im letzten Abschnitt von Sinowjevs Aufsatz „W. I. Lenin – Genie, Lehrer, Führer und Mensch“ in Nr. 31/32 der KI., und in einem besonderen Aufsatz von Béla Kun über „Die Propaganda des Leninismus“ in Nr. 33.