Herbert Marcuse

Transzendentaler Marxismus?[1]

 

Diese Ausführungen wollen in keiner Weise einen Beitrag zu der grundsätzlichen Diskussion des Verhältnisses von Marxismus. und Philosophie liefern. Vielmehr setzen sie schon eine Entscheidung dieser Frage voraus, derart, dass sie Philosophie nicht als bloßes „Hirngespinst“, als „Dunsthimmel der Fantasie“ auffassen, sondern als sehr reale geschichtliche Macht, mit der sich der Marxismus als Theorie der proletarischen Revolution in bestimmten Situationen ernsthaft auseinanderzusetzen hat. Der „ideologische“ Charakter der Philosophie nimmt ihr nichts von ihrem Sinn als geschichtlichen Faktor. Es ist nur nötig, die Philosophie als das zu sehen, was sie ist: der wissenschaftliche Ausdruck einer bestimmten menschlichen Grundhaltung, und zwar einer Grundhaltung dem Sein und Seienden überhaupt gegenüber, in der sich eine geschichtlich-gesellschaftliche Lage oft klarer und tiefer aussprechen kann als in den dinglich erstarrten praktischen Lebenssphären.[2] So haben wir heute die merkwürdige Situation, dass die meisten marxistischen Theoretiker sich mit einem Begriff von „bürgerlicher“ Philosophie auseinandersetzen, den die bürgerliche Philosophie selbst schon von innen her aufgelockert und überwunden hat,[3] der also von der marxistischen Diskussion gar nicht mehr getroffen wird. Von hier aus fällt ein scharfes Licht auf die Klassensituation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. In vielen Bezirken wissenschaftlichen Forschens lebt eine Grundhaltung, die nichts mehr zu tun hat mit den bekannten Lebensformen der kapitalistischen Gesellschaft – die schon ein gutes Stück der geschichtlichen Entwicklung vorweggenommen hat.

Aufgabe dieser Untersuchung ist eine Auseinandersetzung mit dem Problemkreis „Kant und Marx“, d. h, mit den Versuchen zwischen dem Marxismus und der Kantschen Philosophie eine innere, sinnhafte Verbindung herzustellen. Solche Versuche interessieren uns nicht als Lehrmeinungen oder Interpretationen, sondern als Ausdruck eben einer Grundhaltung, die für marxistische Theorie und Praxis von großer Bedeutung ist. Die Notwendigkeit unserer Aufgabe sehen wir darin, dass eine prinzipielle Auseinandersetzung mit diesen Versuchen uns noch zu fehlen scheint, und zweitens, dass diese Versuche eine auch heute akute Gefahr der Umbiegung und Schwächung des Marxismus zu bezeichnen scheinen. Als den sichtbarsten und ernstesten Vertreter solcher Grundhaltung nehmen wir Max Adler, dessen Schriften von der ersten in den „Marxstudien“ 1904 veröffentlichten Abhandlung an um dieses Problem kreisen.

Max Adler will nicht etwa die Kantsche Philosophie als Vorläufer des Marxismus interpretieren oder den Marxismus im Sinne der Kantschen Philosophie umdeuten. Es handelt sich bei ihm nicht um eine Marx-Erklärung, auch nicht um das primitive Verfahren, gewisse Stellen bei Kant, besonders in der Sozialphilosophie, als Anknüpfungspunkte für den späteren wissenschaftlichen Sozialismus aufzufassen. Sondern es soll einmal die Kantsche Philosophie als der „Anfang einer Philosophie des sozialen Bewusstseins“ aufgezeigt werden, als eine erkenntnistheoretische Begründung der Sozialwissenschaft („Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik“, S. 13), andererseits soll „die theoretische Arbeit von Marx mit einem durch die Erkenntniskritik Kants geschärften logischen Bewusstsein durchdacht werden“ (ebd. S. 6.). Die innere Verbundenheit von Kant und Marx wird also darin gesehen, dass beide eine auf der Erkenntniskritik fundierte Theorie der sozialen Erfahrung begründen, Kant ohne das Bewusstsein der umwälzenden Bedeutung seiner Philosophie in dieser Richtung (auf das Soziale), Marx mit dem vollen Bewusstsein seiner entscheidenden Leistung. Diese Behauptung gipfelt in dem Satz, dass Marx das „a priori der Sozialtheorie gewonnen habe“, die „Denkmittel, durch welche überhaupt dieser unendliche Komplex des Geschehens in seiner formalen Gesetzlichkeit bewältigt werden kann“. So ist für Max Adler das „Kapital“ eine Kritik der politischen Ökonomie geworden, „das Wort Kritik im Kantschen Sinne genommen“ („Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft“. Marxstudien I, S. 316). Marx soll die „transzendentale Begründung“ der bei Kant noch stark metaphysisch gehaltenen Sozialtheorie geben (ebenda S. 320), die transzendentale Methode soll bei Marx eine neue Erfüllung gefunden haben, während andererseits Kant durch seine kritische Philosophie erst den Boden gewonnen hat, auf dem die transzendental gereinigte Theorie der sozialen Erfahrung erwachsen konnte. – Wir sehen ab von den vielen anderen Linien, die nach Adler von Kants praktischer Philosophie zu Marx hinüberführen sollen, und beschränken uns zunächst auf diese Hauptstellung des Problems.

Wir haben hier also eine Behauptung von weittragender Bedeutung vor uns: eine wahre innere Verbundenheit zwischen der Kantschen Philosophie und der Marxschen Theorie wird ausgesprochen und die transzendentale Methode als das Fundament dieser Sinnverbundenheit gesehen. – Wir wollen die Auseinandersetzung auf folgende Weise gliedern: Im ersten Teil soll die Transzendentalphilosophie daraufhin befragt werden, ob sie wirklich eine (kritische) Begründung der sozialen Erfahrung gibt und geben kann. – Im zweiten Teil soll untersucht werden, wie Max Adler seine These begründet und ob diese Begründung dem Sinn der Transzendentalphilosophie gerecht wird. – Ein dritter Teil soll dann die Frage aufwerfen, ob eine erkenntnistheoretische Begründung der sozialen Erfahrung überhaupt möglich ist und andeuten, wie Marx den Zugang zum sozialen Sein und Geschehen (in der dialektischen Methode) gewinnt.

 

I.

Wenn wir unsere erste Frage an die transzendentale Methode richten, so wird damit nicht willkürlich ein Stück aus der Kantschen Philosophie herausgerissen und die Untersuchung falsch oder einseitig zugespitzt. Die Methode eines wissenschaftlichen Werkes ist der Hebel, durch den am leichtesten ein solches Werk aufgelockert wird, ein System als Haltung, eine Philosophie als Philosophieren gesehen und verständlich gemacht werden kann. Die Weise und Richtung eines Forschens muss am ehesten erkennen lassen, wie den Forschenden die Welt begegnet und von ihm ergriffen wird, nicht als ob damit über die Wahrheit des Werkes schon etwas ausgemacht wäre, aber wo diese Wahrheit zu suchen ist, kann von hier aus ermittelt werden. Wir die dialektische Methode bei Marx unmittelbar ein konkretes Stellungnehmen in einer bestimmten geschichtlichen Situation, eine aktuelle Praxis bedeutet, so weist auch die transzendentale Methode auf ein solches Stellungnehmen zurück – nicht als bloßes Spiegelbild oder Reflex der bestehenden gesellschaftlichen Zustände (es gibt gerade für den Marxismus nichts Gefährlicheres als solche Oberflächendeutung), sondern wenn im wahren Ernst lebendig geworden, als Ausdruck einer echten menschlichen Grundhaltung, die zwar in der geschichtlichen Situation des damaligen menschlichen Daseins verwurzelt ist, aber mit eigener Lebendigkeit durch die Geschichte fortwirken kann.

Wir geben zunächst einige wesentliche Stellen, die den Sinn des Begriffs „transzendental“ bei Kant in Zusammenhang der Methodik klar werden lassen.

„Ich nenne alle Erkenntnisse transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (III, S. 49.)[4] – Die transzendentale Logik würde „auf den Ursprung unserer Erkenntnisse von Gegenständen gehen, sofern er nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann“. – Transzendental ist nicht „eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, dass und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sind (das ist die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori)“ (ebenda S. 83). – Eine Deduktion heißt transzendental zum Unterschied von einer empirischen, wenn sie die Art anzeigt, wie sich „Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“ (ebenda S, 106). – „Die transzendentale Deduktion aller Begriffe a priori hat also ein Prinzipium, worauf die ganze Nachforschung gerichtet werden muss, nämlich dieses: dass sie als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen“ (ebenda S. 111).

In der Vernunftkritik schließen sich dann die verschiedenen Bestimmungen des Begriffs „transzendental“ im Sinn der transzendentalen Methode zusammen. Dieser Sinn soll im folgenden zu umreißen versucht werden.

1. Die transzendentale Methode bedeutet in ihrem Ansatz eine bewusste und systematische Abwendung von den Gegenständen, wie wir sie in der raumzeitlichen Erfahrung als Wirklichkeit begegnen. Das schließt nicht aus, dass im Verlauf des Forschens auf diese Wirklichkeit dauernd hingeblickt wird als Beispiel, Verifizierung, Anwendung, aber der „Leitfaden“ der Methode ist sie nirgends. Das richtung- und zielgebende Interesse der Forschung liegt anderswo. Nicht das Hier und Jetzt der im täglichen Umgang begegnenden oder in der „natürlichen Einstellung“ geschauten Wirklichkeit, nicht die in ihr bestehenden Gesetzmäßigkeiten, nicht das konkrete Dasein des Menschen und sein Verhalten zur Welt soll erforscht werden – sondern die Möglichkeit dieser Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Die transzendentale Frage lautet in vorläufiger Verallgemeinerung: wie ist die konkrete Wirklichkeit als wissenschaftlich durchforschbares System der Erfahrung, als „Wahrheit“ der Erkenntnis überhaupt möglich? Man muss sich ganz klarmachen, was ein solcher Ansatz alles schon einschließt, um die Grundhaltung dieser Methodik erkennen zu können. Zunächst eine radikale Prüfung der Erfahrung und der in ihr gegebenen konkreten Wirklichkeit auf ihre „Gültigkeit“ hin (weit radikaler als der rationalistische Zweifel des Descartes, der viel schneller zur Ruhe kommt als die Kantsche Kritik), ein Zurückwerfen des ganzen Menschen (nicht nur des erkennenden, auch des handelnden) auf die Möglichkeit seiner Welt, eine „Kritik“ im allerschwersten Sinne, nicht nur der reinen, sondern auch der praktischen Vernunft. Eine Kritik, die den Schwerpunkt des Lebens aus dem Existieren in der alltäglichen Mit- und Umwelt herausreißt und ganz woandershin verlegt, indem sie dieser Welt an ihren zentralen Stellen die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit nimmt und sie konstitutiv auf eine andere Gesetzlichkeit verweist, deren Feld eben das Feld der Transzendentalphilosophie ist.

Merken wir einen Augenblick an, welch ungeheure revolutionäre Tendenz in einer solchen Kritik liegen kann. Der Begriff der Möglichkeit als Zentralbegriff der transzendentalen Methode kann allerdings die Wirklichkeit aufs letzte in Frage stellen. In voller Konkretion genommen kann er zu einer Auflösung der erstarrten Kategorien der Wirklichkeit führen und diese als bestehende Realität selbst erschüttern (die Erkenntnis der Kategorien als „Daseinsformen“ bei Marx liegt in dieser Richtung). Kant hat diese Richtung nicht eingeschlagen und sie konnte im Zuge der Transzendentalphilosophie überhaupt nicht eingeschlagen werden. Wir werden gleich sehen, wie eine andere Tendenz in der transzendentalen Methode wirksam wird, die dann den Weg der kritischen Philosophie entscheidend bestimmt.

2. Der Grund für jene radikale Abwendung von der Wirklichkeit (diese wird hier immer als das volle Korrelat der alltäglichen, „natürlichen“ Erfahrung, nicht etwa als bloßes „Material“ der Erfahrung, als Empfindungsdatum oder dergleichen, verstanden) wird in dem Satz offenbar, dass Notwendigkeit und Allgemeinheit die Kriterien „reiner“ Erkenntnis seien, und dass Notwendigkeit und Allgemeinheit in der Erfahrung der Wirklichkeit niemals gründen könnten. Dieser von Kant geradezu als Axiom hingestellte Satz schließt von vornherein den transzendentalen Idealismus und Apriorismus in sich. Auf dem Felde des transzendentalen Bewusstseins wird die Möglichkeit jener wahrhaft notwendigen und allgemeinen Erkenntnis entdeckt, durch die Erfahrung überhaupt erst sich konstituiert. Dort finden sich die reinen Anschauungsformen und Verstandesbegriffe (Kategorien), unter denen die Wirklichkeit, jedes Hier und Jetzt, von vornherein steht: angeschaut und begriffen wird. Dann allerdings hört die Wahrheit der Wirklichkeit auf, ein Problem zu sein, da sie a priori durch die transzendentale Synthesis des reinen Bewusstseins gewährleistet wird, deren Werk sie eigentlich erst ist, durch die sie als „wahr“ konstituiert wird. Dafür aber taucht ein anderes Problem auf: wie sind jene reinen apriorischen Formen und Begriffe selbst und wie ist ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung möglich? Die Möglichkeit der „wahren“ Wirklichkeit ist gesichert (durch den Apriorismus des Bewusstseins), aber die Möglichkeit dieser Möglichkeit selbst ist Problem, das eigentlich transzendentale Problem geworden.

Brechen wir die Kennzeichnung der transzendentalen Methode hier zunächst ab. Die radikale Kritik, das In-Frage stellen der Wirklichkeit ist zum Ende gekommen in dem Augenblick, wo sie durch das Apriori des reinen Bewusstseins gerettet wurde. Damit hatte sich ein von der Philosophie bisher unbeachtetes Gebiet eröffnet, das nun von der Transzendentalphilosophie in vollem Umfang durchforscht wurde. Sie entdeckte, dass nicht nur die Welt des erkennenden, sondern auch des handelnden Menschen unter dem Apriori steht, und damit wurde auch die Wahrheit der „Praxis“ wie vorher die Wahrheit der Theorie aus dem Hier und Jetzt der Wirklichkeit, aus der Bedrängnis der jeweiligen Mit- und Umwelt zurückgewendet auf ein Vernunftreich der Freiheit und der Zwecke, in dessen apriorischer Gesetzmäßigkeit alles Tun sein Sinn und seine Erfüllung findet, von denen ihm die Wirklichkeit nichts nehmen, aber die sie ihm auch nicht mehren kann.

Auf dieser Stufe der Transzendentalphilosophie hat die Abwendung von der Wirklichkeit ihren Höhepunkt erreicht. Folgende Überlegung soll diese Tendenz noch einmal klar werden lassen. Sind einmal Notwendigkeit und Allgemeinheit zu Kriterien der Wahrheit gemacht, und zwar Notwendigkeit als „nicht anders sein können“ und Allgemeinheit als etwas, wovon „gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird” (III, S, 35 f.), so verlangen solche Begriffe von Notwendigkeit und Allgemeinheit allerdings ein alles „Materiale“ der Wirklichkeit ausschaltendes formales Prinzip. Denn jedes Stück Wirklichkeit kann auch anders sein und lässt Ausnahmen zu, Wirklichkeit (nicht das Objekt der mathematischen Naturwissenschaft!) ist Geschehen in der Zeit, und in der Geschichte haben Notwendigkeit und Allgemeinheit einen anderen Sinn (im dritten Teil soll im Zusammenhang der dialektischen Methode darauf zurückgekommen werden). Jedes formale Prinzip erkauft so seine Wahrheit mit wachsender Entwirklichung. (Die Einwände gegen den Formalismus der Kantschen Philosophie, besonders der Ethik, sind so alt wie diese selbst. Wir wiederholen sie hier nicht gegen die immanente wissenschaftliche Wahrheit dieser Philosophie, sondern ausschließlich gegen ihr Verhalten zum sozialen Sein und Geschehen, zur sozialen Erfahrung). Der kategorische Imperativ, der transzendentale Begriff des Rechtes, des Staates usw. sind ebenso unzweifelhaft „wahr“ wie leer: sie rechtfertigen in der Welt des konkreten Daseins zur Not jedes Handeln, bis auf eines – das auf den faktischen Umsturz der bestehenden Wirklichkeit geht. Denn dieses Handeln muss in einer solchen existenziellen Anerkennung der konkreten Wirklichkeit leben, dass es die „Wahrheit“ allein in ihr zu sehen vermag – ein Standpunkt, der für den Apriorismus der Transzendentalphilosophie der schlechthin entgegengesetzte ist.

Wir haben die transzendentale Methode nur soweit zu skizzieren versucht, als es der Zusammenhang unserer Aufgabe zu erfordern schien. Vieles musste fortbleiben, und keineswegs wollen diese Andeutungen eine Analyse unseres Gegenstandes darstellen.

Nur die Grundtendenz der transzendentalen Methode sollte im Hinblick auf die Interpretationen Max Adlers herausgestellt werden. Als Ergebnis können wir zusammenfassen: Die transzendentale Methode zielt auf ein Gegenstandsgebiet, das seinem Sein nach ein völlig anderes ist als die in Raum und Zeit geschehende Wirklichkeit. Diese ist vielmehr schon im Ansatz der Transzendentalphilosophie bewusst ausgeschaltet. Am klarsten zeigt diese Ausschaltung im Ansatz der Methode die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ (III, S. 610 ff.).[5] Jenes unerkennbare „Ding an sich“, von dem die „Kritik der reinen Vernunft“ die Frage endgültig abwenden will, ist kein „Grenzbegriff“, auch kein Gegenstand „hinter“ den Erscheinungen, sondern – die konkrete Wirklichkeit in ihrem in der alltäglichen Erfahrung gemeinten Eigensein. Die Trennung zwischen Erscheinung und Ding an sich schafft nicht zwei ihrem Sein und Wesen nach verschiedene Gegenstandsgebiete, sondern sie geht auf ein und dasselbe Seinsgebiet: die Wirklichkeit als Korrelat der Erfahrung. Durch deren transzendentale Reinigung steht das, was eben noch im Vollzug der natürlichen, „dogmatischen“ Erfahrung, im Handeln und Erkennen als Ding an sich genommen wurde, nun als durch das Bewusstsein a priori konstituierte Erscheinung da, wie umgekehrt jede Erscheinung durch den Anspruch als Wirklichkeit im konkreten Umgang des alltäglichen menschlichen Daseins zum Ding an sich wird.

Wir wissen, dass diese Interpretationen auf den ersten Blick als völlig gewaltsame Umdeutungen erscheinen müssen. Aber man muss sich an dieser Stelle frei machen von allen aus der mathematischen Naturwissenschaft stammenden Vormeinungen, wonach das „An sich“ der Dinge aus der Wirklichkeit durch eine Reihe wissenschaftlicher Abstraktionen herausdestilliert werden müsse. Auf ein solches physikalisches „An sich“ kann der Ding-an-sich-Begriff im Zusammenhang der Vernunftkritik nicht zielen. Er geht vielmehr auf das Ding, wie es unabhängig, „abgesehen“ von unseren Bewusstseinsformen sein könnte. Gerade so aber meinen wir die Dinge im Vollzug der alltäglichen Erfahrung, gerade so begegnen sie in der alltäglichen Welt, gerade so „leben“ wir mit und in ihnen, und erst und nur in jener transzendentalen Reinigung der natürlichen Erfahrung werden sie als „Erscheinung“ des Bewusstseins sichtbar! Erst nach der transzendentalen Ausschaltung der Wirklichkeit bekommt der Begriff des Dings an sich als „Grenzbegriff“ des Erkennens einen Sinn.

Stellen wir nun die für unsere Aufgabe entscheidende Frage: Wie leistet die Transzendentalphilosophie eine Begründung der sozialen Erfahrung? Wie bekommt sie das „Soziale“ als Gegenstand in den Blick und wie bestimmt sie das Wesen dieses Gegenstandes?

Bestimmen wir zunächst das Soziale als Gegenstandsgebiet. Wir meinen damit das gesellschaftliche Sein des Menschen, genauer das Sein des vergesellschafteten Menschen (wir halten uns absichtlich an die Marxschen Bestimmungen) und seine Mit- und Umwelt, soweit sie von ihm ergriffen und verändert wird. Überall nun, wo das Soziale als Gegenstand in der Kantschen Philosophie auf seine Prinzipien hin durchforscht wird, da liegt diese Forschung durchaus im Zuge der transzendentalen Methode (auf die Ausnahme der kleineren geschichtsphilosophischen Abhandlungen wird im zweiten Teil einzugehen sein): so in der „Kritik der praktischen Vernunft“ und in der „Metaphysik der Sitten“. D. h. nicht nur wird die soziale Erfahrung ebenso wie die theoretische in einer apriorischen, formalen Gesetzmäßigkeit begründet, sondern das Soziale wird ebenfalls einer transzendentalen Reinigung unterworfen, seine „Wirklichkeit“ wird ausgeschaltet. Und indem die soziale Wirklichkeit unter die Idee eines Vernunftreichs der Zwecke und einer intelligiblen Freiheit gestellt wird, bleibt erstens für das konkrete gesellschaftliche Sein und Handeln in der Geschichte nur eine unendliche „Annäherung“ an das im Vernunftreich gründende „Endziel“ übrig, und wird zweitens dieses Sein und Handeln – da die transzendentalen Begriffe von Notwendigkeit und Allgemeinheit auch für das soziale Geschehen aufrecht gehalten werden – in solcher Weise formalisiert, dass es in seiner konkreten Fülle überhaupt nicht mehr getroffen wird. Konnte solches Verfahren in der theoretischen Philosophie unbeschadet der wissenschaftlichen Wahrheit möglich sein (ja wurde gerade dadurch ein völlig neues Feld von Wahrheiten entdeckt), so musste es in der praktischen Philosophie von vornherein den Zugang zu ihrem Gegenstand verschütten. Denn das gesellschaftliche Sein des Menschen verlangt, da es wesentlich nur als „Geschehen“ in der „Geschichte“ möglich ist, einen methodischen Zugang, der es als wesentlich geschichtliche Wirklichkeit ergreift. Man braucht nur die transzendentalen Begriffe des Rechtes, des Staates, der Freiheit u. a. bis in ihre letzten Konsequenzen zu durchdenken, um zu erkennen, dass diese aufs äußerste formalisierten Prinzipien gegen den eigentlich geschichtlichen Inhalt gleichgültig sind, an das soziale Geschehen überhaupt nicht herankommen. – Ein einziges Beispiel. Der Staat ist nach der Definition der „Rechtslehre“ eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (VII S. 119). Diese Vereinigung ist aber nicht etwa ein irgendwann und irgendwie einmal eingetretenes geschichtliches Faktum, sondern sie liegt „a priori in der Vernunftidee“ als notwendiger Übergang vom nichtrechtlichen zum rechtlichen Zustand (ebd. S. 118). Jeder wirkliche Staat, er mag sein wie er wolle, hat diese Idee des Staates und die Idee der allgemeinen autonomen Willensvereinigung des Volkes zur „Richtschnur“. Ebenso sind die „drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt hervorgehen, nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objektive praktische Realität hat“ (ebenda S. 146). So repräsentiert jeder bestehende Staat eine apriorische Rechtsordnung, deren Umsturz die Aufhebung des Rechtes selbst bedeuten würde und daher schlechthin verwerflich ist: „denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt zu urteilen, schon als unter einem allgemeinen gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muss, so kann und darf es nicht anders urteilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt es will“ (ebenda S. 125). Ist jedoch andererseits der Umsturz gelungen, so darf und muss der daraus neu entstandene Staat ebensosehr apriorische Rechtskraft verlangen wie vorher der gestürzte.

Dieses eine Beispiel wird gezeigt haben, wie stark bei der transzendentalen Behandlung des sozialen Seins die völlige Ausschaltung der Wirklichkeit als Geschehen in der Zeit wirksam ist. Wir wollen hier vordeuten, durch welches im Vollzug der transzendentalen Methode notwendig liegende Prinzip es unmöglich gemacht wird, das soziale Geschehen überhaupt zu erreichen. Es ist der transzendentale Begriff der Zeit, der zu einer völligen Verkennung des sozialen Seins führen muss. Solange im Forschungsfeld der Transzendentalphilosophie die Zeit nur als apriorische Anschauungsform begriffen wird, diese damit zugleich als nur empirisch auf die „Erscheinungen“ eingeschränkt, das Dasein der „Dinge an sich selbst aber als zeitlos“ dargestellt wird (V S. 103 ff.), kann das soziale Geschehen als Wirklichkeit gar nicht in den Blick der Transzendentalphilosophie kommen. Denn seine Wirklichkeit ist gerade die Zeit – nicht als apriorische Anschauungsform, sondern als Grund und Sein des Geschehens selbst, als Geschichte. Wir wollen später zu zeigen versuchen, dass überall da, wo bei Kant ein echtes Ergreifen des. sozialen Geschehens als Geschichte vorkommt, es nur unter Aufgeben und im Gegenzug gegen den transzendentalen Zeitbegriff gewonnen wird.[6]

 

II.

Sehen wir nun zu, wie Max Adler die transzendentale Begründung der sozialen Erfahrung auffasst. Es wird dazu nötig sein, die wichtigsten Stellen im Wortlaut anzuführen.

„Es darf nicht länger übersehen werden, dass auch der soziale Charakter des menschlichen Seins einen Zusammenhang mit der Transzendentalphilosophie hat, ebenso in einem transzendentalen Grund seiner Möglichkeit nach für ein Erkennen bestimmt ist, wie der Naturcharakter alles Seins überhaupt“ („Kausalität und Teleologie“ S. 361). Die Möglichkeit des sozialen Seins hat ihren Erkenntnisgrund in der theoretischen Philosophie. Er liegt in dem Begriff des „Bewusstseins überhaupt“, wie Kant ihn entdeckt hat. Indem das „Bewusstsein überhaupt“ durch seine apriorischen Formen und Begriffe die Erfahrungswelt in schlechthin notwendiger und allgemeingültiger Weise konstituiert, ist das empirische Ich mit seiner „Substanzialität, Singularität und Identität“ lediglich die Form, unter der „Bewusstsein überhaupt“ vorkommt (ebenda S, 364), es ist nur der Ausdruck eines „gattungsmäßigen“ Bewusstseins. So weist „die formale Denknotwendigkeit“ im Einzelbewusstsein einen untilgbaren Charakterzug auf, der alles Denken schon von der Wurzel an in ein Gemeinschaftsverhältnis setzt, welches jedes besondere, historische Gemeinschaftsverhältnis überhaupt erst möglich erscheinen lässt. In der „Eigenart des menschlichen Denkens, bei all seiner Besonderung als Einzelbewusstsein doch gleichzeitig Erscheinung des Bewusstseins überhaupt zu sein“, liegt der „transzendentale Grund, welcher das Auf- und Miteinanderwirken der Menschen im Produktionsprozess der Wahrheitserkenntnis erst möglich macht“ (ebenda S. 380). Und in noch zugespitzterer Formulierung heißt es: „Diese eigenartige Verbindung jedes Einzelbewusstseins, durch welche es sich in allen seinen Funktionen überhaupt nur als gattungsmäßiges Bewusstsein erleben kann, begründet das Wesen des sozialen Verbandes, die Vergesellschaftung, diese Grundtatsache aller Sozialwissenschaft“ („Kant und der Marxismus“, S. 33). Und in dem Buch „Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik“ wird die „Transzendentalsoziale Beziehung“ so definiert: Die „Erkenntnisbeziehung, durch welche das menschliche psychische Verhalten schon im Einzelindividuum denknotwendig durch die Kategorie der Allgemeingültigkeit über seine eigene Begrenztheit hinaus in Bezug gesetzt ist zu jedem anderen in einer Erfahrung auftretenden Erkenntnissubjekt“ (S. 25).

Wir stellen zunächst fest: Max Adler ist transzendentaler als die Transzendentalphilosophie. Denn während diese zur Begründung des Sozialen eine praktische Vernunft nötig hatte und außer der apriorischen Gesetzmäßigkeit des reinen Bewusstseins die Postulate der moralischen Vernunft einführen musste, schließt der Marxist Max Adler die soziale Beziehung unmittelbar an die theoretische Philosophie, die Erkenntnistheorie und ihren Begriff des „Bewusstseins überhaupt“ an. – Max Adlers Folgerungen sind klar und zwingend, wenn das „Bewusstsein überhaupt“ wirklich die Eigenschaften aufweist, die ihm hier zugeschrieben werden. Wir wollen uns aber dies „Bewusstsein überhaupt“ im Zusammenhang der Kantschen Philosophie einen Augenblick näher ansehen.

Kant gewinnt das „Bewusstsein überhaupt“ in der Leistung der reinen Synthesis der transzendentalen Apperzeption. Die Frage nach der apriorischen Konstitution der Erfahrung führte im Zuge der transzendentalen Methode zuerst zur Ausschaltung der in Raum und Zeit geschehenden Wirklichkeit. Damit war der Blick frei gemacht für das Feld des aller Erfahrung konstitutiv vorhergehenden Bewusstseins, auf das sich die Frage nach der Möglichkeit des Apriori zurückverwiesen sah. Aber noch blieb dies Bewusstsein gebunden an das empirische Ich in seiner vollen Einzelhaftigkeit, als dessen Leistung es noch auf dieser ersten Stufe der transzendentalen Reinigung erscheint. In diesem Bewusstsein konnte die apriorische Konstitution nicht verwurzelt werden, ohne notwendig wieder der empirischen Welt zu verfallen. So kommt die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zu einer weiteren Reinigung und Ausschaltung. Die Leistungen des empirischen Bewusstseins führen in ihrer Notwendigkeit und Allgemeinheit zurück auf die „transzendentale Apperzeption des reinen Ich“, „Das Bewusstsein seiner selbst als Bestimmung seines inneren Zustandes (innere Wahrnehmung) ist selbst noch empirisch, es hat eine „ursprüngliche und transzendentale Bedingung,“ die es selbst und seine Erfahrung allererst möglich macht: „das reine, ursprüngliche, unwandelbare Bewusstsein“ (III S. 616).

Halten wir diese Deduktion des reinen Bewusstseins mit den im ersten Teil gegebenen Bestimmungen der transzendentalen Methode zusammen, so wird klar werden: das reine Bewusstsein ist die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung, es ist das Ergebnis jener doppelten transzendentalen Reinigung, bei dem jede Vermengung mit der Wirklichkeit völlig sinnlos wird. Die Funktionen dieses Bewusstseins gehen ausschließlich auf Möglichkeiten, sein Gegenstand ist ausschließlich der Gegenstand als Möglichkeit, die pure Einheit des Mannigfaltigen als „Form“, der „transzendentale Gegenstand“, „der wirklich bei allen unseren Erkenntnissen immer einerlei = x ist“ (ebenda S. 617). Dieses Bewusstsein als den „transzendentalen Grund des sozialen Verbandes, der Vergesellschaftung auffassen, ist eine contradictio in adjecto. Sie beruht auf einer Verkennung des Wesens der transzendentalen Methode. Das soziale Sein ist das schlechthin niemals bloß Mögliche, das wesentlich und seinsmäßig Wirkliche. Es liegt also in einer Sphäre, die von der Transzendentalphilosophie gar nicht befragt wird, die schon im Ansatz der Methode ausgeschaltet ist.

Die Interpretationen Max Adler sind nur durch eine Reihe von Missverständnissen möglich, die alle in der falschen Deutung des „Bewusstseins überhaupt“ wurzeln. Alle kommen sie daher, dass den Möglichkeiten des Bewusstseins überhaupt Wirklichkeiten untergeschoben und diese Wirklichkeiten dann wieder transzendental gedeutet werden, Zunächst: das reine Bewusstsein ist nichts „Gattungsmäßiges“ und kann daher auch keine gattungsmäßige Allgemeingültigkeit der Erfahrung begründen, die das individuelle Denken zu einem bloß empirischen „Schein“ macht („Kausalität und Teleologie“ S. 368). Alles Gattungsmäßige ist ein Wirkliches, zwar nicht hier und jetzt existierend, aber als wirkliches Allgemeines ein Wesen von Wirklichem. Dadurch wird also das transzendentale Bewusstsein wieder als Wirkliches angesprochen, es empirisch belastet. – Ferner: das individuelle Denken des Einzel-Ich ist kein empirischer Schein, auch nicht eine „Form, in der Bewusstsein von sich weiß“ („Kant und der Marxismus“ S. 156), sondern eine höchst konkrete und wahre Wirklichkeit, genau so wie sie erlebt wird. Für die Transzendentalphilosophie steht das Bewusstsein des Einzel-Ich zum reinen Bewusstsein nicht in dem Verhältnis von Schein zu Wahrheit, sondern von Wirklichkeit zu Möglichkeit. Für den Marxisten Max Adler ist die „Wirklichkeit an sich“ eine „dumpfe, alles konsequente Denken zuletzt erdrückende Last“ („Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik“ S. 107) – der kritische Idealismus hat vor dieser Wirklichkeit nicht solche Angst: er lässt sie in ihrer „drückenden Last“ ruhig bestehen und schaltet sie nur in der Methodik des philosophischen Forschens aus.

Doch lassen wir dies zunächst beiseite. Nehmen wir auch einen Augenblick an (was wir von Grund aus bestreiten), dass eine erkenntnistheoretische Begründung der sozialen Erfahrung möglich ist. Die Transzendentalphilosophie könnte diese nur dann leisten, wenn die von ihr entworfene apriorische Konstitution der Erfahrung einen wirklichen Prozess darstellen könnte (der deshalb noch nicht bewusst abzulaufen brauchte), wenn also wirklich jedes Einzelbewusstsein von vornherein in eine von einem „allgemeinem Bewusstsein“ erzeugte Welt, wenn es auf ein solches allgemeines Bewusstsein und seine apriorischen Formen und Begriffe in seiner konkreten Existenz von vornherein verwiesen wäre. Eine solche Deutung nimmt Max Adler in der Tat vor. Er spricht von einem „Produktionsprozess der Erfahrung“, einem „Produktionsprozess der Wahrheitserkenntnis“: „Mit einer bis dahin unerhörten Kühnheit der Auffassung hat Kant den genetischen Gedanken nicht etwa bloß auf den oder jenen Inhalt des Erkennens, sondern auf dieses selbst angewendet. Hierdurch wurde der sonst so starre Begriff unseres Erkenntnisvermögens aufgelöst in die Vorstellung von dem Prozess des Zustandekommens der Erkenntnis“ (ebenda S. 79). Hier werden die Begriffe „genetisch“, „Prozess“, „Zustandekommen“ wieder aus der transzendentalen Sphäre in die Wirklichkeit hinübergenommen. Sie bezeichnen aber im Zusammenhang der Vernunftkritik eine logische bzw. erkenntnistheoretische Funktionalität, niemals eine wirkliche, auf die doch wohl das Wort „Produktionsprozess“ bei Adler hindeuten soll. Die Notwendigkeit und Allgemeinheit, mit der durch die reine Synthesis der transzendentalen Apperzeption eine einheitliche Erfahrung konstituiert wird, macht noch nicht das geringste aus über eine Vielheit von Individuen, über ein Zusammen-Sein von Menschen in der Welt, über das Soziale. – All diese Begriffe behielten ihren vollen Sinn, auch wenn man nur ein einziges Bewusstsein als empirisches Ich annehmen würde – aber auch diese Annahme wäre nicht im Sinne der Transzendentalphilosophie, die eben über die Wirklichkeit nichts ausmachen will.

Wohl gibt es bei Kant eine Stelle, wo die Beziehung der apriorischen Gesetzmäßigkeit des Bewusstseins zur empirischen Wirklichkeit in ihrer ganzen Möglichkeit zum entscheidenden Problem wird: es ist die Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Erfahrung, wie sie im „Schematismus der reinen Verstandesbegriffen“ entworfen wird. Und hier, im Ansprechen der Zeit als des transzendentalen Schemas, bricht ein Zeitbegriff durch, der in der Tat den Weg zu einer vollen Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit freimachen kann. Aber im Zuge der Transzendentalphilosophie wird dieser Weg nicht verfolgt. Wir wollen die kleineren geschichtsphilosophischen Abhandlungen Kants, in denen diese Richtung eingeschlagen wird, in aller Kürze heranziehen, um zu zeigen, dass hier, wo wirklich das soziale Geschehen erreicht wird, dies nur im Gegenzug zur Transzendentalphilosophie möglich wurde.

Wir haben schon vordeutend darauf hingewiesen, dass überall da, wo in der Kantischen Philosophie die Geschichte als Sphäre des sozialen Seins erkannt wird, auch ein neuer Zeitbegriff auftaucht, der sich mit der transzendentalen Bestimmung der Zeit als apriorischer Anschauungsform nicht mehr deckt. In der „Kritik der praktischen Vernunft“, die das handeln des Marschen noch ganz im Sinne der Transzendentalphilosophie betrachtet, wurde auch das Problem des Widerspruches zwischen Zeit und Freiheit noch „transzendental“ gelöst: „Der Begriff der Kausalität als Naturnotwendigkeit zum Unterschiede derselben als Freiheit betrifft nur die Existenz der Dinge, sofern sie in der Zeit bestimmbar ist, folglich als Erscheinung im Gegensatz ihrer Kausalität als Dinge an sich selbst.“ Und es wird jedes Dasein, sofern es in der Zeit bestimmbar ist, als Erscheinung und der Kausalität als Naturnotwendigkeit unterworfen angesprochen, die Freiheit aber denselben Wesen als Dinge an sich selbst, also sofern es nicht in der Zeit bestimmbar ist, beigelegt (V, S. 103 f.). Damit ist eine konkrete Betrachtung des sozialen Geschehens, das eben wesentlich in der Zeit ist, unmöglich gemacht und eben jene formal-apriorische Behandlung der Praxis übrig g blieben, die sich treffend in folgender Definition kund tut: „So lässt sich begreifen, warum in der ganzen Vernunftvermögen nur das Praktische dasjenige sein könne, welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft und Erkenntnisse von einer übersinnlichen Ordnung und Verknüpfung verschaffe, die aber eben darum freilich nur soweit, als es gerade für die reine praktische Absicht nötig ist, ausgedehnt werden können“ (ebenda s. 115).

In dem kleinen Aufsatz „Das Ende aller Dinge“ erfährt der Zeitbegriff zwei entscheidende Umdeutungen. Einmal wird jetzt für die moralische Existenz des Menschen der Begriff der „Dauer“ eingeführt, als eine mit der empirischen Zeit „ganz unvergleichbare Größe“, von der aber doch wohl irgendeine Bestimmung als „Zeitgröße“ angenommen werden muss. Zweitens wird die empirische Zeit mit der Wirklichkeit in einer ganz neuen Weise verbunden, indem ihr Aufhören das Ende aller Dinge als Gegenstände der Sinne und die Vernichtung der menschlichen Existenz selbst bedeuten soll: „Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewusst werden kann, muss ein solches Leben (ohne Veränderung, also ohne Zeit) der Vernichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einen solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muss, Denken aber ein Reflektieren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann“ (VI, s. 419). Hier bricht, noch weit radikaler als im Schematismus der Vernunftkritik, die Bestimmung der Zeit als eines „konkreten Apriori“ allen Denkens und der ganzen menschlichen Existenz durch, eine Zeit, die dann erst auch den transzendentalen Zeitbegriff ermöglichen würde, dieser also noch vorhergeht.

In dieselbe Richtung des Ergreifens der konkreten Wirklichkeit führt die Gewinnung des Zeitbegriffs in der Schrift „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. Hier wird die „Erwartung des Künftigen“, das „Vermögen, entfernte Zeit sich gegenwärtig zu machen“, als der geschichtlich-vernünftige Ursprung des menschlichen Daseins mit Sorge und Not, als der Grund des für alles menschliche Dasein wesentlichen Kampfes mit der Mit- und Umwelt bis zu dem entscheidenden Erlebnis des Todes bezeichnet (IV, S. 331 f.), und im Zusammenhang damit erscheint die Freiheit des Menschen als „Wahl der Lebensweise“, als „Entscheidung“, nicht in einem übernatürlichen Vernunftreich, sondern in der konkreten Wirklichkeit (ebenda S. 330). Die mythologische Einkleidung, die Kant diesen Erkenntnissen in der zitierten Abhandlung gegeben hat, darf nicht über ihren wahren Ernst hinwegtäuschen, in ihnen werden neue Tendenzen sichtbar, die im Zuge der transzendentalen Begriffe von Zeit und Freiheit nicht gefunden werden konnten.[7]

Doch nicht auf diese Tendenzen, in deren Verfolg wirklich ein Erreichen des sozialen Geschehens liegen könnte, stützen sich die Interpreten einer transzendentalen Begründung der sozialen Erfahrung bei Kant, sondern außerhalb des Systems der Vernunftkritiken verweisen sie am liebsten auf die „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, und hier hat es ihnen besonders der vierte Satz angetan, den wir in seiner Wortlaut anführen wollen: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird“ (IV, S. 115). Scheint doch in diesem Satz schon die ganze Dialektik des sozialen Geschehens im Rahmen einer strengen Kausalerklärung ausgesprochen. Aber sehen wir zu, wie Kant den Begriff des Antagonismus auffasst: „Ich verstehe darunter die ungesellige Geselligkeit der Menschen, das ist den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur“ (ebenda). Danach ist also das soziale Sein und Geschehen das Resultat einer menschlichen Naturanlage, einer Neigung, eines doppelten Triebes: des Triebes zur Vergesellschaftung und zur Vereinzelung. Es ist nichts Ursprüngliches: das Ursprüngliche wäre eine Vielheit von Individuen, die sich im Laufe der Entwicklung vergesellschaftet. Es ist nichts Ursprüngliches auch noch in einer anderen Richtung: es ist ein „Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen“. Betrachten wir, welchen Sinn der Begriff „Natur“ hier wie überall in den geschichtsphilosophischen Abhandlungen Kants hat, so werden wir finden, dass es durch den Begriff der „Vorsehung“ notwendig mit dem moralischen Vernunftreich der Zwecke und der Idee des Endziels verbunden ist, eine Verbindung, die man keineswegs als Umschreibung oder als bloßen Rest einer metaphysischen Denkweise beiseiteschieben darf, ohne den Sinn der Kantschen Geschichtsphilosophie zu verfälschen. Von hier aus erfährt der anscheinend so kausal dialektische Charakter des Antagonismusbegriffs eine andere Deutung: der Antagonismus steht im Dienste des „Fortschritts“, nicht als Entwicklung des Geschehens, sondern als Aufstieg zum „Besseren“. Schlaglichtartig beleuchtet diese Tatsache die Antwort, die im „Streit der Fakultäten“ auf die Frage gegeben wird: „in welcher Ordnung allein kann der Fortschritt zum Besseren erwartet werden?“ Sie lautet: „Nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern von oben herab“ (VI, S. 405).

Fassen wir noch einmal zusammen. Die Transzendentalphilosophie kann ihrem Wesen nach keine Begründung der sozialen Erfahrung leisten, weil sie schon im Ansatz der Methode die konkrete Wirklichkeit, in der allein soziale Erfahrung gründen kann, ausschaltet. Die Auffassung des „Bewusstseins überhaupt“ als „sozialer Kategorie” (in der Meinung, durch die apriorische Konstitution der Welt im Bewusstsein überhaupt stände jedes Einzelbewusstsein von vornherein schon in einem überindividuellen allgemeinen Erfahrungszusammenhang) missdeutet den transzendentalen Begriff des reinen Bewusstseins, der einen Wesenszusammenhang des Erkennens, ein „rein logisches Wertverhältnis“ bezeichnet (Cassirer, Erkenntnisproblem II3 S.. 668.) als wirkliche Potenz, seine transzendental-logische Leistung als realen genetischen Prozess. – In alle Ewigkeit führt kein Weg der Transzendentalphilosophie von der Welt des reinen Bewusstseins und seiner Konstitution der Erfahrung zur Welt des sozialen Seins, bleibt eine transzendentale Begründung der sozialen Erfahrung ein Unding.

 

III.

Stellen wir nun die allgemeine Frage: ist eine erkenntnistheoretische Begründung der sozialen Erfahrung überhaupt möglich? Zunächst ist diese Frage von einer Doppeldeutigkeit zu reinigen. Sie kann einmal auf die soziale Erfahrung als Gegenstand eines wissenschaftlich durchforschbaren Systems gehen und zielt dann auf die erkenntnistheoretische Grundlegung der Sozialwissenschaft: als Besinnung auf die Methodik, die Grundbegriffe dieser Wissenschaft und die durch die Gegebenheitsweise ihres Gegenstandes geforderte Weise der Forschung – Oder aber die Frage zielt auf eine erkenntnistheoretische Grundlegung des sozialen Seins und Geschehens selbst, auf die Konstitution des Sozialen als Gegenstandes der Erfahrung. – Bei Max Adler werden beide Fragestellungen nicht immer klar auseinandergehalten. Die Möglichkeit einer erkenntnistheoretischen Begründung der Sozialwissenschaft wird in keiner Weise bestritten werden können, was Max Adler hierzu beiträgt, gehört in eine wissenschaftliche Diskussion über die sozialwissenschaftliche Methodik und soll hier nur soweit herangezogen werden, als es mit Deutungen belastet ist, die schon aus jenem anderen Fragenkomplex herübergenommen sind.

Die zweite Frage behauptet schon ihrer Stellung nach folgendes: das soziale Sein und Geschehen ist erst möglich auf Grund eines apriorischen Erkenntniszusammenhanges, es konstituiert sich als Gegenstand eines „sozialen Bewusstseins“ und seiner erkenntnismäßigen Gesetzlichkeiten. Das gesellschaftliche Sein der Menschen konstituiert sich also in ihrem „a priori vergesellschafteten Bewusstsein“. – Man muss sich endlich einmal klar werden, welche Konsequenzen diese These im Zusammenhang der marxistischen Theorie bedingt – ihren immanenten Wahrheitsgehalt vorläufig noch beiseitegelassen. Sie stellt den marxistischen Grundsatz über das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein wieder auf den Kopf! Wenn hier eingewandt wird, dass wir damit Max Adlers Feststellungen über ein logisches Verhältnis einen realistischen Sinn unterschieben, so weisen wir nur darauf hin, dass auch der Marxsche Satz mit demselben Recht eine logische Deutung verlangt und wahrlich mehr und anderes sagen will, als dass die Menschen erst gesellschaftlich existieren müssen, um Bewusstsein haben zu können! Wir glauben zwar zeigen zu können, dass im Augenblick der Verschmelzung von logischem und sozialen Sein in einem Erkenntniszusammenhang der Sinn des Unterschiedes zwischen logischer und realistischer Auffassung verloren gehen muss, aber wir wollen vorläufig beide, die Adlersche und die Marxsche Behauptung, in ihrer logischen, nicht realistischen Bedeutung nehmen,

In dieser Bedeutung genommen besagen beide Sätze: das Zusammen-Sein der Menschen in der Gesellschaft (als soziales Sein und Handeln) geht allem Zusammen-Sein der Menschen als Subjekte des Erkennens voraus (Marx). – Und das Zusammen-Erkennen der Menschen in einem „Bewusstsein überhaupt“, der Zusammenhang des Erkennens im Bewusstsein, macht das gesellschaftliche Sein der Menschen allererst möglich (Max Adler). – Wobei also in beiden Sätzen das „Vorausgehen“ und „Möglichmachen“ einen Wesenszusammenhang, keinen bloßen Tatbestand bezeichnen soll.

Prüfen wir nun kurz, welche dieser beiden Behauptungen der sozialen Erfahrung entspricht.[8] Der Mensch existiert jeweils in einer bestimmten Mit- und Umwelt, als Mensch mit Menschen und Dingen, so dass diese Mit- und Umwelt sich ihm zwar in der Entwicklung der Erfahrung mehr und mehr erschließt, ihm aber von Anfang an als wesentlich zu ihm gehörig offenbar ist. Er existiert vom Anbeginn an „gesellschaftlich“; d.h, die Eindrücke, die er empfängt und auf die er reagiert, kommen ihm von Gegenständen, die schon in einem „sozialen“ Zusammenhang stehen und auf einen solchen verweisen (Gebrauchsdinge, der Umkreis des Hauses und Ortes bis zur bewohnten und bebauten Landschaft „draußen“, Menschen des täglichen Umgangs usw.). Die ersten Antriebe seines Wollens und Handelns erhält der Mensch aus solcher Mit- und Umwelt, und jede seiner Wollungen und Handlungen selbst, von der rein reflexiven und instinktiven Bewegung angefangen, sind auf eine soziale Mit- und Umwelt „angelegt“, auf die auch die Sprache als wesentliche Verlautbarung menschlichen Daseins mit und für andere von Geburt an abzielt. Nirgends aber – und darauf kommt es uns hier an – erfährt der Mensch sein gesellschaftliches Dasein als „Erkenntniszusammenhang“, nirgends stößt er auf den Mitmenschen als Subjekt desselben überindividuellen Erkennens – so wenig, dass solche Phänomene überhaupt erst und nur in Abwendung von der alltäglichen sozialen Existenz, in wissenschaftlich-theoretischer Abstraktion erscheinen. Ja gerade als Subjekt des Erkennens erfasst sich und den Mitmenschen der Mensch wesentlich als Individuum, als Einzelbewusstsein, und erst durch eine Reihe sehr diffiziler Ausschaltungen werden die auf ein „Bewusstsein überhaupt“ gehenden Erkenntniszusammenhänge sichtbar. Sondern überall begegnet der Mitmensch nicht als ein Mit-Erkennender, sondern als ein Mit-Existierender, wird die soziale Umwelt im alltäglichen Existieren, nicht im Erkennen als gemeinsame ergriffen und gestaltet (mit Existieren meinen wir hier und an anderen Stellen immer die ganze konkrete alltägliche Daseinsweise des Menschen in der unzerreißbaren Totalität aller ihrer Lebensäußerungen).

Man wird einwenden, dass all dies von den Interpreten einer erkenntnistheoretischen Begründung der sozialen Erfahrung gar nicht bestritten wird. Aber die apriorische Gesetzmäßigkeit des Bewusstseins soll den Grund der Möglichkeit dieser konkreten sozialen Erfahrung allererst geben, in dem durch sie überhaupt nur die eine Wirklichkeit für viele, die Allgemeinheit der Gegenstände für jedes Einzelbewusstsein begreifbar wird. Doch gerade hier liegt der Fehler. Die apriorische Gesetzmäßigkeit des Bewusstseins kann nämlich nur eine Allgemeinheit zu Stande bringen: die formale Einheit des Mannigfaltigen in der reinen Synthesis (des Gegenstandes überhaupt) und die verschiedenen Weisen dieser Synthesis. (Substanzialität, Identität, Kausalität usw.). Gerade diese Allgemeinheit (des Gegenstandes überhaupt) wird vom gesellschaftlichen Dasein in der sozialen Erfahrung überhaupt nicht gemeint. Ein Beispiel soll dies deutlich machen. Dieser Schreibtisch hier ist für mich und für dich und für jedes ihn sehende andere Ich derselbe „allgemeine” nicht etwa als „Ding“, als „Gegenstand überhaupt“, sondern als Schreibtisch, als Tisch, an den man sich zum Schreiben setzt, als Gebrauchsgegenstand in dem vollen Sinn seines bestimmten Gebrauchs, Als solche gründet diese „Allgemeinheit“ allerdings in einem allgemeinen, über jedes Einzelbewusstsein hinausgreifenden Zusammenhang – aber nicht in dem Zusammenhang des Erkennens, sondern des sozialen Geschehens.

Sehen wir uns diesen Zusammenhang näher an. Dieser Schreibtisch ist für mich und dich derselbe, weil wir beide wissen, wozu er da ist – nicht weil seine „Form“ als Ding für uns beide dieselbe ist: das trifft erstens nicht zu, und genügt zweitens in keiner Weise, um den Schreibtisch als Schreibtisch zu erkennen. Dies Wissen ist uns im Laufe der Erfahrung durch lange Tradition überkommen, ebenso wie lange Tradition in enger Verbindung mit der ganzen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung dem Schreibtisch seine jetzige Gestalt gegeben hat. Die Allgemeinheit der Wirklichkeit (als Gegenstandes der sozialen Erfahrung) gründet in dem Zusammenhang der Geschichte. Unter Geschichte verstehen wir nicht den Ablauf des politischen oder wirtschaftlichen oder kulturellen Geschehens, sondern die Totalität aller dieser Lebensgestaltungen menschlichen Daseins als Geschehen der menschlichen Existenz selbst. Indem der Mensch nur in der Geschichte existieren kann und seine ganze Mit- und Umwelt ebenfalls Geschichte und in den Strom des Geschehens hineingezogen ist, konstituiert die jeweilige geschichtliche Situation die konkrete Allgemeinheit der Wirklichkeit, bestimmt sie ihren Sinn und ihre Grenzen. Demgegenüber bleibt die formale Allgemeinheit der Gegenstände, wie sie sich im reinen Bewusstsein konstituiert, völlig irrelevant. Nicht dass wir sie bestreiten (die wissenschaftliche Wahrheit der Konstitutionsprobleme des Erkennens steht hier gar nicht zur Diskussion), aber das soziale Sein und Geschehen kann sie in keiner Weise begründen.

Wenn dem so ist, dann darf der Ansatz einer Erforschung des sozialen Seins und Geschehens niemals in der Erkenntnistheorie, in der theoretischen Philosophie genommen werden. Denn jede echte Methodik lässt sich ihren Zugang durch die Gegebenheitsweise ihres Gegenstandes vorgeben, das soziale Sein ist aber nie und nirgends in einer erkenntnistheoretischen Erfahrung gegeben. Es ist gerade die wissenschaftliche Leistung von Karl Marx, zum ersten mal in der Geschichte der Sozialwissenschaft die Forschung da angesetzt zu haben, wo das soziale Sein in seiner konkreten Fülle wirklich war. „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten“ (Marx-Engels Archiv I S. 237). Dieser Satz aus der „Deutschen Ideologie“ bezeichnet mit nicht misszuverstehender Deutlichkeit den neuen Ausgangspunkt, der das soziale Sein von Anfang an in seiner vollen Konkretion als geschichtliche Wirklichkeit im Blick bat. Von hier aus geht keine Brücke zu einer transzendentalen Begründung der sozialen Erfahrung, zu einer erkenntnistheoretischen Unterbauung. Der Historische Materialismus bedeutet nur die konsequente Festhaltung dieses Ausgangspunktes.

Der Historische Materialismus hat eine erkenntnistheoretische Fundierung als Vorgabe nicht nötig, weil er seine Grundbegriffe und Prinzipien im Vollzug seiner Methode selbst gewinnt und begründet. Er erkennt das soziale Sein und Geschehen in ihrer vollen Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit als Seinsweise der menschlichen Existenz selbst. Und in der dialektischen Methode hat er sich den Zugang zu diesem Sein erschlossen. Die dialektische Methode hat als einziges a priori die Geschichte, die sie als Sein des menschlichen Daseins selbst begreift. Das soziale Sein mit seinen Formen und Gestaltungen ist ihr ein wesentlich geschichtlicher Gegenstand, dessen Wirklichkeit durch die Totalität des Geschehens als lebendige Realität konstituiert wird. Es ist der Wesensunterschied der transzendentalen und der dialektischen Methode, dass jene auf Möglichkeiten geht und diese auf Wirklichkeiten, jene auf eine Analyse des Erkennens und diese auf eine Analyse der Realität, dass jene auf eine theoretische Begründung der Wirklichkeit abzielt und diese auf eine praktische Veränderung der Wirklichkeit.

In der Frage der Methodik wird überhaupt der ganze Gegensatz, in dem die transzendentale Interpretation der sozialen Erfahrung zum Marxismus steht, besonders deutlich. Der Kantianismus führt an zentralen Stellen zu einer Umdeutung des Marxismus. Wir weisen nur darauf hin, dass Max Adlers Unterscheidung von kausaler und teleologischer Forschung, von theoretischer Naturbetrachtung und praktischer Betrachtung des Sollens und des Willens als getrennter Gegenstandsgebiete („Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik“ S. 27. – „Kausalität und Teleologie“ … an vielen Stellen) die von der dialektischen Methode gewonnene Einheit wieder zerreißt. In der dialektischen Totalität der Geschichte verliert der starre Gegensatz von Sein und Sollen, von Theorie und Praxis seinen Sinn. Gesollt ist die von der jeweiligen geschichtlichen Situation geforderte Tat: die Erfüllung der Notwendigkeit; – Freiheit ist die Möglichkeit, geschichtliche Notwendigkeit auf sich zu nehmen. Die Theorie weist die geschichtlichen Notwendigkeiten und die Daseinsweisen auf, die sie verlangen, sie wird so zum Hebel der radikalen Praxis, die die Wirklichkeit nach der Notwendigkeit verändern will.

Noch auffallender sind die Umbiegungen, die Adler am Historischen Materialismus vornehmen muss. Für wen allerdings die Wirklichkeit „nur eine Beziehung unseres Erkennens zu seinem Inhalt, kurz ein Urteil über einen Bewusstseinsinhalt ist“ („Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik“ S. 93), wer sie definiert als „den widerspruchslosen Zusammenhang einer Individualerfahrung in dem Begriff einer Erfahrung überhaupt“ (ebenda, S. 97), für wen „das Ich sich in Bewusstseinsformen erlebt, die Nicht-Ich sind“ (Kant u.d. Marxismus S. 158) – der kann den Historischen Materialismus nur in sehr „transzendentaler“ Reinigung gelten lassen. Für Max Adler bezeichnet er nur den Standpunkt, „der die Summe aller Erscheinungen restlos nach Kausalgesetzen zu begreifen bestrebt ist. So bedeutet also dieser Ausdruck eigentlich nur die radikale und methodische Ausschließung alles religiösen und spekulativen Wunderglaubens, aller Abirrung von dem redlichen Nährboden der Erfahrung“ („Das Soziologische …“ S. 41)! (Wonach nicht nur die mathematische Naturwissenschaft, sondern schlechthin jede rationale Wissenschaft Materialismus wäre.) Wenn allerdings der Grund des gesellschaftlichen Seins in den Erkenntniszusammenhängen des Bewusstseins gesehen wird, ist der Historische Materialismus von vornherein um seinen eigentlichen Sinn gebracht. Und deshalb helfen sich die transzendentalen Marxisten, indem sie sagen: das gesellschaftliche Sein sei keineswegs nur „materielles“ Sein, sondern auch „Bewusstsein“; die Weisen des Wirtschaftens, die Formen des sozialen Zusammenseins seien ja unmöglich ohne bewusste Zwecksetzungen und Zielstrebigkeiten. – Aber diese Interpretation kommt an die Problematik des Historischen Materialismus überhaupt nicht heran, sie stellt eine Tatsache hin, die wohl kein ernster Marxist, am allerwenigsten aber Marx und Engels selbst, jemals bestreiten könnte und wollte. Der Grundsatz des Historischen Materialismus besagt nichts über bloß faktische Verhältnisse innerhalb der faktischen Gesellschaften; die Glieder der von ihm behaupteten Relation sind nicht „materielles Sein“ und „Bewusstsein“ in einer konkreten Gesellschaft, sondern gesellschaftliches Sein, konkrete Gesellschaft als Totalität (die ihre faktische Bewusstseinswelt natürlich schon einschließt) einerseits und die von dem gesellschaftlichen Sein, von der konkreten Gesellschaft jeweils gestaltete „geistige Welt“ andererseits.

Wir fragen nun: welchen Schaden kann der Marxismus durch die transzendentale Interpretation von der Kantschen Philosophie hernehmen? Diese Gefahr liegt in der Umdeutung der Theorie der proletarischen Revolution zu einer wissenschaftlichen Soziologie, die den Marxismus aus der konkreten Bedrängnis der geschichtlichen Situation abdrängt und kaltstellt und die radikale Praxis entwertet. Nach Max Adler geht die methodologische Arbeit von Marx darauf aus, „das besondere a priori der Sozialtheorie zu gewinnen. Die Marxsche Analyse der ökonomischen Erscheinungen ist so vor allem dahin gerichtet, die Denkmittel zu gewinnen, durch welche überhaupt dieser unendliche Komplex des Geschehens in seiner formalen Gesetzlichkeit bewältigt werden kann“ („Kausalität und Teleologie …“ S. 316). – Nein, gerade um das a priori der Sozialtheorie, um die formale Gesetzlichkeit des sozialen Geschehens geht es Marx am allerwenigsten. Von ihr aus führt kein Weg zu jener radikalen Praxis, die auf eine Veränderung der Wirklichkeit abzielt. Die dialektische Methode des Marxismus greift hinter den Unterschied von Form und Materie, Sein und Sollen zurück.

 

[1] Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, J. H. W. Dietz Nachf., Berlin, Oktober 1930 (Jg. 7, Nr. 10), 304–326. – der Hrsg.

[2] Hierzu Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923.

[3] Eine erste tiefgreifende Untersuchung des ganzen Umfanges der gegenwärtigen Philosophie in ihren radikalen Tendenzen von marxistischer Seite bei S. Marck: Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, Tübingen 1929.

[4] Alle Kant-Stellen sind zitiert nach der Ausgabe von E. Cassirer. ll Bände, Berlin 1912 ff.

[5] Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie. 1913. S. 118 f. Hier auch der Begriff der transzendentalen Reinigung – Wir glauben, dass erst durch Husserl die volle Bedeutung der transzendentalen Methode sichtbar geworden ist.

[6] Diesen für das Verständnis der Kantschen Geschichtsphilosophie so wesentlichen Gesichtspunkt haben in hervorragender Weise die beiden neuen zusammenfassenden Darstellungen der sozialen Gedankenwelt Kants betont: R. Kress: Die soziologischen Gedanken Kants im Zusammenhang seiner Philosophie. Berlin 1929; und K. Borries; Kant als Politiker. Leipzig 1928.

[7] Nähere Analysen in dieser Richtung bei Borries a. a. O.

[8] Für die nähere Analyse des Verfassers: „Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus“. Philosophische Hefte I, 1. Berlin 1928.