Gustav Mayer

Geschichte und Klassenbewusstsein[1],[2]

 

Denkern großen Formats, deren Werke nach den Zeitgenossen auch die Nachlebenden befruchten, ist es von einer posthumen Entwicklung beschieden, dass ihre Gedanken von späteren Generationen mit wechselnden Augen betrachtet werden und dass ein sich wandelnder Geist sie für neue Bedürfnisse in Anspruch nimmt. Lange Zeit hatte die offizielle deutsche Wissenschaft Karl Marx totzuschweigen versucht oder wenigstens sein Werk flüchtig widerlegen und beiseiteschieben wollen, ohne sich mit dem gründlich auseinanderzusetzen, was es an zeugungskräftigen Bestandteilen enthielt. Doch eine befangene Taktik wie diese musste am Ende Schiffbruch erleiden. Der Lebende, der nach Schiller immer Recht hat, findet die verborgenen Schätze, und wäre es in Pharaonengräbern. Je mehr jene Bewegung stieg, der Marx und sein Freund Engels so früh ein weltgeschichtliches Horoskop zu stellen gewagt hatten, um so mehr wuchs auch in die Tiefe wie in die Breite das Interesse an dem wissenschaftlichen Problemkomplex, den man als Marxismus zu bezeichnen sich geeinigt hatte. Im Anfang befand sich der unbestrittene Mittelpunkt dieser Forschung bei den deutsch-schreibenden Völkern. Seitdem der Weltkrieg die sozialrevolutionäre Welle in anhaltendere Bewegung gesetzt hat, nimmt an ihr fast ganz Europa teil, besonders lebendig das Land, wo der Kommunismus bisher seinen unbestrittensten Sieg, und das, wo er seine vernichtendste Niederlage erlebte: Russland und Italien. In Italien bilden gegenwärtig die Marxisten eine ecclesia pressa, die Forscher treten nur vereinzelt hervor, das bemerkenswerteste Werk der letzten Zeit war Rodolfo Mundolfos „Sull orme di Marx“, das soeben in dritter Auflage erschien. Dagegen ist die sozialistische Akademie in Moskau, der die Sowjetregierung große materielle Mittel zur Verfügung stellt, von dem heftigen Ehrgeiz erfüllt, die eigentliche Zentrale der Marxforschung zu werden. Sie plant, wie man hört, nichts Geringeres als eine auf mehr als zwanzig Bände angelegte Gesamtausgabe der Schriften, Aufsätze und Briefe der beiden kommunistischen Dioskuren, die in den Originalsprachen erfolgen soll und deshalb vom Standpunkt der deutschen Wissenschaft ebenfalls zu begrüßen wäre.

Bekanntlich sind in der Marxschen Lehre Theorie und Praxis auf Tod und Leben mit einander verwachsen und die Hervorkehrung verschiedener Wesensseiten desselben geistigen Komplexes als Folge wechselnder objektiver Verhältnisse, auf die im Eingang hingewiesen wurde, musste deshalb bei ihr mit besonderer Schärfe in die Erscheinung treten. Konkreter ausgedrückt: Marx und Engels hatten sich im vollen Bewusstsein dessen, was sie sagten, als die legitimen Erben der deutschen klassischen Philosophie ausgegeben. Die erste Generation ihrer Schüler aber, die in einer ebenso unphilosophischen, wie unrevolutionären Epoche lebte (vgl. Karl Korsch „Marxismus und Philosophie“ im Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 1923), verkannte die theoretische und praktische Bedeutung jenes Anspruchs; sie übersah, wie ernsthaft sich Engels noch in späten Jahren mit der Dialektik der Natur abmühte, und sie erblickte in den hegelianisierenden Wendungen des reifen Marx nicht viel mehr als Kokettieren mit der eigenen philosophischen Vergangenheit. Weil sie größeren Nachdruck auf den materiellen Inhalt als auf die Gestalt und den strukturellen Gehalt der Marxschen Gedankenwelt legte, feierte sie als die hervorragendste wissenschaftliche Leistung des genialen Revolutionärs die Schöpfung einer modernen Soziologie, sie unterließ es dagegen oder lehnte es gar ab, aus den im Zusammenhang nirgends grundsätzlich fixierten allgemeinen Anschauungen von Marx und Engels eine neue Philosophie herauszuschälen. Erst Weltkrieg und Weltrevolution führten zu jener Erneuerung des philosophischen Marxismus, auf die oben schon hingewiesen wurde; auch hier, in der scheinbar „bloß“ theoretischen Sphäre, hatte kein geringerer als Lenin die Führung. Neben dem soziologischen trat nun das philosophische Gesicht dieser nicht leicht erfassbaren Lehre schärfer hervor, und dem durch die bolschewistische Revolution unendlich gesteigerten kommunistischen Aktivismus enthüllte sich die reale Dialektik als das eigentliche Pneuma der Marxistischen Welt- und Geschichtsauffassung. Noch nachdrücklicher als die Stifter selbst erheben ihre jüngsten Apostel den Anspruch, mit der materiellen Dialektik, die sich ihnen als die Triebkraft alles gesellschaftlichen Geschehens enthüllt, die klassische deutsche Philosophie und erst recht deren Epigonen überwunden zu haben. Dialektik und Revolution wurden ihnen zu strukturell identischen, nicht von einander abzulösenden Formen des Werdens und Denkens.

Diesen ebenso schwierigen wie noch ungeklärten Komplex von Zusammenhängen versucht neuerdings, mit schwerem philosophischem Rüstzeug bewaffnet, der Ungar Georg Lukács zu entwirren, der sich schon, bevor seine Teilnahme an der ungarischen Räterepublik ihn als revolutionäre Politiker bemerkbar machte, durch feinsinnige ästhetische Essais einen geachteten Platz im deutschen Schrifttum erworben hatte. Als orthodoxer Marxist beansprucht der Verfasser nur, seinen Meister „richtig zu verstehen“, bei Leibe nicht, ihn zu verbessern. Und weil er „die Verbürgerlichung des sozialdemokratischen Denkens“ zutiefst auf das Verlassen der dialektischen Methode zurückführt, wendet er nun seinen unbestreitbar beträchtlichen, wenn auch streckenweise abstrusen Scharfsinn daran, der Dialektik ihren zentralen Platz im Marxistischen System endgültig zu sichern. Der Band enthält eine Reihe, wenn auch nicht in der Form, so doch im Inhalt eng zusammenhängender Aufsätze und Abhandlungen, deren Umfangreichste und auch bedeutendste „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ überschrieben ist.

Aus der Fülle der Probleme, die vom Verfasser angeschnitten und öfters vielleicht mit zu großer Breite behandelt werden, sei hier nur auf eines andeutend hingewiesen, das geistesgeschichtlich weitere gelehrte Kreise interessiert. Die deutsche klassische Philosophie, so argumentiert Lukács, nahm fälschlich an, dass die rationell-formalistische Erkenntnisweise die einzig mögliche wäre, um die Wirklichkeit zu erfassen. Aber mit ihrer großartigen Konzeption, dass das Denken nur das von ihm selbst Erzeugte begreifen könne, mühte sie sich doch vergebens, die gesamte Totalität als Selbsterzeugtes zu bewältigen, denn sie stieß auf die unüberwindliche Schranke des Irrationalitätsproblems. Von Kant bis Cohen und bis Rickert ist sie über diesen Punkt nicht hinausgekommen, sie scheiterte am „Ding an sich“; sie vermochte nicht, „die Wirklichkeit als Ganzes und als Sein zu begreifen“. Das ist kein Zufall gewesen; die Denkformen, an die die bürgerliche Gesellschaft gebunden war, konnten die Transzendenz des materiellen Substrats nicht bewältigen, die Gleichgültigkeit der Form gegenüber dem Inhalt nicht aufheben, den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt nicht einschmelzen. Selbst Hegel, der den Weg zur Dialektik fand und in der Geschichte deren Lebenselement entdeckte, das einzige, in dem der Gegensatz von Denken und Sein überwindbar wäre, vermochte noch nicht, das identische Subjekt-Objekt in der Geschichte selbst aufzufinden. Weil sich ihm der absolute Geist in der Geschichte verkörperte, gelangte er zu seiner ohne dies „methodisch schwer verständlichen Annahme“ eines Endes der Geschichte.

Lukács will verstehen lehren, weshalb die „Grundfrage des bürgerlichen Denkens, das Ding-an-sich-Problem“ erst auf dem „Standpunkt des Proletariats“ ihre Lösung finden konnte. Ausgehend von der Marxschen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, der sich in der Selbsterkenntnis des Proletariats zugleich die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft, in der Verfolgung seiner Klassenziele die bewusste Verwirklichung ihrer Entwicklungsziele enthüllte, versucht er die Momente darzulegen, die das gesellschaftliche Sein des Arbeiters und seine Bewusstseinsformen dialektisch machen, seine Welt über die bloße Unmittelbarkeit, der die bürgerliche Welt verhaftet bleibe, hinaustreiben und ihm die „Intention“ auf die Verwirklichung der Tendenzen der Dialektik geben. Wohin diese Tendenzen führen und was ihr Wesen ist, darüber kann für des Verfassers formal-marxistische Rechtsgläubigkeit kein Zweifel bestehen. Er lässt es sich schwere Mühe kosten, sein quod erat demonstrandum zu erreichen; eine virtuosenhafte Dialektik führt ihn zu seinem Ziel; aber auch wer nicht ans Ende mit ihm mitzugehen vermag, wird es nicht bedauern, ihn bei seinen subtilen Untersuchungen begleitet zu haben. Denn manchen überraschenden Zusammenhang erschließt dem Historiker und Soziologen die Untersuchung dieses Verfassers, dem die „bloße Empirie der Tatsachen“ hinter der „höheren Wirklichkeit“ zurücktritt, die sich als „Sinn des Gesamtprozesses“ durchsetzt. Diesen Sinn charakterisiert die Feststellung, dass das Proletariat, „das identische Subjekt-Objekt des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses“ sei.

Liegt nicht ein metaphysisches Apriori auch diesem Standpunkt zu Grunde, der in dem geschichtlichen Prozess einen ununterbrochenen Kampf „um höhere Stufen der Wahrheit der gesellschaftlichen Selbsterkenntnis des Menschen“ erblickt? Aber selbst wer diese Frage bejaht, wird dem Verfasser dafür dankbar bleiben, dass er die strukturelle Grundposition des Marxismus so scharfsinnig dargelegt und damit die Voraussetzung geschaffen hat für eine grundsätzliche Diskussion des philosophischen Marxismus neuester Observanz mit jener „bürgerlichen“ Philosophie, die es schwerlich stillschweigend hinnehmen wird, dass sie von ihm für bankerott erklärt wird.

 

[1] Georg Lukács: Geschichte und Klassenbwusstsein. Studien über marxistischee Dialektik, Berlin, Malik-Verlag, 341 Seiten.

[2] Literaturblatt. Beilage zur Frankfurter Zeitung (Frankfurt am Main), 1. August 1924, [1.] – der Hrsg.