Otto Korvin[1]

Der zuverlässigste Maßstab für die Bedeutung eines jeden revolutionären Kämpfers ist der Haß der Gegenpartei. Jede Konterrevolution hat bei dieser Auswahl einen unfehlbaren Instinkt; mit diesem Instinkt zugleich besitzt sie aber auch ein robustes Gewissen, für das keinerlei Lug und Trug eine allzu schwere lasst ist. Wie der bedeutende gelehrte Marat noch heute in den Geschichtswerken der Bourgeoisie als unwissender Demagog[e] und Bluthund dargestellt wird, bloß, weil er, als klarblickender Revolutionär, nicht gestatten wollte, daß die – bürgerliche! – Revolution in einem frühzeitigen und ruhmlosen Kompromiß das Ende finde, so werden jetzt die tapfersten und selbstlosesten  Vorkämpfer des ungarischen Proletariats nicht nur (sofern sie in die Hände der Weißen geraten sind) unmenschlich gefoltert, sondern auch mit dem Kot der infamsten Lügen und Verleumdungen beworfen. Das Proletariat weiß freilich, was es von derartigen Heldentaten der bürgerlichen „Pressefreiheit“ und „Demokratie“ zu denken hat; es weiß, daß von Thomas Münzer bis zu den Helden der Kommune dies das Schicksal all ihrer Vorkämpfer gewesen ist. Eben darum ist es aber unsere Pflicht, das Bild des Genossen Otto Korvin, der sich schlicht-heroisch für die Befreiung des Proletariats geopfert hat, wenigstens in ein Paar straffen Zügen zu zeichnen.

Die gewöhnlichste Verleumdung, die gegen die wahren Führer der Arbeiterbewegung ausgestreut wird, daß sie eigensüchtige, materielle Interessen verfolgen, konnte selbst die Presse des weißen Terrors gegen Otto Korvin nicht aufbringen.

Sohn einer mehr als wohlhabenden Familie, selbst Besitzer von hohem Einkommen und am Anfang einer großen Karriere hatte er – materiell – in der Revolution nur zu verlieren. Die bürgerliche Presse ist aber auch in solchen Fällen nicht in Verlegenheit. Da Korvin während der Rätediktatur Chef der politischen Polizei war, entstand die Legende von seiner perversen Grausamkeit, von seinem Sadismus. Jeder, der die weiche und zarte, lyrisch gestimmte, mitleidvolle Seele Otto Korvins kennt, kann über diese Verleumdung nur lachen. Und jeder, der die Tatsachen nicht absichtlich verdreht und verleugnet, weiß genau, daß Korvin seine ungewöhnlichen ökonomischen Fähigkeiten und sein großes Organisationstalent dem Neuaufbau der Volkswirtschaft, der Sozialisierung widmen wollte, und nur auf direkten Befehl der Volksbeauftragten, gegen Wunsch und Willen, sein neues Amt übernahm. In dieser schlichten Pflichterfüllung liegt das ganze Wesen Otto Korvins beschlossen. Er suchte niemals weder Glanz und Macht, noch Ruhm und Popularität. Still und bescheiden, ohne jemals mit seiner Person hervorzutreten, übernahm er stets die schwersten und gefährlichsten  Posten, einerlei, ob sie seinen Neigungen entsprachen oder nicht, und verwaltete sie rein und verantwortungsvoll im Interesse des Proletariats. (So ist er, obwohl die Möglichkeit der Flucht auch ihm offenstand und er das Schicksal, das ihn erwartete, genau kannte, nach dem Sturz der Räteregierung in Budapest geblieben, um die Bewegung, wenn möglich, am Leben zu erhalten.) Als Leiter der politischen Polizei war er ein unerbittlicher Bekämpfer der Gegenrevolution. Aber als echter und revolutionärer Marxist, war er bloß unerbittlich im Gebrauch der Waffen des Klassenkampfes, niemals grausam gegen einzelne Personen. Er gebrauchte die gesetzliche Staatsmacht des herrschenden Proletariats zur Befestigung dieser Herrschaft; aber mit derselben Zähigkeit, mit der er die Gegenrevolution bekämpfte, dachte er jede Eigenmächtigkeit von Einzelorganen zu verhindern oder, wenn dies vergeblich war, zu bestrafen. Selbst die Zeugenaussagen der Budapester Gerichtskomödie müssen zugeben, daß er alles getan hat, um die Mutter des von der Czerny-Gruppe ermordeten Dobsa auf die Spur ihres Sohnes zu bringen. Jeder, der die Verhältnisse kennt, weiß, daß er ein unerbittlicher Feind der Terror-Gruppen war und stets auf ihre Auflösung drang; weiß, daß er es war, der, als neun Gegenrevolutionäre, ohne genügend sorgsame Erwägung der mildernden Umstände, vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt wurden,  beim Rat der Komissäre die Begnadigung jener sieben, die nicht die schuldigsten waren, durchgesetzt hat; er war es, der sich am eifrigsten für die milde Behandlung der mit der Waffe in der Hand gefangenen Ludowsker-Zöglinge eingesetzt hat. (Sie wurden dazu „verurteilt“, in einem Institut eine gesunde, soziale Erziehung zu erhalten, nachträglich wurde natürlich von der Bourgeoisie wegen dieses Urteils der daran völlig unbeteiligte italienische Oberst Romanelli als „Held der Humanität“ gerühmt.) Wir haben hier keinen Raum, um alle Fälle aufzuzählen, in denen sich Korvins Menschlichkeit bewährt hat. Wir sind aber überzeugt, daß alle Funktionäre der Räteregierung – sofern sie ehrlich und wahrheitsliebend sind und die Möglichkeit hiezu haben – freudig das Geständnis ihrer Solidarität mit Otto Korvin, der ein gewissenhafter Vollstrecker ihrer Befehle war, ablegen würden.  Wir glauben, daß dieses Bild sogar in dem sogenannten „Gerichtsverfahren“ in Budapest hervortreten wird.

Und dennoch. Otto Korvin hat diesen Haß, der jetzt seinen Namen in der ganzen Bourgeoisie umgibt, redlich verdient: er war ein echter, kompromißferner Held der Proletarrevolution. Klar, klug, zielbewußt, begabt und unbestechlich: das ist es, was ihm die Gegenrevolution nicht verzeihen kann. Darum mußte er während der Vorbereitung zur tragischen Komödie seines „Prozesses“ Folterungen erdulden, die zu beschreiben, ja auch nur anzudeuten, jede Feder sich sträubt, vor deren Schrecklichkeit selbst die Erzählungen von der Inquisition verblassen. Er aber steht – trotz aller Qualen – mit seinem von Wunden zerrissenen zarten Körper als unerschrockener Held da und wartet kaltblütig-entschlossen auf sein „Urteil“. Wie immer aber die Gerichtskomödie enden mag, das ungarische Proletariat hat bereits sein Urteil über Otto Korvin ausgesprochen. Seine fürchterlichen Wunden sind bereits ein heiliges Sinnbild des Martyriums, das das  ungarische Proletariat jetzt zu erdulden hat, und werden einst so verehrt werden, wie seinerzeit jene Wunden, die die Henker des Zarismus der Heiligen der russischen Arbeiterbewegung, der Spiridonowa, geschlagen haben.

Nur eine Schlacht hat das ungarische Proletariat verloren. Vergebens jubeln die Unterdrücker. Der Tag des Sieges, und mit ihm die Vergeltung, wird kommen. Der Tag, wo Rechenschaft gefordert wird dafür, was die edelsten und besten Kämpfer, mit Otto Korvin an ihrer Spitze, erdulden mußten.

 

[1] Die rote Fahne (Zentralorgan der kommunistischen Partei Deutschösterreichs), Wien, 1919. november 28. (II. évf. 164. sz.) – Der Hrsg.