Miklós Mesterházi

Größe und Verfall des Lukács-Archivs. Eine Chronik in Stichworten. Zugleich ein Nachruf.1

 

Summary/Résumé: Wäre mir gestattet, wie es in einigen wissenschaftlichen Zeitschriften praktiziert wird, die summary dem Vortrag vorauszuschicken, so könnte ich diesen eigentlich höflichen Gestus am einfachsten absolvieren, in dem ich das englische Kinderlied zitiere: Ten green bottles hanging on the wall, / Ten green bottles hanging on the wall, / And if one green bottle should accidently fall, / There’ll be no green bottles hanging on the wall. In den darauf folgenden Strophen hängen immer wenigere Flaschen an der Wand, bis zu der letzten Strophe: One green bottle is hanging on the wall, / One green bottle is hanging on the wall, / If that green bottle should accidently fall, / There’ll be no green bottles hanging on the wall.

Wie aus dem Motto zu erahnen ist, geht es hier um eine Geschichte ohne happy ending. Doch bevor ich mit der Erzählung beginne, möchte ich auf zwei Punkte hinweisen, wo ich die Grenzen der narrativen Darstellung übertrete: beim Versuch, gewisse Episoden zu erklären, muss ich einige Andeutungen an äußere (geistige/institutionelle) Umstände der Arbeit im Archiv mir erlauben, ohne Anspruch auf ein ideengeschichtliches Tableau zu erheben. Und damit der Vortrag nicht zur Grabrede entartet,2 werde ich versuchen, einige Forschungsprobleme anzudeuten.

Kapitel 1.
Das Archiv wurde gleich nach dem Tode von Georg Lukács etabliert, ironisch und etwas irreführend formuliert, der Einfachheit halber: in seinem Testament hinterließ Lukács seine (glänzende) Bibliothek (voll mit Raritäten, mit Büchern, die einen interessanten Weg bis zu Belgrád Kai 2., Budapest hinter sich hatten) dem Philosophischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (im Folgenden: UAW, oder einfach: die Akademie), seine Manuskripte der Bibliothek der UAW – seinen letzten Willen zu vollstrecken, war der simpelste Weg, ein Archiv einzurichten dort, wo die Bücher und Papiere schon sowieso waren, in der Wohnung des Philosophen. Was natürlich nicht ganz so selbstverständlich gewesen sein sollte – vermutlich wurde an „höchsten Stellen“ darüber entschieden, doch ob es Debatten und welche Debatten darüber gab, weiß ich nicht. Organisatorisch wurde das Archiv dem Philosophischen Institut der UAW untergeordnet (einer Institution, in deren Gründung in den 50er Jahren Lukács einen Löwenanteil hatte.)

Das geschah im goldenen Zeitalter der Lukács-Forschung, in dem bis heute wegweisende Studien entstanden sind (Fehér Ferenc: Balázs Béla és Lukács György szövetsége a forradalomig, Irodalomtörténet, 1979/2-3, Heller Ágnes: A lelki szegénységről [Von der Armut am Geiste], Új Irás 1972/1 usw.),3 eigentlich oder anfänglich noch vor der Etablierung des Archivs und ohne das Archivmaterial: das Interesse galt zwar vor allem dem jungen Lukács, dem Essayisten, doch nicht zu letzt um die Vielfalt seiner Gedankenwelt und etwa die Logik seines Weges zu Marx zu erforschen und darzulegen. Doch dann wurde der Heidelberger Koffer entdeckt; er lag im Tresor einer Bank in Heidelberg seit dem 7. November 1917, seitdem Lukács aus Heidelberg nach Budapest umsiedelte (ohne zu ahnen, dass er nicht zurückkehren wird). Im Koffer lag eine Unmenge von Manuskripten und Briefen, die ihre Entdeckung einem Bankbeamten verdankt, der aus der Lukács-Biographie von Fritz J. Radatz erfuhr, Lukács habe seinen Namen zu dieser Zeit in der Form Georg von Lukács gebraucht, und dem einfiel, dass in der Bank ein Depositum unter diesem Namen gibt. (Den Namen dieses bedeutendsten Lukács-Philologen kenne ich nicht – eine Schande).4 Nie hat Lukács (der Lukács, den seine Jünger und Interpreten kannten) über das Material, das er damals deponiert hat, und dass er es deponiert hat, gesprochen – allerdings sorgte er 1930 für die Verlängerung der Aufbewahrung. Als Kommentare zu diesem Material sind grundlegende Arbeiten über Lukács (von Ferenc Fehér, György Márkus, Ágnes Heller) entstanden,5 und auch massive textologische/herausgeberische Leistungen: Heidelberger Ästhetik und Philosophie der Kunst, hrsg. v. György Márkus, Luchterhand 1974, Ifjúkori Művek [Jugenschriften], hrsg. v. Árpád Tímár. Magvető, Budapest 1977, L. Gy. levelezése 1902–1917 [G. L. Korrespondez 1902–1917], hrsg. v. Éva Karádi und Éva Fekete, Magvető, Budapest 1981.6

Zum Thema Unerledigtes/Forschung: Der Korrespondenz-Band von Fekete und Karádi ist eine ausgezeichnete Selektion, und in der („kleineren“) Ausgabenreihe des Archivs („Hefte des Archivs“) wurde 1982 die Béla Balázs-,7 1984 die Ernst Bloch-Korrespondenz (mit Notizen, Dokumenten etc.)8 veröffentlicht, 1993 ist auch die Korrespondenz mit Leo Popper (dem engsten Freund seiner Jugend) herausgekommen, ergänzt mit den hinterlassenen Papieren von Popper, die Lukacs sorgfältig aufbewahrt hat.9 Zwar nicht aus den in dem Heidelberger Koffer bewahrten Papieren, doch ebenfalls aus dem im Archiv liegenden Manuskriptmaterial wurde der Band mit der Lukács-Werner Hoffmann-Korrespondenz, unter dem Titel Ist der Sozialismus noch zu retten?, herausgebracht, und es gibt so etwas wie einen digitalen Quasi-Auswahlband der ungarischen Nachkriegskorrespondenz. All die Veröffentlichungen des Archivs aus der Korrespondenz waren als Vorarbeiten zu einer kompletten Ausgabe der Briefe konzipiert (wie auch die andere Schriftenreihe des Archivs unter dem Titel „Aus dem Nachlass von Georg Lukács“ als Vorspiel zu einer kritischen Ausgabe gedacht war) – doch von einer seriösen Korrespondenz-Edition ist das Archiv noch ziemlich weit entfernt.

Zur Gedankenatmosphäre der Zeit: Das Interesse an Lukács stand (seit etwa dem Anfang der 60er Jahre) im Zeichen der Suche nach neuen Wegen/Rekonstruktionen des Marxismus (Lukács selbst sprach von einer Renaissance des Marxismus, Márkus‘ Marxismus und „Anthropologie“ galt als unumgänglicher Baedeker zu der [x-ten] Wiederentdeckung des jungen Marx]);10 in etwas frivoler Formulierung, die Schriften und Probleme des jungen Lukács wurden noch mit dem Hintergedanken interpretiert, es muss an dem Marxismus etwas dran sein, wenn eine so interessante und mit der „bürgerlichen“ Philosophie der Jahrhundertwende/der 10er Jahre so vertraute Figur wie der junge Lukács im Marxismus die Antwort auf seine Fragen sehen konnte – und das trotz den Enttäuschungen, wie sie in dem (damals unveröffentlichten) Manuskript von Heller, Fehér, Márkus und Vajda, in den Aufzeichnungen für Genosse Lukács zur Ontologie artikuliert wurden.11

Hier ergeben sich übrigens merkwürdige Probleme, und zwar nicht nur, aber auch für die Lukács-Forschung und für Untersuchungen mit dem Thema seiner Wirkungsgeschichte. Als wäre heute schon fas unnachvollziehbar, was Lukács unter Renaissance des Marxismus verstehen wollte, oder wieso man von seiner späten Ästhetik philosophische Inspirationen zur Erneuerung des Marxismus, auch irgendwelche politische Inspirationen hoffen durfte etc.; überhaupt, als wären Probleme, Erwartungen, Illusionen der 60er-70er Jahre Grillen einer Pubertät, die dann als Erwachsener keiner mehr verstehen kann, und für die sich jeder schämt – eine Konstellation, die Konsequenzen für den Nachruhm von Lukács, aber auch für die Tätigkeit des Archivs hatte, und diese Konsequenzen wurden/werden dadurch nicht harmloser, dass man sie, wie auch die Situation selbst, als Zeitgenosse nur schwer artikulieren konnte.12

Eigentlich schon seit dem einige aus dem engeren Kreis um Lukács (aber auch weitere Mitarbeiter des Philosophischen Instituts, wie etwa Zádor Tordai) gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei protestiert hatten, war die Spannung zwischen der Politik und den Philosophen (den Mitgliedern der sog. Budapester Schule) zu spüren, und 1972 wurden die Lukács-Jünger von der Obrigkeit offen angegriffen; 1973 wurde eine Parteiresolution über unakzeptierbare antimarxistische Ansichten von Heller, Márkus etc. verabschiedet mit administrativen Konsequenzen (Publikationsverbot, Entlassung). 1977 emigrieren Heller, Fehér, Márkus, Vajda. Der nachträgliche Kommentar von Radnóti Sándor (in einer öffentlichen Diskussion): es blieben nur noch ausgezeichnete Philosophiehistoriker im Lande, Philosophen gab es nicht mehr… Eine folgenschwere Entwicklung, die aber noch davon zu zeugen schien, dass Lukács oder die Fortentwicklung des Lukácsschen Erbes brisant, spannend, gefährlich, also irgendwie doch noch lebendig ist. Jedoch 1971, zu einer Zeit, wo wenigstens Uneingeweihte noch den Eindruck haben konnten, Lukács sei irgendwie „in“, formulierten György Bence und János Kis, später prominente Figuren der sog. „zweiten Öffentlichkeit“, in ihrer (als Manuskript kursierenden) Schrift mit dem Titel Zum Junglukácsismus und darüber hinaus13 eine radikale Kritik am Werk von Lukács, in der sie sich von dem Paradigma, in dem Márkus oder Fehér über Lukács geschrieben haben, lossagten, und die so etwas wie eine Verkündigung dessen war, dass eine neue Generation der Philosophen (die Verfasser gehörten zu dem locker definierten Kreis, den man „Lukács-Kindergarten“ zu nennen pflegte) gleichgültig gegenüber die Faszination war, die von den jungen Lukács ausging, und schon überhaupt gleichgültig gegenüber den Hoffnungen, die sich mit einem, im Lichte seiner eigentlichen oder ursprünglichen Fragen neu interpretierten Lukács assoziieren ließen.

Kapitel 2
Andererseits durften nun Lukács-Schüler wie István Hermann oder Miklós Almási an der Budapester Universität (wieder) unterrichten, und Dénes Zoltai konnte einen Lehrstuhl für Ästhetik etablieren, demonstrativ im Geiste von Lukács, was bis dahin ziemlich unvorstellbar war. Ob dieser Zuwachs an Gewicht an der Universität seitens der Politik mit dem Hintergedanken zugelassen wurde, um dadurch die Autorität des widerspenstigen Instituts für Philosophie, das der Akademie/Politik so viel Sorgen verursacht hat, zu untergraben, ist eine Frage,14 die ich nicht beantworten kann, aber zum Glück hier auch nicht beantworten brauche – aber, obzwar das bloß eine Vermutung ist, vielleicht waren es die politischen Wirbel um das Philosophische Institut 1968-73 (bis zum ausdrücklichen Berufsverbot für Heller, Fehér, Márkus und Vajda), die aus dem Institut eine Einrichtung der Akademie gemacht haben, von der sie immer wieder loswerden wollte. Allerdings wurde das Institut 1978 nach ca. 6 Jahre langem Interregnum reanimiert, und unter dem neuen Direktor des Instituts, József Lukács – ob auf seine Initiative oder auf Initiative höherer Stellen, sei dahingestellt – beschlossen, aus dem Lukács-Archiv, das bis dahin nur mit einer Bibliothekarin, einer Sekretärin und einem Archivar arbeitete,15 so etwas wie eine wissenschaftliche Werkstatt zu machen. (Im Nachhinein kann selbst ich nicht vom Verdacht loswerden (und manche hatten, nehme ich an, damals den Verdacht), dass die Institutionalisierung der Lukács-Forschung seitens der Politik ein Versuch gewesen sein durfte, Lukács zu domestizieren. Das mag schon sein, allerdings war das Bedürfnis der 70-80er Jahre an ideologischer Legitimierung ziemlich bescheiden; und dass Lukács zu domestizieren wäre, war kaum etwas, von dem seine Partei hätte glauben können, es sei einfach zu erledigen: bezeichnenderweise war die Resolution zur Verurteilung der Revisionistischen Ansichten des Genossen Lukács bis 1985 in Geltung…)16

Die neu konzipierte Arbeit im Archiv stand unter der Direktion von László Sziklai, der auch bei dem Aufbau des ästhetischen Lehrstuhls an der Universität mitgewirkt hat, und als Experte für die Wirkung von Lukács in den 30er Jahren galt – er hatte seine Studien in Moskau abgeschlossen (in Budapest studierte er u. a. bei György Márkus, in Moskau bei Moisei Kagan), und dort die Fühlung mit Mihail Lifsic aufgenommen,17 und kehrte mit Dokumenten der Moskauer Periode von Lukács und mit einer eingehenden Kenntnis der damaligen politischen, kulturpolitischen etc. Diskussionen nach Budapest zurück (s. noch den Anhang). Die Andeutung seines speziellen Forschungsgebiets ist guter Anlass, auf das Thema…

Materialien im Archiv zurückzukehren: Ein beträchtlicher Teil der im Archiv bewahrten Materialien/Manuskripte stammt aus dem Moskauer Exilzeit; vieles davon wurde zur Zeit ihrer Entstehung veröffentlicht, in Zeitschriften der deutschen Emigration oder in dem Journal, wo Lukács Mitarbeiter war, also in der Literaturnij Kritik (in der letzteren auf Russisch, und meistens gekürzt); einiges aus dieser Periode kam dagegen erst viel später heraus, etwa Der junge Hegel, die akademische Dissertation von Lukács aus dem Jahre 1938 (im Europa-Verlag, Zürich/Wien, 1948), einiges fand Eingang in die Sammelbände des Aufbau Verlags Anfang der 50er Jahre, bis Lukács in der DDR nicht mehr veröffentlicht werden durfte. Und es gab Manuskripte (etwa die zwei Ernst Bloch-Rezensionen von Lukács), sogar dicke Manuskripte (wie die zwei Faschismus-Bücher), die niemals publiziert wurden. Dieses Material ist bis heute nicht, auch auf Ungarisch nicht vollständig veröffentlicht worden (teilweise wurden diese Manuskripte bzw. aufgrund der Manuskripte korrigierte Schriften im Band Esztétikai írások [Schriften zur Ästhetik] publiziert,18 doch der geplante Parallelband mit den philosophischen Schriften konnte nicht mehr erscheinen.)19

Hinter der Umgestaltung stand die Arbeitshypothese, im Archiv sollte all die philologische, editorische und wissenschaftliche Arbeit verrichtet werden, die zur Vorbereitung einer kritischen Ausgabe gehört, und natürlich sollte auch die wissenschaftliche (literaturhistorische, historische etc.) Forschung im Thema oder um das Thema Lukács technisch wie intellektuell bedient werden; das hieß praktisch, dass das Archiv die seit 1971 laufende ungarische Gesamtausgabe,20 aber auch die Luchterhand-Ausgabe mit Materialien und lebendiger Arbeit zu versehen hatte, Texte für die Publikation vorbereiten sollte, editorische Fragen anlässlich ausländischer Veröffentlichungen zu klären und mit Forschern zu konsultieren hatte, die sich an uns wandten etc. Die neu definierte Aufgaben haben mit sich gebracht, dass eine interessante Crew im Archiv zusammentraf; erwähnt seien nur die verstorbenen: Ágnes Meller-Vértes, übrigens die Übersetzerin all der Lukács-Abhandlungen von Fehér und Heller, zuständig für die Entzifferung und sprachliche Betreuung der deutschsprachigen Manuskripte und Veröffentlichungen; György Fehéri; György Mezei (Aufzeichnungen zur Ethik, Bloch/Lukács-Korrespondenz). Und natürlich wurden viele von außen herangezogen (s. den Anhang).

Zur Gedankenatmosphäre der Zeit: Diese Form, durch philologisch-philosophischer Beiträge zur Lukács-Forschung, und durch Vorarbeiten zu einer kritischen Ausgabe die Sache der Lukács-Edition voranzutreiben, barg das Versprechen in sich, dass wir Texte publizieren können, denen die ungarische Veröffentlichung oder die Veröffentlichung überhaupt untersagt worden ist, vor allem das dicke Manuskript Demokratisierung heute und morgen;21 das gab der Arbeit im Archiv einen erotischen Stich…22

Kapitel 3
Ich glaube, vieles (oder einiges) davon, was das Archiv in den 80ern gemacht hat, hätte fortgeführt werden können oder könnte noch heute fortgeführt werden. Allerdings, die Schriftstücke, die aus dem Nachlass mit den größten Aufmerksamkeit rechnen konnten, hatten wir publiziert, wenn auch in einer zwangsläufig problematischen Form (mit kindischer Vervielfältigungstechnik oder in problematischer Zusammenarbeit mit dem Akademie Verlag, der nicht besonders interessiert war daran, dass die Bände Aus dem Nachlass von Georg Lukács ihre Leser auch erreichen); der Verlag, bei dem die ungarischen Gesamtausgabe lief, zerfiel am Ende der 80er Jahre;23 Luchterhand ließ seine Autoren unter skandalösen Umständen im Stich, und das Interesse an Lukács in Ungarn erreichte seinen Tiefpunkt.24 Ich will nicht sagen, dass wir auf die Veränderungen des Klimas sensibel reagiert hätten, aber allmählich hat die Tätigkeit des Archivs neue Züge angenommen: Wir versuchten Lukács in leserfreundlicheren (vor allem studentenfreundlicheren) Formen zu verkaufen (Neuausgabe von der Ästhetischen Kultur und der Seele und die Formen – in der letzteren Ausgabe wurden die Unterschiede der deutschen und ungarischen Version des Essaybandes angedeutet).25 Und vor allem wollte das Archiv etwas von der verdrängten Geschichte der Lukács-Schule den Lesern zugänglich machen (mit Abhandlungen von Heller, Fehér, Márkus und Vajda über Lukács in den zwei Bänden unter dem Titel Budapester Schule, oder mit dem seinerzeit unveröffentlichten Walter Benjamin-Buch von Sándor Radnóti) und auch neue philosophische Arbeiten, die sich irgendwie mit Lukács assoziieren ließen, fördern – und in dieser Form aus den verlegerischen und philosophischen Kompetenzen, die sich im Archiv aufgehäuft haben, einen Nutzen ziehen. Die im Archiv redigierten Ausgabenreihen Alternatívák und Horror metaphysicae (später Gutenberg tér)26 waren an sich schon interessant, doch durch die Zusammenarbeit mit dem Argumentum-Verlag und mit der Stiftung Gond-Cura hatte das Archiv die Möglichkeit, einiges auch von und zu Lukács herauszubringen, etwa Die Theorie des Romans in einer revidierten Übersetzung und in der Gesellschaft der sog. Dostojewskij-Notizen, die bisher auf Ungarisch unzulänglich waren, oder den Band über die angelsächsische Rezeption von Lukács (unter dem Titel Vándorló évek) mint glänzenden Kontributionen von Alasdair MacIntyre, Fredric Jameson, George Steiner etc. Doch nicht nur dadurch war die editorische Tätigkeit des Archivs ein den eigentlichen Aufgaben des Archivs nicht fremdes Unternehmen: eigentlich war sie ein Versuch, die Friedhofstille, die um Lukács herrschte, zu beheben. (Dass wir dabei zu sehr auf die ungarische Szene konzentrierten, lässt sich erklären, das war schließlich das Medium, in dem wir zu arbeiten genötigt waren, und auch die finanziellen Mittel haben ambitiösere Pläne nicht gestattet; und doch war es ein Fehler.)

Wie auch immer, das GLA schien eine spezifische Einrichtung zu sein, auch materiell gesehen, als ein Aggregat von Museum, Bibliothek und Manuskriptsammlung (und das Archiv wurde, warum, warum nicht, aber in dieser seiner Qualität von den Besuchern bewundert); aber auch als ein Aggregat von philologischen, archivarischen und interpretativen Aufgaben, als Einrichtung, in der Mitarbeiter waren, die sich als Philosophen oder Philologen oder Übersetzer verstanden, oder vorwiegend als Philosophen, Philologen, Übersetzer, oder mal als Philosophen, mal als etc. NB: Eigentlich waren die Mitarbeiter des Archivs Mitarbeiter des Philosophischen Instituts. Rückblickend muss ich sagen, so selbstverständlich es uns von der Sache her erschien, dass im GLA Philosophen, Ästheten und Literaturhistoriker tätig sind – im Rahmen der UAW galt das als Anomalie. Doch solange die jeweilige Obrigkeit (bis 1991 das Philosophische Institut, zwischen 1991 und 2006 die Bibliothek der UAW, ab 2006 wieder das Philosophische Institut, ab 2011 wieder die Bibliothek) das Archiv wohlwollend betrachtet oder wenigstens ignoriert hat, konnte man im Archiv arbeiten; in dem Moment, wo es der Obrigkeit einfiel, dass sie sich Konzeptionen über Sein und Nichtsein, Aufgabe und Aussehen des Archivs erlauben dürfte, war der Teufel los. Ich werde die Episoden hier nicht darstellen, das sind zu komplizierte und eigentlich sinnlose Stories, obwohl sie zur Geschichte des Archivs gehören.

Man könnte annehmen, die merkwürdigen Komplotte um das Archiv dürften mit der politischen Wende zusammenhängen – doch konnte man, auch wenn der Name Lukács gelegentlich in ganz merkwürdigen Zusammenhängen erwähnt wurde, und in gewissen Zusammenhängen ebenso merkwürdig unerwähnt blieb, im philosophischen Klima der 90er Jahre eigentlich kein Ressentiment Lukács gegenüber spüren, wenigstens in der Öffentlichkeit nicht; auch die Arbeit des Archivs wurde nicht kritisiert (auch seitens der akademischen Obrigkeit nicht). Dass einer der Direktoren des Philosophischen Instituts in einem Telefongespräch Sziklai vorwarf, er wolle aus dem Archiv ein zweites Philosophisches Institut machen, darf wohl nicht als Kritik gelten, es klingt eher als Lob. Die treffenden Erklärungen – mit denen ich nicht dienen kann – für die Merkwürdigkeiten um das Archiv wären vermutlich von wissenssoziologischer Art, wobei ich nicht an die Wissenssoziologie Mannheimschen Stils denke, eher an neuere Richtungen, die die wissenschaftliche communities sozialanthropologisch zu untersuchen pflegen, also wo es nicht um Form, Stil, prinzipielle Analogien geht, sondern um Ehr- und Habsucht…

Wie auch immer, das Archiv verlor allmählich seine relative finanzielle Autonomie, und auch die Möglichkeit, auf eigene Faust etwas zu unternehmen, was finanzielle Unterstützung benötigt hätte; und langsam verabschiedeten wir uns durch die Etatkürzungen von einigen unserer Mitarbeitern.

Die vorletzte Szene dieser Komödie war der Amoklauf des 2010 ernannten Direktors im Philosophischen Institut, zu dem das Archiv ab 2006 erneut gehörte, des Direktors, der in seiner Antrittsrede noch eine überschwängliche Lobrede über die Herrlichkeit des Institutes hielt, dann aber das halbe Institut rauswerfen wollte. Die Motive des Amoklaufs sind für die historische Forschung auch in diesem Fall unzugänglich, weil sie vermutlich unnachvollziehbar subaltern waren; allerdings wurde das Wühlen seitens der akademischen Obrigkeit mit stillschweigender Zustimmung betrachtet, was nicht unbedingt für die Anwesenheit des absoluten Geistes an der UAW zeugt; dagegen zeugt es vielleicht dafür, dass die dem Augenschein nach irrationale Tätigkeit des Herrn Direktors nicht ganz ziellos war. Und die Ereignisse bekamen tatsächlich einen Sinn, als die inneren Kämpfe im Institut in der Denunziation mündeten, einige aus dem Institut und das GLA wären Komplizen einer finanziellem Machenschaft, in der millionenschwere Förderungsgelder unterschlagt worden sind – im Rahmen von Projekten geleitet von Ágnes Heller und Mihaly Vajda etc. Den hübschen Zwischenfall kennt der Leser vermutlich aus den Zeitungen,27 und wir, die Mitarbeiter des Archivs, waren eigentlich nur Episodisten in der Vorführung, doch das Archiv durfte mehrmals eine kleine Delegation der Polizei in seinen Räumlichkeiten begrüßen. Jedoch der eigentliche Geniestreich der Akademie kam erst danach: Um, so die offizielle Begründung, den Konflikt zwischen dem Institut und dem Archiv zu lösen, wurde das Archiv erneut der Bibliothek der UAW unterordnet – der Bibliothek, in der seit einigen Jahren die transzendentale Maxime gilt, es sei in der Bibliothek die wissenschaftliche Forschung als offiziell akzeptierte Form der Tätigkeit unerwünscht. Über den höheren Sinn der Maxime kann ich nichts Näheres sagen, vermutlich ist der Bedarf der UAW an Wissenschaft gedeckt, was ein schönes Gefühl sein kann. Allerdings kann ein jeder sich gut vorstellen, wie gut in dieses Prokrustes-Bett das GLA hineinpasste.

Raten Sie, wie viele grüne Flaschen noch an der Wand hängen.

Nachspiel
Der Text, zu dem das hier das Nachwort ist, endete an einem Punkt, wo das Archiv, wie ich es kannte – wohin aus allen Ecken der Welt Wissenschaftler gekommen sind, um über Lukács zu arbeiten, und wo man selbst mal über Manuskripte grübeln, mal philosophieren durfte, je nach dem usw. –, schon zerschlagen war, doch auf Sparflamme zwar, noch existierte. Das waren selige Zeiten, nun wird das Archiv – nach allen Äußerungen der Akademie – geschlossen. Es gehörte zur (fast) Einzigartigkeit des Archivs, das man dort arbeiten durfte, wo Lukács 25 Jahre lang lebte und gearbeitet hat, wo die Gespräche mit Rudi Dutschke oder Hans Heinz Holz, Wolfgang Abendroth, Leo Kofler und Theo Pinkus geführt worden sind, oder wo Lukács mit Tibor Déry darüber diskutierte, wie sehr sie nicht einer Meinung sind usw., und das war etwas, was auf der ganzen Welt eine ungeheure Anziehungskraft auf Studenten und Wissenschaftler gehabt hat, und auch noch dem ansonsten so fragwürdigen Wissenschaftstourismus den Hauch der Eleganz zu verleihen vermochte28 – jetzt wird die Wohnung dem Eigentümer zurückerstattet. Die Bibliothek soll in dem neuen (im Moment nur halbwegs fertigen) Gesellschaftswissenschaftlichen Zentrum der Akademie untergebracht werden, wo sie angeblich als Sondersammlung behandelt werden wird – nur dass dabei die Ordnung, wie Lukács seine Bibliothek der Logik der Arbeit gemäß sich eingerichtet hat, alas, zerstört werden muss, da die Bücherregalen von Lukács etwas höher sind, als es die neue Gebäude erlaubt…29 Die Handschriften und Briefe müssen schon einen weiteren Weg hinter sich lassen, sie sollen erst in die Manuskriptsammlung der Akademie, wo sie (so wurde es versprochen) gescannt, eventuell auch restauriert werden, und erst dann dürfen sie in das genannte Zentrum, um „dort der Forschung in einer Einheit mit der Bibliothek zur Verfügung zu stehen“ (Zitat aus der Erklärung der Akademie), obwohl dort kein Platz für die ca. 1000 Manuskripteinheiten und die Briefe vorgesehen ist, solch einer, wo sie „der modernen Forderungen und Vorschriften der Behandlung von Manuskripten entsprechend“ gelagert werden könnten (wie es in den akademischen Äußerungen so schön hieß) schon überhaupt nicht. So lächerlich das alles klingt, will ich damit nicht behaupten, dass die Akademie die Papiere und Bücher von Lukács einfach in den Wind streuen möchte; und auch die Forschung wird (na ja, mit der Zeit) Zugang zu den Materialien finden. Etwas schwerer, als bisher, alles von vorne anfangend, ohne Anhaltspunkte, als wär‘ das Archiv nie gewesen. Ein paar Lukács-Schriften (ein paar Bände von Lukács-Schriften) bleiben in alten Ausgaben und Zeitschriften stecken, einige wichtige Bücher werden die Grenze Richtung Budapest nicht übertreten, Kontakte gehen verloren, ein paar Studenten (viele, besser gesagt) gehen lieber nach Prag; und vor allem Lukács geriet noch mehr in Vergessenheit, wie er schon sowieso geraten ist – und wie hierzulande fast alles geraten ist, was man once upon a time „progressiv“ genannt hat. Doch darum geht es. Dass mit dem Eifer, den sie bei der Schließung des Archivs zeigt, die Akademie den Verdacht auf sich zieht, dem Druck gewisser politischen Stimmungen nachzugeben (als wollte selbst sie aus der Wissenschaft das Dienstmädchen der Politik machen – Entschuldigung, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen), ist etwas, worauf einzugehen sich hier erübrigt: ersichtlich tut mit der Unterwürfigkeit die Akademie sich keine Gewalt an: sie will nicht mit Lukács assoziiert werden. Nun, wenn sich UAW blamieren möchte, kann und will ich sie daran nicht hindern. Doch dass sie das Archiv – trotz empörtem Protest seitens verdienstvoller Greisen, engagierter Studenten und ernster wissenschaftlicher Gesellschaften, trotz der Intervention von Akademikern derselben Akademie, die diese Entscheidung traf – nach all den scheinheiligen Begründungen (dass die Miete der Wohnung unerträglich teuer ist, dass die Umstände den modernen Forderungen der Lagerung von Papieren nicht entsprechen) nun mit der allerscheinheiligsten schließt: dass nämlich durch die Schließung des Archivs nur die im Testament festgelegten Intentionen des Philosophen verwirklicht werden, der ja seine Bibliothek dem Philosophischen Institut, seine Manuskripte der Bibliothek der UAW hinterließ – das zeugt über eine des Voltaireschen  Écrasez l’infâme würdige Impertinenz.

 


1 Lukács-Jahrbuch, Aisthesis-Verlag, 2016, 35–60. – Diese Schrift diente in ihrer ersten Fassung, die für diese Publikation nur mit einigen Daten ergänzt und nur um der Lesbarkeit willen leicht überarbeitet wurde, als Leitfaden bei einem Vortrag, die ich, milde gesagt, nicht ganz aus eigener Initiative am 2-3. Dezember 2014 in Wien hielt, an einer Konferenz, die die Einrichtung eines virtuellen Lukács-Instituts in Wien unter Mitwirkung der Wiener Universität und der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vorbereiten sollte. So lobenswert das Vorhaben der Wiener Universität auch war (und ist), kam das Angebot einer internationalen Zusammenarbeit zu einem Zeitpunkt, in dem das Archiv den Entzug all seiner Selbstständigkeit und Kompetenzen zu erdulden gezwungen war, und von der Idee, dass dem Archiv (das eigentlich als eine Werkstatt für philologische, editorische und interpretative Arbeit konzipiert worden war) in dem Projekt einzig die Rolle des Rohmaterialzulieferers zugeteilt wird, fühlte ich mich nicht besonders animiert; bei der Durchsicht des Textes musste ich allerdings feststellen, dass die ironischen Bemerkungen des Vortrags über die Machenschaften der hohen Akademie, zu denen mich diese Situation veranlasst hat, hätten viel grober formuliert werden sollen. Es gab Gründe (Gründe gibt es immer), die Bissigkeit der Bemerkungen zu zähmen (das Wiener Publikum brauchte sich ja nicht besonders für die Konflikte des Archivs mit der akademischen Obrigkeit interessieren); stolz bin ich aber darauf nicht. – Der Verfasser war seit 1978 Mitarbeiter des Archivs, es mag passieren, dass er die Geschichte des Archivs nicht ganz unvoreingenommen erzählt, was er nicht bedauert; des Weiteren kann er nicht mit Insider-Informationen aus höheren (politischen, akademischen) Regionen dienen, was er ebenfalls nicht bedauert; es ist schon etwas problematischer, dass er im 2. und 3. Kapitel vieles aus eigener Erfahrung erzählt, da einem Zeugen der Geschehnisse leicht zustoßen kann, dass er aus den Geschehnissen nichts versteht…

2 Was aber aus dem Text notgedrungen geworden ist, s. den Nachtrag.

3 Ferenc Fehér: Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution 1918, in: Ágnes Heller, Ferenc Fehér, György Márkus, Sándor Radnóti: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1977, 131. ff.

4 Sein Name wurde in dem Spiegel-Artikel (Der Mann mit dem koffer, Spiegel 1973/35, vom 72. August), der über den Fund und dem Weg der Papiere zum Archiv berichtet, nicht erwähnt, s. hier.

5 Heller Ágnes: Lukács György és Seidler Irma, in: Portrévázlatok az etika történetéből [Portraitskizzen aus der Geschichte der Ethik], Gondolat, Budapest 1976; Fehér Ferenc: A dráma történetfilozófiája, a tragédia metafizikája és a nem-tragikus dráma utópiája [Die Geschichtsphilosophie des Dramas, die Metaphysik der Tragödie und die Utopie des nicht-tragischen Dramas], Irodalomtörténet 1977/1. usw.

6 Auf Deutsch: Georg Lukács: Briefwechsel 1902–1917, hrsg. v. Éva Karádi u. Éva Fekete, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1982.

7 Balázs Béla levelei Lukács Györgyhöz. Egy szövetség dokumentumai [Die Briefe von B. B. an G. L.], hrsg. und eingeleitet v. Júlia Lenkei, MTA Filozófiai Intézet/Lukács Archívum, budapest 1982.

8 Ernst Bloch und Georg Lukács. Dokumente zum 100. Geburtstag, hrsg v. Miklós Mesterházi u. György Mezei, MTA Filozófiai Intézet/Lukács Archívum, Budapest 1984. (Blochs Briefe und die Briefe der Korrespondenz zwischen ihm und Lukács 1948-1971 sind dann bei Suhrkamp erschienen (Ernst Bloch: Briefe 1903-1975, hrsg. v. Karola Bloch u. a., 2 Bde., Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1985) – unerklärlicherweise fehlen aber dort 5 Lukács-Briefe, obwohl die Herausgeber nicht nur im Besitz der Kopien der Briefe waren, aber auch die Ausgabe des Archivs kannten.

9 Dialógus a művészetről. Popper Leó írásai/Popper Leó és Lukács György levelezése [Dialog über die Kunst. Die Schriften von Leo Popper/Die Leo Popper–György Lukács-Korrespondenz], hrsg. v. Ottó Hévizi u. Árpád Tímár, LAK–T-Twins, Budapest 1993.

10 György Márkus: „Anthropologie“ und Marxismus. VSA, Hamburg 1981.

11 Ágnes Heller u. a.: Aufzeichnungen für Genosse Lukács zur Ontologie, in: Georg Lukács. Jenseits der Polemiken, hrsg. v. Rüdiger Dannemann, Sendler-Verlag, Frankfurt a. M. 1986, 209 ff.

12 Irgendwann um 1971-72 schrieb Ferenc Fehér einen umfassenderen Aufsatz für die Zeitschrift Magyar Filozófiai Szemle über die politische Philosophie von Lukács; der Aufsatz war schon gedruckt, als seine Veröffentlichung untersagt wurde; einige vervielfältigte Exemplare des Aufsatzes kursierten in der Stadt, sind aber heute allem Anschein nach nicht mehr aufzufinden, so lehrreich der Aufsatz auch wäre – eine ähnlich „einfühlsame“ Abhandlung der politischen Ansichten (oder wenn man will, Illusionen) des späten Lukács und seines Kreises ist heute (in Ungarn wenigstens) kaum zu erwarten.

13 Soweit ich weiß, wurde die Abhandlung nie publiziert, wie auch der Quasi-Sammelband (Marxismus im vierten X) nicht, für den sie bestimmt war.

14 Horváth Pál: A Filozófiai Intézet története [Geschichte des Philosophischen Instituts], hier.

15 Es sollte nicht unerwähnt bleiben, vor allem, weil in den neueren Papieren der Akademie die Anschuldigung häufig wiederkehrt, das Archiv wäre nicht fähig gewesen, einen Katalog der Nachlassbibliothek und der Manuskripte zu präsentieren, dass die damalige Bibliothekarin Katalin Lakos, und der Archivar Ferenc Csóka eine respekteinflößende Arbeit geleistet haben: in nach meiner Schätzung überraschend kurzer Zeit waren die Bücher von Lukács katalogisiert, seine Zeichen am Rande vermerkt, die Papiere geordnet und in ein Verzeichnis eingetragen etc.

16 … doch daran hat sich keiner mehr erinnert, was zu dem komischen Zwischenspiel führte, dass als 1985 zum 100. Geburtstag von Georg Lukács eine höchst offizielle Konferenz zusammengetrommelt werden sollte, die genannte Resolution in aller Eile (durch eine neue Parteiresolution natürlich) aufgehoben werden musste, um, wie vorgesehen war, all die, wie damals hieß, Bruderinstitutionen einladen zu können.

17 S. dazu: Mihail Lifsic–Sziklai László: Moszkvai évek Lukács Györggyel [Moskauer Jahre mit Georg Lukács], Gondolat, Budapest 1989; Lukács György és a szocialista alternatíva, hrsg. v. Tamás Krausz, l’Harmattan, Budapest 2010 (mit der kompletten Lukács–Lifsic-Korrespondenz).

18 Lukács György: Esztétikai írások 1930-1945, hrsg. v. László sziklai, Kossuth, Budapest 1982.

19 Weiteres zu den Materialien: Es gibt natürlich Manuskripte (Typoskripte), sogar umfangreiche Manuskripte auch aus der Nachkriegszeit, allerdings handelt es sich hier zum Teil um Reinschriften, die von der gedruckten Version nur dadurch abweichen, dass die Lektoren des Aufbau Verlags oder Frank Benseler bei Luchterhand frei sprachliche Korrekturen vornehmen durften. (Frühere Versionen, Aufzeichnungen usw. hat Lukács nach dem Abschluss seiner Manuskripte meistens sorgfältig vernichtet.). Das gilt natürlich nicht für Manuskripte, die nicht veröffentlicht werden durften, wie es bei dem Manuskript von Demokratisierung heute und morgen der Fall war, oder die Lukács nicht zu Ende Schreiben konnte (Gelebtes Denken).

20 (Nach 1956) durfte Lukács erst ab ca. 1967 in Ungarn wieder veröffentlicht werden, und dank Ferenc Fehér als Herausgeber und vor allem István Eörsi als Übersetzer ist vieles erschienen oder neu erschienen – so etwa die späte Ästhetik; doch was zuerst unter dem Titel Werke beim Verlag Gondolat lief, bestand aus Auswahlbänden, die unter den Druck herausgebracht worden sind, vielleicht ist der gerade herausgebrachte Band der letzte, der noch veröffentlicht werden konnte. Erst 1971 wagte der Magvető Verlag, übrigens der Verlag für neue ungarische Literatur, den Versuch, mit einer Reihe unter dem Titel Sämtliche Werke herauszukommen (Történelem és osztálytudat [Geschichte und Klassenbewusstsein], hrsg. v. Mihály Vajda), doch der zweite Band folgte erst 1977 (Ifjúkori Művek [Jugendschriften], hrsg. Árpád Tímár).

21 Auch Interviews, wie die von Holz, Kofler, Pinkus geführten Gespräche mit G. L. oder die Schriften, die bei Rowohlt unter dem Titel Marxismus und Stalinismus erschienen sind.

22 Den Außenseitern kann es getrost gleichgültig sein, für uns, die im Archiv arbeiteten, gehörte es darüber hinaus zum sex appeal des Archivs, dass niemandem untersagt war, seinen Grillen nachzugehen, auch wenn sie wenig oder Garnichts mit Lukács zu tun hatten.

23 Der Band mit den politischen Schriften aus 1920-22, wenn man will, den Vorarbeiten zu Geschichte und Klassenbewusstsein, konnte nicht mehr erscheinen; die Schriften sind jetzt unter hier zu erreichen.

24 Zur Erforschung all der Ursachen wäre hier ein Essay über die „ungarische Ideologie” nötig, den ich mir und dem Leser aber lieber ersparen möchte; er würde zwar über lustige und überraschende Zwischenfälle berichten, und doch wäre er kein lustiges Lesestück.

25 Für die deutsche Version (Die Seele und die Formen, Egon Fleischel, Berlin 1911) hat Lukács einiges leicht umgeschrieben, und den Band mit dem erst nach dem Erscheinen von A lélek és a formák geschriebenen Essay Die Metaphysik der Tragödie erweitert). – Zu den bibliographischen Daten s. die Reihen des Archivs.

26 Herausgeber der ersten Reihe war László Sziklai, der zweiten András Kardos und Otto Hévizi, beide Mitarbeiter des Archivs.

27 Da das politische Gedächtnis (behaupten Soziologen) höchstens ein halbes Jahr umfangen kann, eine kurze Erläuterung: der Zünder in den Geschehnissen war eine simple Intrige innerhalb des Philosophischen Instituts, die mit politischer Unterstützung zu einer Verleumdungskampagne gegen prominente Figuren des philosophischen Lebens schwoll, durch die die in Charaktermord nicht ungeübte neue Regime (die, die zu genießen wir auch heute noch die Freude haben) nicht nur die Verdächtigten, sondern die liberale Kritik überhaupt zu diskreditieren versuchte. Dass diese Welle der Denunziation auch von privater Rachsucht getrieben war, versteht sich.

28 „It is too early to say what will remain of Lukács’ voluminous achievement. Already he seems a figure from the classic European past. But unquestionably, History and Class Consciousness, The Historical Novel, Studies in European Realism, the great essays on the Goethe-Schiller letters, on Gottfried Keller, on Balzac, represent one of the principal intellectual achievements of the age. From Lukács’ apartment, book-lined to the ceiling, its high windows overlooking the Danube, came energies of spirit and delight in thought more vital and rarer then any political doctrine.” – Georg Lukács. A Tribute by George Steiner, The Sunday Times, 10. April 1970.

29 …was aber kein Problem darstellt, da sich in der Bibliothek keiner mehr zurechtfinden wird: die Katalogzettel deuten (auch in der digitalisierten Version) auf den Ort hin, wo die Bücher bei Lukács ursprünglich standen (Kolumne, Regal, erste/zweite Reihe).