Nathan und Tasso[1]

 

Es vergehen selten einige Jahre in [der] deutschen Literaturentwicklung, ohne dass von irgendwoher eine Rebellion gegen dem überragenden Einfluss Goethes ausbrechen würde. Diese Aufstände berühren sehr selten die dichterische Bedeutung Goethes; ja sie sind auch nicht gegen diese gerichtet. Es liegt ihnen viel mehr das – im wesentlichen Gesunde – Gefühl zu Grunde, dass das Goethische Lebenswerk für die deutsche Geistesentwicklung eine falsche Tendenz bedeutet, dass das Verfolgen mancher seiner Wege in ein tristes Philistertum, in eine öde Spießbürgerlichkeit führen muss. Soweit spricht aus diesen Revolten ein gesunder Klasseninstinkt der bürgerlichen Intelligenz; ein Versuch sich gegen die sich ständig steigende Verengerung des geistigen Horizontes, gegen die Verödung des inneren Lebens zu währen. Jedoch alle diese Oppositionen gegen Goethe sind außerstande, das Problem dort zu packen, wo es zu packen ist: bei der Beziehung der deutschen Klassik zur Entwicklung der bürgerlichen Klasse in Deutschland. Sie bleiben bei der Betrachtung der – isolierten – literarischen oder höchstens allgemein „geistigen“ Entwicklung stecken, und können deshalb der ideologischen Sackgasse, die sie in der klassischen Literatur Deutschlands – wenigstens teilweise – richtig wittern, nur andere ideologische Sackgassen gegenüberstellen; ja sie geraten sogar in eine Position, von wo aus alles Fruchtbare, Großartige und In-die-Zukunft-Weisende dieser Epoche unwahrnehmbar wird. Weshalb auch alles, was sie gegen Goethe und die deutsche Klassik ausspielen, nicht nur künstlerisch oder denkerisch, sondern auch vom Standpunkt des progressiven[2] bürgerlichen Klasseninstinktes, der ihre Opposition letzten Endes bestimmt hat, tief unter ihr steht.

So ist es auch dem jüngsten dieser „Rebellen“, Carl Sternheim ergangen. Sein Büchlein gegen Goethe[3] zeigt die typischen Kennzeichen des Literatenhaften. Soweit das Positive seinem Büchlein überhaupt zu entnehmen ist, sind die „Heroen“, die er gegen Goethe und seine Folger ausspielt: Stirner und Nietzsche; also der kleinbürgerlich-literatenhafte Anarchismus. Hier muss nun gesagt werden: im Vergleich zu solchen Rebellen, selbst wenn man vom Wert der Erscheinungen und ihrer Leistungen ganz absieht, und ausschließlich die von ihnen repräsentierten[4] Richtungen betrachtet, ist noch dass – von Sternheim teilweise ganz richtig erkannte – Philisterhafte Wesen des Tasso ein richtiger Weg einer gesunden Entwicklung.

Trotzdem muss wiederholt werden: es ist auch bei Sternheim ein richtiger Klasseninstinkt, der sich gegen den Tasso Goethes auflehnt. Denn dieses Werk – dessen dichterische Schönheiten jetzt nicht zur Diskussion stehen – bezeichnet tatsächlich eine völlige, triste und erniedrigende Kapitulation der bürgerlichen Intelligenz vor den Mächten der feudal-absolutistischen Epoche; vor Mächten, denen dieselbe Intelligenz noch eine Generation früher unvergleichlich freier und selbstbewusster gegenübergestanden ist. Wenn aber im Titel dieser Zeilen Lessings Nathan als Gegenstück und Gegensatz zum Tasso gesetzt wurde, so war dies keinesfalls als Vergleich oder Parallele gemeint, sondern bloß um den Punkt aufzuzeigen, von wo aus eine berechtigte Opposition gegen den Tasso einsetzen könnte. Es ist freilich für die innere Geschichte der bürgerlichen Klasse in Deutschland tief beschämend, dass bis Lessing zurückgegriffen werden muss, wenn untersucht werden soll, wann und wo die bürgerliche Intelligenz von dem Wege des bewussten und mannhaften Kämpfens für die Emanzipation der eigenen Klasse abgewichen ist, wann und wo ihre Kapitulation vor dem „Bestehenden“, ihre Verehrung der „historischen Mächte“, ihre Kriecherei und Philisterhaftigkeit, ihre – nach Engels Worten – „in das nationale Bewusstsein gedrungene Bedientenhaftigkeit“ also Sternheims juste milieu begonnen hat.

Es ist schwer zu entscheiden, wieweit es ein Glück und wieweit es ein Unglück für die geistige Entwicklung Deutschlands war, dass zur Zeit, als die wirklichen Emanzipationskämpfe der Bourgeoisie einsetzen konnten, nicht nur das Proletariat bereits als internationale Macht am Kampfplatze erschienen ist, sondern auch alle entscheidenden geistigen Schlachten der sich emanzipierenden bürgerlichen Klasse in Deutschland längst geschlagen waren. Dass also die deutsche Klassik nicht der ideologische Ausdruck für eine ökonomisch, politisch und sozial  auf dem Gipfelpunkt stehende Klasse ist, sondern die – gewissermaßen im luftleerem Raum sich abspielende  – innere Entwicklung der bürgerlichen Intelligenz in einer Gesellschaft, in der man, nach dem richtigen Ausdruck von Marx „weder von Ständen, noch von Klassen, sondern höchstens von gewesenen Ständen und ungeborenen Klassen“ sprechen könnte. Die Emanzipationsbestrebung ist hier also nicht der Ausdruck einer lebendigen Klassenbewegung, wie in England und Frankreich des 18. Jahrhunderts, sondern der heroische Versuch hochbegabter Individuen, die ideologischen Früchte dieser Emanzipation aus eigener Kraft zu produzieren, bevor noch aus der ökonomisch-sozialen Wurzel der Klasse ein sie tragender Baum herangewachsen wäre. Diese Versuche entstehen also aus dem isolierten individuellen Bewusstsein heraus, und werden  in keiner Beziehung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf die sie auftreffen oder die sie verfehlen, korrigiert oder kontrolliert. Sie sind ebendeshalb auch niemals – selbst beschleunigende oder weitertreibende – Darstellungen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern stets individuelle Utopien. Oder dichterisch ausgedrückt: sie sind zur Stilisierung gezwungen.

Hier muss die marxistische Kritik der klassischen Epoche einsetzen. Sie muss fragen: In welcher Richtung wird die unvollkommene, die zugleich verfallende und ausgegorene gesellschaftliche Wirklichkeit verlassen und in welcher Richtung das ihr als wirkliche, als sein-sollende Wirklichkeit gegenübergestellte Reich der Utopie gesucht? Nathan und Tasso bezeichnen hier zwei Tendenzen, die – trotz der unermesslichen literarischen Überlegenheit Goethes – sein Werk doch als gefährlicher Abweg, als ideologische Verfallserscheinung Lessings gegenüber erscheinen lassen. Die Utopie Lessings ist das Reich des Menschen. Alle Schichtungen, seien sie ständische, religiöse oder ökonomisch-soziale, fallen vom wahren Menschen wie ein lästiges Gewand ab. Das bloße Da-Sein eines echt menschlichen Gefühls, die bloße Gegenwart eines wirklichen Menschen lässt sie als oberflächliche Hüllen erscheinen. Sie sind zwar „Wirklichkeit“, d.  h. die Wirklichkeit der für Lessing gegenwärtigen Welt, jedoch seine Stilisierung besteht gerade darin,. dieser bloß empirischen, bloß daseienden Wirklichkeit eine andere, echtere, wenn auch nur utopische, die des wirklichen Menschen gegenüberzustellen. So wie er in seinem „naturalistischeren“ früheren Dramen offen-polemisch gegen die erbärmliche Wirklichkeit seiner Zeit angekämpft hat, so ist hier die bloße – stilisierte – Darstellung des Reiches der Menschlichkeit ein noch klarerer, noch revolutionärerer Kampf gegen sie.

Tasso hingegen bedeutet die Versöhnung mit eben dieser Wirklichkeit. Goethes Stilisierung ist eine rein dichterische; man kann sagen, eine bloß dichterische: er kleidet die ganze kleinliche Erbärmlichkeit seiner Zeit in die gedämpft-leidenschaftliche Pracht seiner Verse – um die Empörung gegen sie als „einseitig“, als „übertrieben-subjektiv“, als unberechtigt erscheinen zu lassen. Das, was die Menschen voneinander trennt, das Äußerliche, das Ständische, das Soziale erscheint nicht mehr als äußerlich, nicht mehr als Fessel, die zerbrochen werden muss, sondern als – innerlich – notwendige Bindung, als Förderungsmittel der wahren Entfaltung der Seele. Die wenn auch utopische innere Freiheit der menschlichen Beziehung der Menschen zueinander wird von den „guten Manieren“, von der Sitte, von der Etikette des Hofes abgelöst. Die Menschen sollen einander nicht kennen, sondern reibungslos aneinander vorbeigehen, sie sollen nicht in jene Beziehungen zueinander treten, die ihnen ihre innere Stimme vorschreibt, sie sollen viel mehr jene äußere Schranken, die ihnen gesellschaftlich gegeben sind, als unübertretbare (seelische) Gebote respektieren. Damit ist aber die „stilisierte“, die erhabene und erhobene Welt der Dichtung noch gedrückter geworden, als die der gewöhnlichen Wirklichkeit. Denn nicht einmal der Wunsch und die Sehnsucht, nicht einmal die Empörung und die Ahnung des Echten vermögen einen Ausblick ins Freie zu öffnen. Die Dichtung schließt die Welt dort ab, wo sie historisch zufällig vorhanden ist: sie bietet keine Aussicht; sie verhängt im Gegenteil – wenn auch mit einem herrlich gewobenen Vorhang – jede Aussicht in die Welt der Freiheit.

Vom proletarischen Standpunkt könnte freilich auch gegen die Utopie Lessings manches gesagt werden – besonders gegen die Utopie als Methode. Es wäre jedoch mehr als unbillig (eine schlechte Utopie), selbst von dem größten Geiste zu verlangen, dass er alle Gebundenheit seiner Zeit, der Klasse, in deren Namen er spricht, wie wesenlosen Schein hinter sich lasse. Aber jeder große Geist kann (und muss sogar) an der erreichten und erreichbaren Bewusstseinshöhe seiner eigenen Zeit, seiner eigenen Klasse gemessen werden. Und wenn an Goethe dieser Maßstab, der Maßstab Lessings angelegt wird – dann fällt der Vergleich zu seinen Ungunsten aus. Dann erscheint der – dichterisch – geringere Lessing als wahrer Wegweiser und der größere Goethe als Abstieg ins Philisterhafte. Und man muss es als eine immer wiederkehrende Tragödie Deutschlands bezeichnen, dass bis jetzt in jeder ideologischen wie politisch-sozialen Entscheidung stets der Geist des Kompromisses und der Philisterhaftigkeit triumphiert hat: Luther über Münzer, Goethe über Lessing, Bismarck über 48.

Eine Ahnung diese Problematik steht hinter dem Sternheimschen Versuch. Und in dieser Hinsicht ist es erwähnenswert. Leider verleitet ihn sein Literatentum, sobald er seine Forderungen auszusprechen beginnt, auf schlimmere Abwege, als das von ihm bekämpfte – und der falsche Standpunkt im Positiven bringt selbstredend auch Falsches in der Kritik mit sich. Den Stirner und Nietzsche kapitulieren in einer unaufrichtigeren und kleinlicheren Weise vor einer vielleicht noch schlimmeren „Wirklichkeit“, als es Goethe getan hat. Ihre „Revolte“ ist bloßer Schein: die Unzufriedenheit des anarchistischen Literaten in einer (kapitalistischen) Welt, mit der er innerlich einverstanden ist, in die er sich bloß nicht organisch einzufügen vermag.

 
[1] Rote Fahne, Berlin 13. 8. 1922 (Nr. 367.) Feuilleton, S. 1. – Der Hrsg.

[2] Im Original: prozessiven. – Der Hrsg.

[3] Carl Sternheim: Tasso oder die Kunst des juste Milieu, Berlin, Erich Reiß.

[4] Im Original: von ihrem repräsentativen. – Der Hrsg.