Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Georg Lukács aus dem Jahre 1927[1],[2]

 

Dr. Thomas Mann

München, Poschingerstr. 1
den 22. März 1927.

Sehr geehrter Herr Dr. Lukács,

Ihren Brief vom 13. ds. Mts. erhalte ich hier bei meiner Rückkehr von einer Auslandsreise. Er kommt also verspätet in meine Hände, und ich halte für möglich, ja wahrscheinlich, dass auch eine Kundgebung meinerseits nach Budapest jetzt im guten oder schlimmen Sinn zu spät käme. Ausserdem aber ist meine Abneigung, mich als Deutscher in ausländische Angelegenheiten einzumischen und mir das Ansehen eines arbiter mundi zu geben, sehr lebhaft, und ich habe mit dieser Abneigung wiederholt meine ablehnende Haltung begründet, wenn von deutscher Seite Aufforderungen an mich ergingen, gegen ausländische, etwa italienische Vorkommnisse[3] menschlich beschämender Art zu protestieren. Ich finde, jedes Land und Volk sollte vor seiner eigenen Türe kehren, denn zu kehren gibt es überall genug.

Mit den besten Grüssen und meinem Dank für Ihre mich jedenfalls ehrende Aufforderung, bin ich, sehr geehrter Herr Dr. Lukácz [sic],

Ihr

sehr ergebener

[mit Handschrift:] Thomas Mann

*

Wien, XIII. Isbary-gasse 12.
am 27. März, 1927

Verehrter Herr Doktor!

Vor einigen Tagen erhielt ich Ihren Brief von 22./III. Nach den letzten Informationen, die ich aus Ungarn erhalte, wäre es jetzt keineswegs verspätet für eine Kundgebung. Im Gegenteil. Es scheint, als ob – unter dem Eindruck der Proteste aus dem Auslande, speziell aus England – eine gewisse Schwankung in den Regierungskreisen vorhanden wäre, so dass gerade jetzt Ihr Eintreten eine Entscheidung im Interesse der Gerechtigkeit und Menschlichkeit hervorbringen könnte.

Ich kann – bei der Skepsis, die Sie Menschen und menschlichen Institutionen gegenüber seit jeher hatten – Ihre Abneigung, als arbiter mundi aufzutreten, verstehen. Gehen Sie aber hier bis ans Ende! Einerseits ist Ihr Auftreten für eine normale Gerichtsbarkeit keineswegs ein Aburteilen von oben, sondern bloss eine Stimme des internationalen Gewissens. Eine Stimme, die möglicherweise mancher ungarischer Intellektuelle innerlich vernimmt, ohne den Mut zu haben, sie laut werden zu lassen; ohne dass seine Stimme das Gewicht hätte eine Entscheidung herbeizuführen. Andererseits vergessen Sie nicht, dass ein Mensch von Ihrem internationalen Rufe und Ihrer heute gespielten internationalen Rolle stets ein wenig – ob er es will oder nicht – in die Position eines arbiter mundi gerückt wird. Nur dass er, wenn er nicht wenigstens gegen die krassesten „Vorkom[m]nisse menschlich beschämender Art“ protestiert, sehr leicht den Anschein erwecken kann, als ob sein Schweigen über Vorko[m]mnisse, bei sonst freundschaftlichem Verkehr mit jenen, die sie vollbringen, ein Billigen dieser Geschehen bedeuten würde. Und ein solcher Schein müsste Ihnen unangenehmer als jedweder andere sein.

Ich erneuere deshalb mein Ersuchen an Sie und bin

Ihr sehr ergebener

*

Dr. Thomas Mann

München, Poschingerstr. 1
den 31. März 1927.

Sehr verehrter Herr Dr. Lukács,

Sie haben recht, und ich bin froh, dass sich mir unterdessen eine gute Form geboten hat, unter der ich [in Handschrift eingefügt: ohne xxx zu erscheinen] mein Gewissen salvieren kann. Sie werden gehört haben, dass man mir einen Protest, der von zahlreichen deutschen und österreichischen Künstlern und Schriftstellern unterzeichnet worden ist, vorgelegt hat, und ich habe telegraphisch dem Dr. Bela Balács [sic] mein Einverständnis mitgeteilt.

Seien Sie bestens begrüsst von

Ihrem

ergebenen

[mit Handschrift:] Thomas Mann

 

[1] Die Fotokopien der getippten Briefe (im Falle des Lukács-Briefes die Fotokopie des Durchschlagexemplars) sind im Archiv des Instituts für Politische Geschichte, Budapest bewahrt: PIL 878.f. 8. cs. 151. őe. 60–62. l. – Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Briefe von Lukács seinem an die Moskauer Leitung der KPU gerichteten Bericht über die Protestaktion (s. Anm. 2.) beigefügt worden. – Der Hrsg.

[2] Im Februar–März 1927 wurden ungefähr hundert Mitglieder der (illegalen) Kommunistischen Partei Ungarns und der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, darunter auch die Führer der Parteien, Zoltán Szántó und István Vági verhaftet. Nach Beurteilung der Fahndungsorgane der Polizei war die legal tätige USAP im Grunde genommen eine Tarnorganisation der KPU, und diese Feststellung bot aufgrund des Artikels 1912:LXIII und einer justizministeriellen Verordnung die Rechtsgrundlage für ein standrechtliches Verfahren wegen „Verschwörung zwecks Vorbereitung einer Meuterei“. Das Standgericht wurde zum 12. April 1927 zusammengerufen. Die KPU und die Komintern organisierte eine internationale Aktion zur Rettung der Verhafteten, mit der Leitung der Aktion wurde Lukács beauftragt. Es fehlt das erste Schreiben, in dem Lukács Thomas  Mann um eine Teilnahme an der Protestaktion ersucht , und auch der von Thomas Mann schließlich unterzeichnete Aufruf ist nicht im Besitz des Archivs des Instituts für Parteigeschichte, im zusammenfassenden Bericht der Polizei für den April 1927 werden jedoch all die Künstler und Schriftsteller aufgezählt, die gegen die strafgerichtliche Verhandlung protestierten, und dort taucht auch der Name Manns auf. Der Protest blieb nicht erfolglos, das Standgericht erklärte seine Unzuständigkeit, und wies den Fall Zoltán Szántó u. Komplizen vor ein ordentliches Gericht. – Aus der Einleitung der Leiterin des Archivs des Instituts für Parteigeschichte (heute: Institut für Politische Geschichte) Magda Imre und der Historikerin Ágnes Szabó zu der ungarischen Veröffentlichung der Briefe in der Zeitschrift Kritika, Jan. 1986 (Jg. XV., Nr. 1.) S. 9.

[3] Das versuchte Attentat gegen Mussolini im November 1926 diente als Anlass zur Liquidierung der noch existierenden politischen Parteien und zur Verfolgung von Kommunisten und Sozialisten. – Anm. der ung. Veröffentlichung.