Siegfried Marck

Dialektisches Denken in der Philosophie der Gegenwart[1]

 

I.

Die Strömungen, dialektische Methode in der Philosophie der Gegenwart zu erneuern, werden von mehreren Quellen aus gespeist: die neukantischen Systeme sind überall bei ihrer Durchführung auf die Probleme der Dialektik gestoßen und haben hier überhaupt die Tendenz gezeigt, nach Kant Fichte und Hegel in ihren Motiven zu verarbeiten; die „Philosophie des Lebens” musste bei kritischer Analyse ihrer Intuitionen überall auf die Dialektik hinweisen; aus Biologie und Psychologie der Gegenwart sind vielfache Anregungen in der selben Richtung hervorgegangen. Im Rahmen dieser Abhandlung sollen einige charakteristische Ausprägungen dialektischen Denkens zur Darstellung gelangen, ohne den Anspruch einer Vollständigkeit oder einer Verfolgung des Problems bis zur Entscheidung in seine letzten sachlichen Tiefen.

Eine umfassende Behandlung der heutigen Ansätze zur Dialektik bietet das Werk von Jonas Cohn, „The Theorie der Dialektik“. Formenlehre der Philosophie, Meiner 1923, meine Darlegungen sind durch jenes Buch veranlasst worden und werden es in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellen. – Der Typus der Dialektik Cohns, die ohne weltanschauungs-dogmatische Festlegung in streng wissenschaftlicher Weise aus der Sachlichkeit der Probleme entwickelt wird, ist natürlich in ihrer Abgrenzung gegen Hegel am besten zu erkennen. Das methodische Grundcharakteristikum, das die Dialektik eben als solche kennzeichnet, ist ihr natürlich mit der Hegelschen gemeinsam: die positive Rolle des Widerspruchs für die Erkenntnis, dessen Überwindung nicht nur ein unwesentliches Hilfsmittel im Erkenntnisprozess bedeutet, sondern im Erkenntnisresultat sichtbar werden muss; die damit zusammenhängende, dem undialektischen Erkennen gegenüber ausgezeichnete Verknüpfung zwischen Erkenntnisweg und Erkenntnisziel, das „wesentlich“ zum Resultate wird, das Auftreten des Widerspruchs im Resultats in neuer Form. Dialektisch – so kann es unter rein methodischen Gesichtspunkten formuliert werden, ist die Methode. deren Erkenntnisresultat nur als ein durch den Weg über den Widerspruch gewonnenes Ganzes mit diesem Wege zugleich zu verstehen ist. So erhält eine positiv verstandene und gewertete Dialektik ihre Abgrenzung gegen die in der Geschichte der Philosophie mannigfach hervorgetretene, sich selbst mit dem Widerspruche ausschaltende Dialektik „die Mutter der Einzelwissenschaften“. Bei dieser ist der auftretende Widerspruch das Negative schlechthin, das οὐϰ όν, der böse Feind des Erkenntnisprozesses, den es – ethische Akzentuierung ist hierbei möglich – zu überwinden und auszurotten gilt. Für den Hegelschen Begriff der Dialektik ist es nun charakteristisch, dass er nicht von seiner inhaltlichen Metaphysik abgelöst werden kann; seine formal-methodologische Fassung wäre unmöglich; auch dort, wo seine Dialektik rein methodische Motive etwa für bestimmte Einzeldisziplinen zu enthalten scheint, entfalten sich diese Motive auf dem Grunde des metaphysischen Systems. Der Widerspruch in der Dialektik entspringt hier der Selbstentzweiung des Absoluten, der dialektische Gang ist die Wiederherstellung des Absoluten aus dieser ursprünglichen Selbstentzweiung, die Einheit von Weg und Ziel stellt die Einheit der absoluten Idee und der Endlichkeit dar. Zweifellos liegen in dieser metaphysischen Dialektik, als der historisch umfassendsten Ausprägung von Dialektik überhaupt, auch überall die möglichen Ansätze ihrer Fruchtbarmachung im nichtmetaphysischen positivistischen Sinne. Indessen würde nicht nur jede Hegel-Interpretation in diesem Sinne unberechtigt sein, vielmehr sind auch ganz bestimmte methodische Züge mit der materialmetaphysischen Bedeutung der Hegelschen Dialektik untrennbar verknüpft. Wie gegen ihre metaphysische Bedeutung grenzt sich Cohns Dialektik als Formenlehre der Philosophie insbesondere gegen diese Züge ab: gegen die Abschließbarkeit der Dialektik und gegen die schöpferische Kraft des Negativen. Denn da das Absolute in der kritischen Dialektik nicht Inhalt der Erkenntnis wird, sondern Ziel bleibt, ist damit die Unabschließbarkeit des Prozesses gesetzt; ebenso kann infolge der nicht inhaltserzeugenden, sondern nur korrigierenden Funktion der Negation der dialektische, durch den Widerspruch bestimmte Prozess nicht sein Ende in einem durch den Widerspruch erzeugten Absoluten finden. „Die ganze Dialektik bewegt sich immer im Relativen, zerstört immer von neuem den Anschein der Absolutheit und strebt eben dadurch ewig dem Absoluten zu“ (S.349) – dieser Satz, der eine Quintessenz des Cohnschen Werkes darstellt, spricht die geschilderte Abgrenzung mit aller Schärfe aus.

Ein weiteres Moment hängt mit diesem Unterschiede eng zusammen: die Stellung dieser Theorie der Dialektik zum „Satze des Widerspruchs“, zum sogenannten schlicht logischen Denken und zur empirisch-einzelwissenschaftlichen Erkenntnis. Zwar ist die Widerspruchslosigkeit auch Ziel der Hegelschen Dialektik, ja die Anerkennung dieses Ideals der eigentliche Motor, der die Dialektik ihrem Resultate zu vorwärts treibt. Indessen ist diese Widerspruchslosigkeit immer nur durch Denken des unvermeidlichen spekulativen Widerspruchs herzustellen, für Hegel erhält die Vermeidbarkeit des Widerspruchs innerhalb der empirischen Erkenntnis keinerlei logischen Wert. Im Gegenteil liegt überall, wo für das Erkennen eine dialektische Funktion des Widerspruchs fehlt, wo der Durchgang durch ihn nicht Erkenntnis konstituiert, für Hegel ein dogmatisches, sich selbst nicht verstehendes, darum falsches und nur durch Eingliederung in die Dialektik zum wahrheitsfördernden Moment zu gestaltendes Erkennen vor. Bei Cohn wird nicht nur ausdrücklich die Unterstellung der Dialektik unter

das logische „Erzaxiom“ der Widerspruchslosigkeit formuliert und damit das mögliche Missverständnis einer Negation dieses Grundgesetzes ausgeschaltet, das bei Hegel nur implizit durch das Ziel spekulativer Widerspruchslosigkeit Anerkennung findet. Es wird vor allem das schlicht logische Denken, das auf Vermeidung des Widerspruchs von vornherein eingestellt ist, in seinem Eigenrechte in Praxis und Einzelwissenschaften der Dialektik gegenüber gewahrt. Die schlicht logischen Gedankengänge, in denen ein auftretender Widerspruch durch Analyse ausgeschaltet werden kann und die unwesentlich dialektischen. in denen die Überwindung des Widerspruchs kein konstitutives Element für das gewonnene Resultat bedeutet, werden von den wesentlich dialektischen Gedankengängen begrifflich getrennt, obwohl auch sie sich im vollendeten Ganzen der Erkenntnis als Teile des dialektischen Gedankenganges herausstellen müssten.

Die Rolle des Widerspruchs aber bleibt ausdrücklich als wesentliches Kennzeichen auch dieser kritischen Dialektik gewahrt. Damit unterscheidet sie sich von demjenigen Begriffe der Dialektik, der bei Denkern der Marburger Schule, aber auch anderen Neokritizisten verwandt wird und den man als ihren Gebrauch in „platonischen“ Sinne bezeichnen könnte. Denn hier bedeutet Dialektik nur den Prozesscharakter der Wissenschaft, die Konstatierung der Vorläufigkeit aller ihrer Setzungen, die auf die Idee eines unaufschiebbaren systematischen Erkenntnisganzen hinorientiert sind. Hier erscheint nicht der Widerspruch als der eigentlich vorwärtstreibende Motor der Bewegung. Obgleich allerdings dieser Typus der Dialektik – eben um die widerspruchsvolle Beziehung zwischen Vorläufigkeit der Setzung und der Funktion des ideellen Systemganzen für jede Setzung – in dem von Cohn angestrebten Typus der Dialektik aufzuheben wäre, ist dieser letztgenannten ihr problemgeschichtlicher Ort zwischen der spekulativen und der methodologisch abgefassten, als einer im Ganzen des philosophischen Systems auftretenden Dialektik anzuweisen.

Cohn entwickelt die Dialektik zunächst in einem hinführenden Teil an begrifflichen Beispielen, die zu einer dialektischen Behandlung drängen. Die Beziehung der Begriffe Recht und Macht ist mit schlicht logischer Analyse allein nicht zu bewältigen, obwohl auch hier wie überall mit dieser zu beginnen ist und die dialektischen Relationen nicht ein Minus, sondern ein Plus der Analyse bedeuten. Der Gegensatz ideell dogmatischer und soziologischer Rechtsbetrachtung, der von den „logistischen“ wie „soziologistischen“ rechtsphilosophischen Schulen der Gegenwart zu Unrecht verabsolutiert wird, drängt zu seiner synthetischen Überwindung hin. Keinem geltenden Recht kann die Absicht seiner soziologischen Durchsetzbarkeit fernliegen, jede Macht muss andererseits eine Gemeinschaft mit den ihr Unterstellten eingehen, die nach rechtlicher Normierung hintendiert. Fragt man nach der Rechtfertigung des formell-legitim gesetzten Rechtes, das sich von der Willkür unterscheiden will, so wird man zuletzt auf seinsmäßig bestimmte Faktoren, auf eine „faktische“ Gewalt stoßen, die „Rechtssicherheit“ zu gewähren imstande ist. Analysiert man den Rechtsanspruch inhaltlich richtigen, möglicherweise auch revolutionären Rechtes, so wird wiederum die Beziehung auf eine den soziologischen Realitäten entsprechende Machtverteilung für diesen Inhalt ausschlaggebend sein. – In diesem dialektischen Typus handelt es sich um den Gegensatz zweier Begriffe, die um ein „Streitgebiet“ ringen, sie wird deshalb als „bipolare“ Dialektik bezeichnet. In einem anderen Typus spaltet sich ein einheitliches Gebilde in zwei korrelative Pole und ihre concordia discors (unipolare Dialektik!). Solchen Typus von Dialektik weist die Betrachtung des Kunstwerkes mit dem Gegensatz „formalistischer“ und inhaltlicher Einstellung auf. Auch ihm gegenüber bleibt Cohns Analyse ihrem obersten Gesetze treu: nicht in der Art des romantischen Intuitionismus voreilig eine Dialektik ungeklärter Begriffe zu konstatieren, sondern die analysierenden Scheidungen präziser Begriffe bis an die äußerste mögliche Grenze zu treiben und an ihnen erst die dialektischen Beziehungen darzustellen. So wird der vorläufige Gegensatz von Form und Inhalt im Kunstwerke zunächst durch den Begriff der „Gestalt“ überwunden, als die dem Inhalt zugewandte Form, in der sich die Einheit von Form und Inhalt des Kunstwerkes als der eigentlich ästhetische Wertträger charakterisiert. Aber auch dieser Gestalt gegenüber melden sich die Ansprüche des gestaltenden Inhalts im Begriffe des Gehaltes wieder an, der vorläufig überwundene Widerspruch tritt wider auf angesichts der gerade in den größten Werken sich einstellenden Situation, dass der Gehalt die künstlerische Form sprengt und gerade in dieser seiner Funktion eine ästhetische Berücksichtigung verlangt. So weisen sich Gestalt und Gehalt im Kunstwerk als die beiden Pole aus, die sich wechselseitig in der Betrachtung steigern und eine spannungshaltige Einheit miteinander eingehen. Eng damit verknüpft ist der Gegensatz zwischen der ästhetischen Isoliertheit des Kunstwerkes und seinem Eingebettetsein in einen zeitlich-geschichtlichen Zusammenhang. – In die Tiefen der später vorgenommenen logischen Analysen weist unter den hinführenden Beispielen bereits der Zeitbegriff: der Modus der Gegenwart macht hier den Anspruch auf eine falsche Absolutheit, die überwunden werden muss, das echte „Sein“ ist zeitlos und wird doch zur Bewältigung des Zeitlichen gesetzt; ebenso verknüpfen sich in Gedanken der von der Zeit unabhängigen Geltung, die doch in der Zeit gedacht und erlebt werden will, zeitlose und zeitbezogene Betrachtung. Die Seinsbetrachtung führt zu der Notwendigkeit, erlebte und streng konstruierte Zeit zugleich auseinanderzuhalten und zusammenzudenken, die Geltungsbetrachtung zwang zum Sein und zur Zeit zurückzulenken, sobald das Gelten relativ zu seiner Erfüllung oder Verwirklichung und damit zum verwirklichenden Bewusstsein betrachtet wurde!

Zur Dialektik hin führen jedoch nicht nur diese Begriffe kulturphilosophischer Struktur, sondern bereits auch praktisches Denken und Einzelwissenschaften erweisen sich an ihren Grenzen als dialektisch. Die Erfahrung des Praktikers wird systematisch verstanden Widerspruch zur ursprünglichen Unbefangenheit praktischen Tuns, dessen Selbstverständlichkeit wird durch die Ziele der Mitmenschen problematisch gemacht, mit diesen Motiven in Gemeinschaft führt die irrationale Komponente des Geschehens zur Reflexion, d. h, zum „Denken über das Ganze des Lebens“. Und ebenso erweisen sich die Einzelwissenschaften, die sich mit Recht undialektisch halten wollen, bei der philosophischen Besinnung über sie als dialektisch: Der Gegensatz von Einzelerkenntnis und ihrem Hinweis auf die Totalität des Erkennens, die „Unruhe des Philosophierens“, die „mehr als die anderen Wissenschaften Biologie und Psychologie enthalten“, weisen bereits auf die Darlegungen des „aufbauenden Teiles“ hin.

Wiederum steht in diesem die Unterstreichung des logischen Erzaxioms,, des Satzes vom Widerspruch an der Spitze. „Ohne die Anerkennung des Satzes vom Widerspruch würde die Dialektik keinen Schritt vorwärts tun können, wie sollte sie diesen Satz ableugnen“. Urteile mit gleicher, vollständig bestimmter Urteilsmaterie können nicht gleichzeitig bejaht und verneint werden, nicht um eine Synthesis der Urteilsqualitäten (Bejahung und Verneinung) kann es sich also in der Dialektik handeln, sondern um Synthesis entgegengesetzter Urteilsmaterien. Unter Festhaltung dieser Gesichtspunkte werden Ursprünge der Dialektik nunmehr im Erkennen, im Objekt und im Subjekt aufgewiesen. Innerhalb der „Voraussetzungen“ des Erkennens ist der grundlegende Ursprung von Dialektik, die schon bei der hinführenden Betrachtung der Einzelwissenschaften hervorgehobene relative Isolierbarkeit des Einzelurteils und seine Bedingtheit durch das systematische Ganze der ideell vollendeten Erkenntnis, die wechselseitige Bedingtheit von ideell vollendeter und zeitlich im Einzelurteil sich vollziehender, also fragmentarischer Erkenntnis. An jedes einzelne Urteil kann und muss der Maßstab der Wahrheit bereits angelegt werden, aber die Entscheidung darüber, ob ihm genügt wird, ist stets nur vom werdenden, unabgeschlossenen Erkenntniszusammenhange aus zu treffen. So hat das Urteil stets die Tendenz zur „Überschreitung seiner Geschlossenheit”, es ist. zugleich „für sich“ und abhängig vom Erkenntniszusammenhange, Der Ursprung der Dialektik im Erkenntnisurteil vertieft sich durch die Analyse der von der Urteilsqualität zu unterscheidenden Urteilsmaterie und der in ihr herauszuhebenden Beziehungen des „Rationalen“ und „Irrationalen“. Sie entfaltet sich nach zwei Richtungen: innerhalb der in „Relation“ und „Gegenstand“ zu zerfällenden Urteilsmaterie ist der „Gegenstand“ nur durch die Denkform der Identität bestimmt, die nicht über den identisch gesetzten „Gegenstand“ hinausweist. Diesem gegen über stellt die „Relation“ innerhalb der Urteilsmaterie den Bezug auf den Erkenntniszusammenhang dar. Aber nun wiederholt sich an der Urteilsmaterie die dialektische Gesetzlichkeit des ganzen Urteils, indem auch der als scheinbar einfaches Element in das Urteil eintretende Gegenstand erneute und endgültige Bestimmung vom Gesamtzusammenhang der Urteile aus erhält. Aber auch die einfachsten identischen Elemente der Ur teile (die hier eben mit einer nicht ganz glücklichen Terminologie „Gegenstände“ genannt werden), enthalten in sich die Dialektik der „Gegebenheit“, d. h, sie enthalten keine Relationen mehr, sind als Erlebnisinhalte hinzunehmen –   aber können in das Denken doch nur in der Denkform der Identität eintreten. „Das Irrationale des rein Gegebenen tritt immer nur in der rationalen Form der Gegebenheit in das Gebiet des Denkens ein“ (S. 149); andererseits setzt die Denkform der Identität ein von ihr nicht „erzeugtes“ Identisches voraus. So enthält der Gegenstand schon Denkform, wie an der Relation schon Denkfremdes haftet und nur die Möglichkeit, die sich der philosophischen Analyse als verschiebbar enthüllende „Formstellung“ der Relation und ebenso die „Inhaltsstellung“ des Gegenstandes festzuhalten, kann die vereinfachende undialektische Behandlung der Urteile in den „schlicht logischen“ Gedankengängen ergeben. – Auch in den. „Zielen“ des Erkennens liegen Schwierigkeiten, die zu einer dialektischen Behandlung nötigen. Hier steht neben dem Satz von der „Prävalenz des Positiven“, nach dem kein vorfindbarer Inhalt im Erkennen beseitigt werden kann, die „kritische Kraft der Negation“, die bestimmte Beziehungen von diesem Vorfindbaren ausschaltet und gerade dadurch die Erkenntnis vorwärts treibt.

Bei dem Ursprung der Dialektik im Objekt weist der dialektische Ansatz im Begriffe der Stetigkeit auf die Antinomie von Gegenstand (Begrenzung) und Relation (Fortgang) zurück. Eine ganze Fülle konkreter dialektischer Beziehungen entfaltet sich dann natürlich am Begriffe des Lebens. Hier muss sich die ganze Überlegenheit der Dialektik über den Intuitionismus aus der Einsicht heraus, dass das „Unmittelbare ein Vermitteltes ist“, bewähren. Statt der „Indifferenz“ in der Lebensphilosophie tritt ein ganzes Geflecht dialektischer Relationen, die aber vom Denken ihren synthetischen Vollzug fordern, hier hervor: die zwischen Mechanismus und Vitalismus, zwischen substantialer Identität der Gestalt eines Lebendigen und ihrer kontinuierlichen Veränderung (geprägte Form, die lebend sich entwickelt!), zwischen der „Abtötung“ des Lebendigen durch das Denken und dem Lebendigen selbst als seinem Gegenstande. Es offenbart sich eine Dialektik darin – die sich im Rahmen der denkpsychologischen Betrachtungen noch schärfer enthüllen soll –, dass das Leben sein Gedachtwerden als seinen Widerspruch selbst fordert. Das „Denken des Lebens“ ist in Cohns tiefsinniger Konzeption Exponent des „sich zum Starren waffnenden“ und die Starrheit wieder auflösenden Gestaltungstriebes im Lebendigen, weil es in dieser Form zugleich Ausdruck für das „Leben des Denkens“ ist. Wenn bei der Dialektik des Lebensbegriffes Berührung mit der Lebensphilosophie und zugleich ihre Umformung stattfindet, so führt die kritische Dialektik des Subjekts in die Nähe der spekulativen Dialektik, um sich freilich doch, wie der dritte Abschnitt dieser Betrachtungen zeigen soll, sehr wesentlich von ihr abzuheben. Sie tritt zunächst auf als Dialektik in der Struktur der Wertgebiete, in denen stets die Einheit eines „relativen Formgliedes“ und „relativen Gegengliedes“ den eigentlichen Wertträger darstellt, in denen das „Gut“ als Einheit des Werthaften und Wertfremden erscheint und im Gedanken des „materialen Folgenwertes“ die Werthöhe von der Bewältigung des Wertfremden abhängt. Die Dialektik des Subjekts ist fernerhin die des Selbstbewusstseins. An dieser Stelle weist der Satz, dass die Bewusstseinsbegriffe der philosophischen Wissenschaften ihre Erfüllung vom individuellen Seelenleben her finden, bereits auf enge Beziehungen zur Denkpsychologie hin. Die Vergegenständlichung des Ich im Selbstbewusstsein, in dem es sich seine eigenen Akte als Gegenstände gegenüberstellt, scheint zunächst eine „Denaturierung“ dieser Akte zu bedeuten; sie muss aber der tieferen Analyse gerade als das eigentlich dialektische Wesen des Ich erscheinen, so dass sich im Selbstbewusstsein erst das „Bewusstsein von“ realisiert und diese Dialektik des Selbstbewusstseins die anderen Ursprünge der Dialektik in sich einschließt. Die ständige Gleichsetzung des Ich mit anderen Gegenständen und zugleich seine totale Unvergleichbarkeit mit ihnen gehört gleichfalls schon zu den Einsichten, die in der Denkpsychologie eine zentrale Rolle spielen,

Im Wesen der kritizistischen Dialektik ist es begründet, dass ihre Stärke im Aufweisen der dialektischen Ursprünge liegt, dass „Fortgang“ und „Abschluss“ der Dialektik, d. h. die Problemlösungen, jenen Partien gegenüber zurücktreten. Ist doch eben der unendliche Prozess, die Unabgeschlossenheit ihrer Lösungen, das unterscheidende Merkmal gegen die spekulative Dialektik. So sollen gegenüber der bisherigen ausführlichen Darstellung aus den übrigen Abschnitten des Cohnschen Werkes nur einige Punkte herausgegriffen werden, die von besonderer Wichtigkeit gegenüber den anderen zu schildernden Typen von Dialektik sind. In der Beziehung auf diese werden auch seine Gedankengänge für uns eine weitere Klärung und Vertiefung erfahren. Bei dem Problem des Fortganges der Dialektik wird noch einmal zum Problem der Negation Stellung genommen. Ihr wird eine Funktion in der „gegensätzlichen“ Sphäre des Erkennens zugewiesen, während sie sowohl in der untergegensätzlichen (bloße Ponierung der Erkenntnisinhalte) und der übergegensätzlichen (vollendetes Erkenntnissystem) keinen Ort besitzen soll. Innerhalb der „gegensätzlichen Sphäre“ besitzt sie keine schöpferische, aber einschränkende und fortweisende Kraft. Bestimmtheit ist nicht Negation (gegen Hegel), aber sie kann auf dem Wege über die Negation gewonnen werden. Im Verhältnis von Begriff und Urteil wiederholt sich im Fortgange der Dialektik auf höherer Stufe der Erkenntnis die ursprüngliche Beziehung von Gegenstand und Relation. Bei der näheren Entwickelung des „unipolaren“ Typus wird die Behauptung formuliert, die auch für den hier zur Darstellung gelangenden Typus marxistischer Dialektik nicht ganz bedeutungslos ist, dass sich bipolare Dialektik im Denken in der Wirklichkeit als Kampf darstelle, der so eine eigentümliche Realdialektik enthält. Demgegenüber entspricht der unipolaren Dialektik, bei deren Struktur noch die wichtige Einsicht gewonnen wird, dass sich hier das Ganze stets als relatives Formglied, als „Zentrum“ zu setzen vermag, in der Realität die Entwicklung. Leben als eigenartige Einheit beider dialektischer Typen kann dann als Verbindung von Kampf und Entwickelung betrachtet werden.

Die Gedankengänge in Bezug auf den Abschluss der Dialektik werden charakteristischerweise in der Herausarbeitung der dialektischen Geisteshaltung fruchtbar. Sie wird durch den Begriff der „hingegebenen Freiheit“ gekennzeichnet, einem echten Begriff der „Dialektologie“, der im Bestimmen seines Gegenstandes selbst dialektisch wird. Er bringt die Haltung in einer kritischen Dialektik zum Ausdruck, die nicht wie die spekulative in der Hingabe an das Absolute ruht, sondern die Freiheit des Subjektes wahrt, das jede scheinbare Absolutheit stets von neuem relativiert und von ihr aus zum Absoluten als seiner unendlichen Aufgabe fortschreitet. Das spekulative Grundproblem eines Selbstbewusstseins des Absoluten selbst ist damit nicht gelöst: es hat aber auch nicht zur Diskussion gestanden. Auch kein vollendetes System der Philosophie ist damit geschaffen, da kritische Dialektik zwar keineswegs systemlos ist, aber doch die „systematische Auflösung des Systems“ bedeutet. Der Haltung der hingegebenen Freiheit entspricht genau die Stellung des Absoluten innerhalb dieser philosophischen Systematik. In ihr zielt alles Denken auf das Absolute, aber es ist kein Denken vom Absoluten her möglich. „Nur in der doppelten Richtung auf Hingabe und auf Freiheit hat der hingegebene Freie sein Leben, so dass zwar jetzt die eine, jetzt die andere Richtung vorwaltet, niemals aber eine allein da ist. Immer von neuem, in immer neuer Synthese stellt sich die Einheit her, nur so in der Unruhe und Mühe des Relativen fühlt er das Absolute in sich wirksam.“ (S. 352.)

Man wird von Cohns Theorie der Dialektik sagen können, dass in ihr die umfassende und allein mögliche Form der Dialektik im Rahmen streng kritischen Philosophieren vorliegt. Diese grundsätzliche Zustimmung kann jedoch nicht die Einsicht ausschließen, dass wir es bei seiner Theorie der Dialektik immer noch mit Prolegomenen zu einem System der Philosophie auf dieser Basis zu tun haben. Seine Durchführung müsste, über den wesentlich erkenntnistheoretisch-methodologischen Aufbau hinausgehend, jeden dialektischen Begriff an seiner Stelle in einem konstruktiven philosophischen System zur Durchführung bringen.

 

II.

Von der Biologie und Psychologie der Gegenwart sagte die Theorie der Dialektik ihre Teilhabe an der ganzen philosophischen Problematik aus. In derjenigen Richtung, die alle Psychologie als Denkpsychologie auffasst und sie als solche zur Wissenschaft ihrer eigenen Prinzipien, damit aber zur philosophischen Wissenschaft macht, muss sich diese These auf das deutlichste bewähren. In ihr müssen sich zugleich die stärksten dialektischen Ansätze finden, insofern sie an der Dialektik von Psychologie und Philosophie in gleicher Weise Anteil nehmen muss. Die hier in großer Ferne vom sog. Psychologismus, ja gerade in radikaler Überwindung dieser Richtung zum Ausdruck gelangende Synthese von Psychologie und Philosophie muss als Vereinigung einer sich auf zeitlos gültige Normen und einer sich auf ihre zeitliche Realisierung richtenden Betrachtungsweise von vornherein eine dialektische Grundeinstellung vermuten lassen. In der Tat findet diese Vermutung in dem, den Niederschlag jener Tendenzen darstellenden Werke von R. Hönigswald, „Grundlagen der Denkpsychologie“, Studien und Analysen (2. umgearbeitete Auflage 1924) ihre volle Bestätigung.

Auch hier handelt es sich, trotzdem die literarische Beziehung auf jene Richtungen nicht in den Mittelpunkt gestellt ist und auch andere Anknüpfungspunkte wie die Meinong-Brentanosche Gegenstandstheorie, die Phänomenologie und schließlich auch Ansätze der experimentellen Psychologie mit im Spiele sind, um eine „Aufhebung“ des biologisch-philosophischen Intuitivismus in kritisch-analysierende Philosophie. Wie bei der Lebensphilosophie auf psychologischem Gebiete, also besonders bei Bergson, ist auch hier der Gegner die mechanistische Assoziationspsychologie, die das seelische Leben aus den einfachen Elementen der Vorstellungen naturgesetzlich aufbauen will. Dieser „Psychologie ohne Seele“ wird die Einsicht in die elementare Gegebenheit des komplexen und keineswegs einfachen Phänomens des Denkens gegenübergestellt, darüber hinaus aber die Gegebenheit von elementaren Ganzheiten, wie sie die unbefangene Betrachtung überall im Seelischen aufweist. Im romantisch metaphysischen Gewande der Lebensphilosophie war von Bergson die wechselseitige Durchdringung der unmittelbaren Bewusstseinsgegebenheiten ihrer verräumlichenden Nebeneinanderstellung in der Vorstellungspsychologie entgegengesetzt worden, war die reale Dauer der Erlebniszeit im Gleichnis des Stromes gegen die „Raumzeit“ der mathematischen Naturwissenschaft zu erfassen gesucht. Die Denkpsychologie knüpft an diese intuitionistischen Bilder an, aber sie will sie der Analyse zugänglich machen, will ihren Gegenstand mit analytischen oder der Analyse zugänglichen Begriffen meistern. Sie nimmt bei ihrem Kampfe gegen die künstlichen Isolationen der Vorstellungspsychologie und deren Verknüpfung atomar getrennter Elemente ihren Ausgangspunkt nicht vom Erlebnis als solchem, sondern vom Erlebnis des Denkens und seinem unmittelbar logischen Gehalte. Sie geht von der schlichten Tatsache des Bewusstseins aus und der Konstatierung, dass im Bewusstsein stets ein Wissen gelegen ist. Das „Ich habe etwa“ des Bewusstseins bildet den Anknüpfungspunkt aller ihrer Analysen. Dieses „Haben“ im Bewusstsein ist aber zugleich immer ein „Denken“ und „Meinen“, womit nicht ein intellektualistischer Primat des schon reflektierenden Wissens über die emotional-voluntaristische Bewusstseinsschicht zum Ausdruck kommen soll, sondern die einfachste Bewusstseinsstruktur, die jeden Akt, auch den des „Fühlens“ und „Wollens“ beherrscht. Nur in diesem Sinne, aber in ihm durchaus, kann aus dieser Bewusstseinsstruktur die These gefolgert werden, dass Psychologie und Denkpsychologie also grundsätzlich zusammenfallen. Damit aber ist eine wichtige Folgerung für die Erkenntnis des Psychischen zu ziehen. Wenn die Schranken zwischen Denkpsychologie und Psychologie überhaupt gefallen sind, kennzeichnen Sinn und Ausdrucksbezogenheit alles Psychische. Alles Psychische als Gewusstes heißt: es als ein Sinnhaftes betrachten, heißt: das Ich mit der Reihe „Ich weiß, Ich weiß, dass ich weiß, Ich weiß zu wissen, dass ich weiß usw.“ zusammenfallend ansehen. Denn mit dem Phänomen des „Bewusstsein von“ ist durch die prinzipielle Einsicht in den Bewusstseinscharakter des Psychischen auch das Selbstbewusstsein mitgegeben. Indem alles Psychische als ein Gewusstes ichbezogen ist, indem in jedes Psychische die Ganzheit des Ich mit eingeht, muss auch das Ich gewusst werden können. Indem dieses Ich aber zugleich stets „Bewusstsein von“ bedeutet, wird im Wissen um das Ich auch das Bewusstsein eben im Selbstbewusstsein wissend erfasst.

Kontinuität und Präsenz sind damit als wesentliche Merkmale des Ich herausgearbeitet. Die Reine des Bewusstseins, deren Inbegriff das Seilostbewusstsein bedeutet, kennt prinzipiell keine Unterbrechung. Wo eine solche konstatiert wird, wird sie von außen konstatiert, d. h. dort ist der spezifisch psychologische Standpunkt, der sich immer auf ein „Sinnhaftes“ „Gemeintes“ und „Meines“ richtet, zugunsten etwa des psychiatrisch-diagnostischen Standpunktes verlassen. In ihm betrachtet sich das Ich nicht selbst, sondern ein „Anderer“ betrachtet es als einen „Anderen“ resp. es kann sich selbst betrachten, „als ob“ es ein anderer wäre. Neben die Kontinuität des Ich aber tritt zugleich der Begriff der Präsenz als der eigentliche psychologische Grundbegriff. Dem Bewusstsein ist mögliche Vergegenwärtigung all seiner Erlebnisse, auch der zeitlich distrahierten, in dem einheitlichen Akte des Meinens der sie als gleichzeitig umspannt, d.h. aber sie sich vergegenwärtigt. Vergangenheit und Zukunft rücken so in der Präsenszeit des Bewusstseins zusammen, für die Erlebniszeit und die wechselseitige Durchdringung der Erlebnisse im Intuitionismus ist eine exakte Begründung gewonnen: die Zeitlosigkeit des Sinnhaften und im Meinen Erfassten geht in der Präsenszeit in die zeitliche Reihe der Bewusstseinsinhalte ein und drückt ihr ihr Siegel auf, sie verbindet sich mit ihr zur neuen Einheit der „gestalteten Zeit“; der Zeit, die in den Akten des Ich Leben erhält, am Ich und seiner Geschichte mitformt, nicht wie die Zeit der Natur über ihnen, sie unverändert lassend, vergeht. Das Gedächtnis erhält als Wesensmerkmal des Ich eine transzendentale Funktion. Dem meinenden und denkenden Ich muss auch, der Unbegrenztheit und Zeitlosigkeit des Denkens entsprechend, eine Fähigkeit, „alles“ (nämlich Sinnhafte und Gewusste) der Möglichkeit nach zu meinen, sich anzueignen, zugesprochen werden; es erhält ja eine umfassende Kapazität, von der aus der Schritt zu einem absoluten geistigen Ich, in dem jene Potentialität des Alldenkens in Aktualität umgesetzt wäre, verlockend nahe liegt.

Indessen geben jene schlichten Einsichten einen anderen Weg der Verknüpfung der gewonnenen Einsichten mit gegenstands- und erkenntnistheoretischen Grundfragen. In der Grundformel des Bewusstseins ist offenbar nicht nur das „Haben“ eines Inhalts, die Beziehung auf ein Gewusstes als Nurgewusstes, sondern das Etwas mitgesetzt. Dieses Etwas aber steht nicht nur unter der Gesetzlichkeit des sich auf es richtenden, sich es aneignenden Bewusstseins, sondern auch unter anderen, seinen eigenen Gesetzlichkeiten. Diese eignen Gesetzlichkeiten aber sind keine anderen wie die der gegenständlichen Welt, die vom Bewusstsein, das sich ihrer bemächtigt, getrennt werden können, die ihrem Sinne nach einen vom Bewusstsein unabhängigen Bestand darstellen. Zu der Struktur des „Ich“ und des „Weiß“ tritt also als dritter Faktor nun mehr das „Ist“, das die Gegenständlichkeit des Etwas im Sinne eines Systems der objektiven Erfahrung oder eines Systems anderer theoretischer resp. sonstiger Geltungsmodi normiert. Im Satze des Bewusstseins ist somit eine unlösliche grundlegende Korrelation von „Ich“ und „Ist“ ausgesagt; durch das Etwas hindurch bezieht sich das Bewusstsein und zwar in jedem psychischen Akte auf den Inbegriff des Gegenständlichen. Nicht nur liegt in der Bewusstseinsbeziehung die Sinnhaftigkeit jedes Psychischen, es kann nur als sinnhaft aufgefasst werden, sofern im Wissen zugleich seine Wahrheits-, Norm-, Gegenstandsbeziehung gesetzt ist. Die Sinnhaftigkeit des Psychischen ist in platonischer Wendung also Teilhabe an der gegenständlichen Welt, eine Teilhabe, die ihm durch seine Zugehörigkeit zum „Ich“ und dessen korrelative Verknüpfung mit dem „Ist“ gesichert erscheint. Für den Inbegriff dieser korrelativen Beziehung zwischen Ich und Ist wird der Terminus Bedeutung eingeführt, die nunmehr als eine konstitutive Bedingung des Psychischen, nämlich als die Form, die es zum Sinn macht, angesehen werden kann. Sie ist zugleich Kategorie, die den Gegensatz von „Inhalt“ (als Vorstellungsgegenstand) und „Gegenstand“ (als realen) überwindet und damit gewisse

Tendenzen von Phänomenologie und Gegenstandstheorie, die den Gegenstand durch einseitige Beziehungen auf den ihm zugehörigen Akt von einem wie immer gearteten System der Gegenstände glauben isolieren zu können, in die kritizistische Lehre vom Gegenstande zurücknimmt.

Aus den letzten Darlegungen geht die Synthese von Logik und Psychologie in der denkpsychologischen Betrachtung, die Wiedereinverleibung der Psychologie in die Philosophie deutlich hervor. „Aus der Struktur des Psychischen selbst, so heißt es, schöpft das Erlebnis die Kraft, den gegenständlichen Bedingungen jedes Wahrheitsanspruchs, ja in den Ideen der Gesinnung und Weltanschauung der Einheit aller Wahrheitsansprüche, zu genügen“ (S. 273). Damit kann der Psychologismus von einer höheren Warte als bisher aufgehoben werden, in dem jede philosophische Betrachtung – Psychologismus ist, nämlich den Ansprüchen einer philosophischen Psychologie zugleich genügen muss und natürlich keine, wenn man den historisch vorliegenden Psychologismus als Ausdruck einer sich selbst nicht verstehenden und deshalb in unüberbrückbaren Gegensatz zur Philosophie stehenden Assoziationspsychologie vor Augen hat.

Ihrer ganzen Anlage nach und in den Konsequenzen ihrer Durchführung enthält die Denkpsychologie auf Schritt und Tritt eine Fülle dialektischer Motive, so bereits in dem Grundmotiv der Synthesis von Philosophie und Psychologie. Soll sich doch hier die zeitlos-relationelle und die psychologisch-individualisierende Betrachtung miteinander vereinen, ist doch hier die ganze Einstellung auf die Verwirklichung der Norm im Bewusstsein, in der Zeit gerichtet, in welcher Verknüpfung ein Grundmotiv dialektischer Bezüge entdeckt worden war. Insbesondere in der Durchführung des Aufbaus der Denkpsychologie macht sich die Eigenart dieser Synthesis in ganzer Breite geltend. Zunächst seien jedoch einige Bezüge der Grundbegriffe zur Dialektik Jonas Cohns hervorgehoben. In der Kontinuität des Ich und in der Präsenz sind die dialektischen Momente der Biologie in ihrer Steigerung ins Psychologische, sind die dialektische Keime, die der Intuitionismus verhüllt, voll entfaltet. Hier liegt ein Spezialfall jener Dialektik der Stetigkeit, hier liegt die der Zeit, hier die Dialektik des Lebens vor, auf die die Theorie der Dialektik exemplifiziert hatte. Denn hier ist gewiss vom Strome des Bewusstseins die Rede, aber dem Strome, bei dem sich die Kontinuität und die Unterbrechung gegenseitig bedingen, in den das Bewusstsein jederzeit Abschnitte, Halte punkte – gewiss nur im Sinne relativer Diskontinuität, nie absoluter – einschalten kann. Der Begriff eines Stromes, der gerade durch seine Unterbrechungsmöglichkeit – Strom ist, muss die Grenze des intuitionistischen Bildes, die Notwendigkeit, aus der Intuition in die durch den Widerspruch hindurchschreitende Dialektik herauszutreten, besonders deutlich machen. Hier ist also jene stete Möglichkeit der „Tötung“ des Lebens um des Lebens willen, der Rhythmus von Kristallisation und Wiederauflösung in besonderer Reinheit ausgeprägt. Hier liegt in der Präsenzzeit jene Verabsolutierung des Gegenwartsmodus der Zeit vor, der zwar auf die Erlebniszeit beschränkt ist, doch durch die bloße Möglichkeit der Setzung der Präsenzzeit auch den Begriff der objektiven Zeit in die Dialektik miteinbeziehen muss. In den Konzeptionen der Denkpsychologie tritt schließlich auch die Antinomie von Beharrung eines Trägers und seiner stetigen Entwickelung mit besonderer Deutlichkeit am Ich hervor, das zeitloser, sozusagen substantialer „Erlebnismittelpunkt“ und zugleich „unmittelbarer Träger seiner Geschichte“ ist, das als Mittelpunkt doch in die Ganzheit seiner inhaltlichen Veränderungen mit eingeht. Schließlich wird hier die Entfaltung der Dialektik des Subjekts, des Selbstbewusstseins in vollem Maße geleistet. Denn die Antinomie von Diskontinuität und Kontinuität ist psychologisch betrachtet die Dialektik des Selbstbewusstseins, die Möglichkeit der steten Vergegenständlichung des Ich, die also von vornherein im Satz des Selbstbewusstseins in der Kontinuität der Wissensreihe angelegt ist. Sie tritt mit besonderer Deutlichkeit in dem Gedanken der „pseudonumerischen Bestimmtheit“ der Erlebnisinhalte hervor, in der auch sprachlich dialektisch zugespitzten These, dass das Psychische unter denselben Bedingungen als zählbar angesehen werden muss, die seine Zählbarkeit ausschließen. Die Zählbarkeit besitzt es auf Grund seiner aus dem Ich abzuleitenden Vergegenständlichungsmöglichkeit, die Nichtzählbarkeit aber ebenfalls auf Grund der Zugehörigkeit zum Ich, dessen Einheit und Einzigkeit niemals als Negation einer Zweiheit, sondern seine den übrigen Gegenständen gegenüber andersartige „Dimensionsbestimmtheit“ bedeutet. Damit hängt ja auf das engste die auch bei Cohn gelegentlich angedeutete monadologische Struktur des Ich zusammen, mit der es in einzigartigen „Für sich“, in Isolation den anderen „Ichen“ gegenüber und doch mit ihnen unter der gemeinsamen Bedingung der Verständigung steht.

Schließlich sei der Blick noch auf die Konsequenzen gelenkt, die aus der eingangs bezeichneten Grunddialektik von Zeitlosen und Zeitlichen für die Stellung der Psychologie im System der Wissenschaften sich ergeben. Hierfür tritt der Begriff der zeitbestimmten Präsenz in den Mittelpunkt. Denn es bleibt hier eben nicht bei der antithetischen Haltung des Romantismus der Natur gegenüber, der die „substantielle Komponente des Geschehens zugunsten der präsenziellen allein ausschaltet (S. 389). Vielmehr wird auf Synthesis der psychologischen und der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise hingestrebt. Das Psychische ist zwar an sich nicht Natur, sondern Präsenz: aber es muss ihm sein natürliches Substrat zugeordnet werden können. Die Präsenzzeit ist gestaltete Zeit, der aber stets ihre Stelle in der objektiven nicht gestalteten Zeit, im objektiven raum- und zeitbestimmten System der Erfahrung zugewiesen werden kann. Gerade dies erfordert die Bedeutung oder die grundlegende Korrelation von „Ich“ und „Ist“ (da im „Ist“ nämlich als Form der Gegenständlichkeit auch die Kategorie der objektiven Zeit implizit gesetzt ist). Das naturhafte Korrelat des Psychologischen aber kann nur im Physiologischen, genauer in meinem Körper, meinem Gehirn als Zentralorgan gefunden werden, eine These, die aus der Eigenart der Begriffe „Organismus“ und „Zentralorgan“ hergeleitet wird und sich durch die Eigenart der „präsenziellen Possessivbeziehung“ scharf von jedem psychologischen Parallelismus abhebt. In dieser Einordnung des Psychischen in die Natur triumphiert im Grunde auch der dialektische Grundgedanke von der „Unmittelbarkeit der Vermittelung“, die Einsicht in die Zusammengehörigkeit des Intensiven und Extensiven, des Sinnes und des Ausdruckes, die Einsicht, dass das Erlebnis schon als solches die Ausdrucks- und Vermittelungsmöglichkeit in sich trägt. Dies ist aber ebenfalls eine Umschreibung des hier gewonnenen grundlegenden Tatbestandes: der dialektischen Synthese von Psychologie und Logik, von zeitloser Norm und Zeitlichkeit.

 

III.

Die bisher geschilderten Denker verkörperten den Typus einer kritischen Dialektik. Aber auch die spekulative hat ihre Erneuerung gefunden. In vorderster Reihe steht hier R[ichard] Kroners zweibändiges Werk „Von Kant bis Hegel“, Tübingen 1921/24, das problemgeschichtlich den Nachweis der Unvermeidlichkeit des methodischen Fortschritts von Kant zu Hegel erbringen will. Sich mit diesen Gedankengängen in ihrer philosophiegeschichtlichen Form auseinandersetzen, hieße das Problem des Idealismus in seiner ganzen Breite aufrollen und kann in diesem Rahmen natürlich nicht geschehen. Aber auch in knapper systematischer Formulierung hat uns Kroner den Typus einer erneuerten spekulativen Dialektik verdeutlicht. Seine Abhandlung „Anschauen und Denken“ (Logos Bd. XIII, Heft I, S, 90. ff.) vermittelt sie im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Rickerts heterothetischem Prinzip.

Hier steht der Kernpunkt, in dem sich spekulative und kritische Dialektik unterscheiden müssen, im Mittelpunkt der Diskussion: das Problem des Widerspruchs. Es wurde zwar oben darauf hingewiesen, dass auch die spekulative Logik auf Widerspruchslosigkeit hinauswolle. Diese an sich richtige Behauptung muss nach der Richtung bin modifiziert werden, dass es eine andere von der in „schlicht logischen Denken” konstitutiven Form unterschiedene Widerspruchslosigkeit ist, auf die die spekulative Dialektik hinzielt. In jener gewöhnlichen Form der Identität selbst wird von der spekulativen Dialektik der Widerspruch erkannt. Dieser Widerspruch muss gedacht werden, um durch ihn hindurch erst die höhere Form spekulativer Widerspruchslosigkeit zu erreichen. Die Form der Identität in ihrer schlicht logischen Fassung ist für die spekulative Dialektik selbst widerspruchsvoll. Oder: für die kritische Dialektik ist ein und dieselbe Form der Identität der gemeinsame Maßstab empirischen, schlicht logischen und dialektischen Denkens. Die spekulative Dialektik dagegen lehnt die Identitätsform des schlicht logischen und empirischen Denkens als widerspruchsvoll ab, um sie durch eine höhere Form spekulativer Identität zu ersetzen. Die kritische Dialektik tastet jene Identität nicht an, weil es sich für sie nicht um eine Synthesis der Urteilsqualitäten, sondern der Urteilsmaterie handelte. Die spekulative Dialektik muss dagegen auf dialektische Synthesis der Urteilsqualitäten selbst abgestellt sein, damit muss ihr – auf logischem Boden zum mindesten – die Negation wieder eine schöpferische Kraft gewinnen. Hierbei besteht allerdings ein wesentlicher Gegensatz Kroners zu der Hegelschen Form der spekulativen Dialektik darin, dass diese die empirische Identität schlechthin – auch auf empirischem Buden! – für widerspruchsvoll, daher für falsch erklärte, während Kroner dieser Identität auf dem Boden des Empirischen ihre Geltung zubilligt und lediglich den spekulativen Widerspruch um der Widerspruchslosigkeit willen, das heißt eben die Erlangung spekulativer Identität durch den Widerspruch im schlicht logischen Sinne hindurch zu denken verlangt. Diese spekulative Form der Identität sei – im Sinne des Anspruchs des absoluten Idealismus auf Vollendung des kritischen – zugleich die zu Ende gedachte transzendentallogische Form. Die Identität ist für sich selbst zugleich jene Gegensätzlichkeit und umgekehrt – mit dieser These ist der Widerspruch in das „Ist“ des Urteils, in die logische Gegenstandsform selbst hineinverlegt, während die kritische Dialektik eine Angelegenheit der Urteilsmaterien betraf.

Nicht zufälligerweise ist in dieser „orthodoxen“ Fassung der Dialektik Rickerts heterothetisches Prinzip der polemische Ausgangspunkt. Denn gerade dort wird dem dialektischen Prinzip der Antithesis, der Negation im Ursprung der Logik das Prinzip der Heterothesis, der Verknüpfung des Einen und Anderen, des Formalen und des Inhaltlichen, der ursprünglichen Zweiheit gegenübergestellt. Ursprüngliche synthetische Zweiheit ist für Rickert in der Struktur des einfachsten denkbaren Etwas, des rein „logischen Gegenstandes überhaupt“ gelegen, durch die mit einem Schlage die Gegenstandsstruktur ergriffen wird; nicht braucht eine ursprüngliche einfache und tautologische Form sich durch radikale Antithesis oder Negation etwa aus sich selbst den Inhalt, auf den sie sich bezieht (nach dem Schema Sein – Nichtsein – Werden) zu erzeugen. Mit mehreren Argumenten kämpft nun Kroner gegen diese Gedanken an, um ihnen seine weitgehende Wiederherstellung der spekulativen Dialektik gegenüberzustellen. Ihn interessiert die gesamte Analyse Rickerts von vornherein unter dem Gesichtspunkt der Struktur des Logischen selbst, unter dem einer Logik der Philosophie oder Logologie, die auf die Eigenart des Denkens der Logik, auf die Gegenständlichkeit in der Logik reflektiert und das Verhältnis von Anschauung und Denken in ihr untersucht. Unter diesem Gesichtspunkte aber erscheint ihm Rickerts logischer Gegenstand, das Modell jeder Gegenständlichkeit, in der Charakterisierung der Struktur des Logischen nach dem Schema des empirischen Gegenstandes aufgebaut, der seinerseits den Untersuchungsgegenstand der transzendentalen Logik bildet (transzendentaler Empirismus). Dies Modell soll die transzendentale Logik davor bewahren, „gegenstandslos“ zu sein, die Behauptung nichtsinnlicher Anschauung in seinem Inhalt, die der sinnlichen Anschauung des empirischen Gegenstandes korrespondiert, soll den logischen Gegenstand vor Leere und Inhaltslosigkeit schützen. Die transzendentale Logik soll durch diese Konzeption vor der Schwierigkeit der kantischen Grundsätze bewahrt bleiben, rein und doch satzhaft zu sein, eine Schwierigkeit, die in der Marburger Schule zu der „Erzeugung“ der Inhalte durch das reine Denken geführt habe. Wenn die transzendentale Logik den empirischen Gegenstand analysiert und ihn als Synthesis von Denken und Anschauen versteht, so muss ihre Art des Erkennens, wenn auf diese selbst reflektiert wird, sich als synthetisch herausstellen, da es ja sonst ein gegenstandsloses wäre. Da sie als Logik, die die Erfahrung analysiert, sich wohl auf diese Erfahrung „stützt“, aber sich nicht des anschaulichen Inhaltes dieser Erfahrung bedient, kann neben der Form des Einen für sie nur der nichtsinnliche Inhalt des Anderen in Frage kommen. Gegen die in diese Form gebrachte Rickertsche These wird von Kroner zunächst der Einwand erhoben, dass jenes Modell des rein logischen Gegenstandes auch zugleich „Moment“ am empirischen Gegenstand sei. Denn die transzendentale Logik denke doch die Formen des empirischen Gegenstandes als ihre Gegenstände. In diesem Versuche der Logik, ein Moment am Gegenstande als Gegenstand zu denken, ein Moment als Modell zu denken, zugleich aber diesen selbständigen logischen Gegenstand zu etwas Unselbständigem am empirischen Gegenstand zu machen, scheint Kroner eine Antinomie gesetzt, deren sich der transzendentale Empirismus nicht bewusst werde. Eng damit zusammen hängt der Einwand des unvermeidlichen, aber im heterologischen Prinzip verhüllten Widerspruchs im Denken der Momente im logischen Gegenstande selbst. Denn es werde deren unabtrennbare korrelative Zusammengehörigkeit behauptet – das Eine stets das Eine des Anderen und umgekehrt! –, andererseits aber würden sie in der Analyse, also in der logischen Erkenntnis doch zerlegt und müssten es auch werden, wenn sie erkannt werden sollen. Indem sie als unselbständige „Vorgegenstände“ (Momente) fungierten, träten sie zugleich doch vor das reflektierende Erkennen als Gegenstände: dieser notwendige Widerspruch führe eben darauf hin, dass das Eine und Andere im Grunde Ein und Dasselbe, einmal in synthetischer Verbundenheit, einmal in der Getrenntheit seiner Elemente bedeute. Und tatsächlich müsse – dies ist der dritte der gegen Rickert vorgebrachten Einwände – die Negation der Andersheit logisch vorangehend gedacht werden, im Gegensatz zu Rickerts These, der in der Andersheit das logisch Ursprüngliche erblicke. Denn wohl spiele im Empirischen das (inhaltlich) „Andere“ gegenüber einer inhaltlichen Setzung eine zentrale Rolle, im Logischen aber käme die Form der Andersheit in Betracht, hier sei das Andere nicht ein beliebig Anderes, sondern eben zur Form des logischen Gegenstandes als deren Anderes (als das nur ihr zugeordnete Andere) zu denken. Da aber diese Form das Eine und Gleiche darstelle, so bedeute eben die Andersheit die Negation dieses Einen und Selben. So wird der Widerspruch gerade in die Identität selbst hereingetragen. Die Heterologie des transzendentalen Empirismus täusche darüber hinweg, indem sie den logischen Gegenstand in Analogie zum empirischen Gegenstande aufbaue, in der Empirie herrsche wohl das heterologische Prinzip oder der vermeidbare Widerspruch, in der Logik aber, wie sie die reflektierende „Logologie“ enthüllt, habe man sich an das ταὐτόν  der reinen Form zu halten, dieses führe über das Antilogische, nicht das Heterologische zum „Heautologischen“. In der dialektischen Struktur des nunmehr spekulativ gefassten Selbstbewusstseins wird die Lösung der aufgedeckten Schwierigkeiten angedeutet. Allein das Selbstbewusstsein sei dies Eine und Dasselbe und zugleich das Andere, der sich selbst als Andersheit reflektierende Inhalt, der sich selbst hervorbringende Logos. Nur von diesem Standpunkte aus werde es begreiflich, warum im Empirischen ein Widerspruch vermieden werden solle und vermieden werden könne, im Logischen aber der Logos im Widerspruche sich selbst denke.

Von einem Punkte aus wird man der gesamten Argumentation entgegentreten können, die in logischen Identitätsprinzip selbst den dialektischen Widerspruch herausarbeiten will: von einer radikalen Fassung des Standpunktes der Reflexion aus und damit auch des „transzendentalen Empirismus“. Der Nerv der gesamten Argumentation Kroners wird von der Einstellung beherrscht, dass es sich in der transzendentalen Logik um eine selbständige gegenständliche Erkenntnis handele, die sich als solche mindestens ebenbürtig neben, ja über das empirische Erkennen stelle. Die transzendentale Logik – das ist implizite Voraussetzung des Beweisganges – dürfe nicht gegenstandslos, sie müsse selbst synthetisch sein und so einen Gegenstand eigner Art konstituieren. Lässt sich nun nicht demgegenüber geltend machen, dass die transzendentale Logik nur Reflexion, nur Analyse, nichts anderes bedeute, und dass es sich in dieser Analyse um eine Erkenntnis von Dimensionsbestimmtheit völlig eigener Art handele, die unberechtigter weise der empirischen Gegenstandserkenntnis parallel gesetzt wird? Dann gibt es eben keinen selbständigen eigentlichen logischen Gegenstand, dann ist eben Logik immer nur auf den empirischen Gegenstand bezogen, es wird in ihr nicht gegenständlich erkannt, sondern reflektiert und die Logologie steht zu ihr nicht im selben Verhältnis wie sie selber zum empirischen Gegenstande, sondern ist selbst nur Reflexion auf die Reflexion. Dann aber entfällt der Widerspruch, den logischen Vollgegenstand zugleich als Moment am empirischen Gegenstande zu denken, die Logik hat es eben dann nur mit „funktionalen“ Analysis-Momenten, nicht mit substantialen Gegenständen zu tun. Insbesondere muss es bei Kroner als eine Art Rückfall in den Rationalismus angesehen werden, wenn die Form des empirischen Gegenstandes als der eigentliche Erkenntnisgegenstand der transzendentalen Logik bezeichnet wird. Die Momente, die die Analyse am empirischen Gegenstande herausarbeitet, besitzen durchaus keine Auszeichnung voreinander! So ist der logische Gegenstand nicht zugleich (weil die Form wesentlich von und in der Logik erkannt würde) Modell und Moment, sondern er ist als Modell nur eine prägnante „idealtypische“ Darstellung der Struktur des empirischen Gegenstandes. Die Widersprüche werden in Kroners Polemik zum Teil in den transzendentalen Empirismus hineingetragen, indem er mit der Erfüllung spezifisch rationalistischer Ansprüche belastet wird. Es lassen sich aber auch die Widersprüche im Denken der Momente ausschalten, da diese Vorgegenstände eben nie als selbständige Gegenstände gedacht werden, wenn auch die sprachliche Verdeutlichung sie isoliert bezeichnen muss, aber doch selbst diese nur mit dem Vorbehalt der steten wechselseitigen Bezogenheit in dem isoliert Herausgehobenen. Schließlich stößt man dabei hier doch nur auf die Schwierigkeit, wie sie jeder sprachlichen Kennzeichnung von Relationen und Funktionen um des Substantialismus der Sprache willen eigen ist. Das dritte der Argumente Kroners aber kann dadurch abgewehrt werden, dass ein Streit um die logische Priorität von Andersheit oder Negation darum einer falsch gestellten Fragestellung entstammt, weil die Negation der Urteilsqualität (Gegensatz zur Bejahung), die Andersheit aber der Urteilsmaterie (Gegensatz des Inhaltes zur Form des Gegenstandes, zur Relation) angehört.

Es soll freilich nicht geleugnet werden, dass Rickerts Konzeption des logischen Gegenstandes den Kronerschen Argumenten Angriffsflächen bietet und den Übergang zur spekulativen Dialektik zu begünstigen scheint. Indessen braucht Rickerts Gedankengang nicht so aufgefasst zu werden, als wäre hier der logische Gegenstand als etwas Selbständiges und Neues neben die empirischen Gegenstände gestellt. Diese Auffassung wäre doch selbst bei einer klassifikatorisch-abstraktiven Auffassung dieses logischen Gegenstandes Rickerts nicht berechtigt, viel weniger bei der durch die Bezeichnung „Modell“ schon naheliegenden Idealtypischen. Vielmehr gibt es auch für Rickert nur die echten empirischen Erkenntnisgegenstände („empirisch“ steht hierbei ein für jeden systematischen methodischen Zusammenhang); deren Struktur arbeitet die logische Analyse heraus, ohne dabei sich selbst durch die idealtypische Verdeutlichung gegenständlich zu verselbständigen. Die nichtsinnliche Anschauung ist dann keine neue und eigene Anschauung gegenüber der empirischen, sondern ein Inbegriff zur Verdeutlichung jener methodischen Bezüge innerhalb des empirischen Gegenstandes selbst. Kroners Argumentationen können also nicht zu einer dialektischen Sprengung des Identitätsprinzips der Logik führen, das somit die Voraussetzung der kritischen Dialektik bleibt.

 

IV.

In den Umkreis unserer Betrachtungen soll zum Schlusse ein Denker mit hineinbezogen werden, der seinen Ausgang nicht von der formalen Seite des dialektischen Problems, sondern von einer ganz bestimmten inhaltlichen Seite, nämlich von einer Philosophie des Marxismus nimmt, Georg Lukács. (Geschichte und Klassenbewusstsein. Berlin 1923. Daraus besonders: Die Verdinglichung des Bewusstseins und das Proletariat [!], S. 93-225.). Denn die marxistische Dialektik, die hier in der konsequentesten Form entwickelt wird, soll nicht wie bei manchen kritizistischen Marxisten (M. Adler, A. Kranold u. a.) auf eine methodologische Frage der Soziologie und Ökonomie antworten, sondern eine umfassende Kulturphilosophie geben, ja nach der Ansicht von Lukács, die einzig mögliche Lösung der kulturphilosophischen Grundfragen der Gegenwart bedeuten. Diese Grundfrage aber ist die „Krise“ der gegenwärtigen Kultur, wie sie in den mannigfachen romantischen Dekadenztheorien charakterisiert ist und in ökonomischer, darüber hinaus in soziologischer und allgemein kulturphilosophischer Problemstellung auch die Kernfrage des Marxismus darstellt. Die Krise erscheint Lukács durch die „Verdinglichung“ in der gesamten Struktur des kulturellen Lebens, bezeichnet die Herrschaft der Objekte über den Menschen, die aus seinen Dienern sich in den Herrn verwandeln, ihn durch ihren Mechanismus in seiner Totalität zerrissen und in spezialistische Funktionen zerspalten haben. Diese Verdinglichung trifft mit ihrer größten Schärfe das moderne Proletariat, das von den Produktionsmitteln getrennt und vom Mechanismus der Arbeitszeit beherrscht ist. In der Struktur des Warenaustausches als des Automatismus von Gütern, deren reiner Tauschwert unter Ablösung der in ihnen vergegenständlichten menschlichen Tätigkeit und menschlicher Leistungen ökonomisch relevant ist, sieht Lukács die Universalkategorie des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens enthüllt. In dem „Fetischismus der Ware“, der in den Mittelpunkt aller Betrachtungen tritt, erscheint nach der logischen wie der faktischen Seite die Entmenschlichung oder Verdinglichung urwüchsiger personaler Beziehungen zu triumphieren: logisch wird im „bürgerlichen“ Denken die Gesetzlichkeit menschlicher Beziehungen in ihrer Verhülltheit durch die Gesetzlichkeit der Warendinge nicht durchschaut, faktisch werden, indem die Güter zu Waren werden, die Produzierenden durch ihre Produkte beherrscht. Indem die Rolle des Arbeiters im Produktionsprozesse durch die quantitativ messbare Arbeitszeit ihre Bestimmung erhält, kann diese als eine „temps-espace” (im Sinne Bergsons), als unorganische und unpräsentielle Zeit charakterisiert werden. Der Arbeitsprozess selbst aber ist durch das Verwalten genauester Teiloperationen gekennzeichnet, die nicht als eine Ganzheit für den Produzenten überschaubar werden. Hierin spiegele sich nur eine umfassende Gesetzlichkeit des gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Aufbaus ab. In die lebendige Tätigkeit des Einzelnen kommt dadurch ein eigentliche unaktives kontemplatives Moment, er stände seinen Produkten als weder gedanklich noch praktisch restlos bewältigten Gegenständen gegenüber.

So ist der dialektische Grundwiderspruch hier der zwischen Verdinglichung und Menschentum, zwischen Mechanismus und unmittelbar-totalem Dasein. Der junghegelianische und jungmarxistische, die Traditionen der Romantik noch deutlich aufweisende Gedanke vom „begrabenen“ Menschentum wird hier zum Hebel der Soziologie und Kulturphilosophie. Die Beziehung zur Kulturphilosophie des klassischen deutschen Idealismus und seiner Totalitätskategorie tritt damit deutlich hervor. Aber auch ihr spekulatives Grundproblem der Beziehung zwischen Rationalen und Irrationalem soll implizit im Problem des Warenfetischismus mitgesetzt sein. Durch die zentrale Beziehung auf dieses Problem gliedert sich der von Lukács vertretene Typus der Dialektik ihrer spekulativen Form ein. Freilich sucht er an dieser die Veränderung im Sinne ihres historisch materialistischen „Umstülpung“ radikal durchzuführen.

Die Beziehung des Rationalen und Irrationalen ist für den Idealismus das Problem der restlosen Bewältigung der „Gegebenheit“ durch das Denken und den Geist, die völlige Überwindung des „Ding an sich“ durch das Subjekt, das dadurch zum „Subjekt-Objekt“ wird. Das Scheitern des Idealismus an dieser Frage erscheint Lukács nicht durch Schranken des menschlichen Geistes überhaupt, sondern durch spezifische Schranken des „bürgerlichen“ Denkens hervorgerufen zu sein, das in der klassischen Philosophie wohl zur Erkenntnis des Problems seiner Krise zu gelangen weiß, aber in der mangelnden Lösung seine klassenmäßige Gebundenheit nicht überschreite. Die Verdinglichung der Kultur ist ihm der einzige Grund für das Misslingen der Entdeckung des eigentlichen Subjekt-Objektes, der restlosen Durchschauung der Totalität des Lebens, für das Beibehalten des irrationalen Rests im Erkennen und mit ihm des Dinges an sich, für das Nichtzustandekommen eines philosophischen, aus einem einheitlichen Grundprinzip abzuleitenden Systems. Denn der Fetischcharakter der Güter exponiert nur in der wirtschaftlichen Dimension die Undurchdringlichkeit, mit der sich der Gegenstand überall in dieser Kultur dem erkennenden und handelnden Objekte lediglich gegenüberstellt. Eine geistreiche Analogie zwischen dem kantischen Typus des Philosophierens und der Eigenart der bürgerlich-kapitalistischen Kultur soll diese Gedankengänge stützen: dort wie hier herrsche die strengste Rationalität im einzelnen bei irrationaler „Anarchie” im ganzen vor. Die Unabteilbarkeit der Systemteile im kantischen Philosophieren, die tatsächlich in engster Beziehung zur Hinnahme des Faktors der Gegebenheit schon in jedem einzelnen Erkenntnisurteil steht, wird hier als eine ideologische Spiegelung der Korrelation des Kalkulatorisch-Rationalen und des Anarchisch-Zufälligen in der kapitalistischen Wirtschaft betrachtet. Diese Struktur des kantischen Idealismus aber sei von keiner seiner Weiterbildungen überwunden worden; von der Stellung zu Hegel vorläufig abgesehen, wird Kants und Fichtes Versuch, durch den Primat des Ethischen zum Absoluten zu gelangen wegen der Inhaltsleere dieser Ethik abgelehnt; sie blieben um dessentwillen im Kontemplativen stecken; im Rationalismus der Marburger Schule werden das Irrationale des „Lebens“ zum „mathematisch Irrationalen“ rationalisiert, an der Rickertschen und Husserlschen Richtung hebt Lukács ähnlich wie Kroner den Charakter einer „Empirie des Apriori“ hervor, in der modernen Spezialwissenschaft aber habe sich in ihrer rationalistisch formalistischen Aushöhlung und ihrer Entfernung vom eigenen jeweiligen Wirklichkeitssubstrat der kantische Typus sogar gesteigert. In all diesen Formen offenbare sich die Verdinglichung. In der realsoziologischen Sphäre sei sie in der Struktur von Recht und Staat, im mangelnden Krisenbewusstsein der Bourgeoisie, die zwischen Glauben an Sekurität und Überraschung durch Katastrophen schwanke, ebenfalls aufzuzeigen.

In der Richtung Hegels kann allein die Lösung für Lukács gefunden werden: d. h. durch Heraustreten aus den Reflexionskategorien der Verdinglichung, durch Denken der Totalität und des Subjekt-Objektes des historischen Prozesses, in dem sich die starren Dinghaftigkeiten auflösen. Dieser Prozess kann aber nur die zeitlich bestimmte Geschichte und zwar sie allein sein. Hegel habe in der Geschichte den allein möglichen Lebensboden der dialektischen Methode richtig erkannt, nur sei er über die Geschichte hinweg zu einer Ewigkeitsmetaphysik geschritten; damit sei auch er wieder in Platonismus und Kontemplation verfallen. Das Subjekt der Geschichte sei das wahre Subjekt-Objekt, weil wir „Verfasser und Schausteller dieses Dramas“ zugleich sind, weil wir die Geschichte selbst in Tätigkeit hervorbringen. So wird hier durch Verabsolutierung des Faktors Geschichte aus Hegels System, im Sinne seiner historischen Materialisierung, das Subjekt des zeitlichen Geschichtsverlaufs zu den Subjekt-Objekt gemacht, in dem das spekulative Problem, letztlich also die Beziehung eines absoluten zum endlosen Ich seine Lösung finden soll. Der Standpunkt des „dialektischen Humanismus“, der sich von einem naturalistisch gefärbten Humanismus wie auch von jedem Relativismus dadurch unterscheidet, dass er die Welt nicht interpretiert, sondern sie zugleich verändert, ist damit gewonnen. Denn das wird hier der entscheidende Punkt: nicht mit reinem Denken, sondern nur durch „praktische Theorie“, in welchem Begriff sich hier die Dialektik zusammenfasst, ist der Ausweg aus den Antinomien der Verdinglichung zu gewinnen. Durch eine Theorie also, die als Selbsterkenntnis des geschichtlichen Subjekts die geschichtliche Entwickelung zugleich aktiv vorwärtstreibt, in der das zu Ende Denken der geschichtlichen Tendenzen zugleich ihre Verwirklichung darstellt, Träger des historischen Prozesses aber sind nicht die Einzelnen, sondern (dem historischen Materialismus gemäße) die Klassen. Im Klassenbewusstsein kommt die Geschichte zu

ihrem eigenen Selbstbewusstsein, das bisher stets durch die Verdinglichung verdeckt war, das aber im Klassenbewusstsein des Proletariats das erste mal zu vollem Durchbruch gelangt! Denn der Verdinglichungsprozess hat im Kapitalismus seinen Höhepunkt erreicht, er lastet mit voller Schärfe auf dem „entmenschlichten“, zum Objekt der Krise gewordenen Proletariat; dieses stellt die Auflösung der modernen Gesellschaft dar – aber in dem Doppelsinn, dass es sie überwindet und so die Probleme „auflöst“, mit denen jene nicht fertig werden kann. In den Formen seiner unmittelbaren Existenz hängt es mit der Bourgeoisie auf das engste zusammen, jedoch ist es fähig, ja es ist für das Proletariat die Frage von Gedeih und Verderb über diese unmittelbare Daseinsform in praktischer umwälzender Theorie hinauszugehen, sich tätig sein Selbstbewusstsein zu vermitteln. Es bedeutet die Lebensfrage des Proletariats, sich über das dialektische Wesen seines Daseins bewusst zu werden, während die Bourgeoisie die dialektische Struktur des Geschichtsprozesses im Alltagsleben mit den abstrakten Reflexionskategorien der Quantifizierung, des unendlichen Prozesses usw. verdeckt, um dann in den Momenten des „Umschlagens“ unvermittelte Katastrophen zu erleben. Im dialektischen Selbstbewusstsein des Proletariats ist, entgegen der dualistischen Zusammengehörigkeit von Empirismus und Utopismus, die Beziehung auf die Totalität der Geschichte und die echten Tendenzen ihres Prozesses gesetzt. Diesen Tendenzen muss eine wahrhafte Wirklichkeit gegenüber den vereinzelten Tatsachen zugeschrieben werden, für das Erkennen, das sich zugleich aktiv auf sie richtet, verwandelt sich die Dinglichkeit in Prozess; sowohl die „realistische“ wie die „idealistische“ (angeblich platonisch-kantische) Abbildstheorie ist in diesem aktivistischen Erkennen restlos überwunden.

Nur wenige Worte der Kritik sollen zu diesem dialektischen Versuch hier gegeben werden. Ihre möglichen Ansatzpunkte liegen sehr deutlich zutage. Lukács’ Konzeption enthält in ihrer Problemstellung ungemein anregende Parallelen und Analogien. Dennoch muss sein Übergang von der Fragestellung der spekulativen Dialektik in neuromantischer Färbung zum orthodoxesten Marxismus unwillkürlich an die Wendung mancher Altromantiker zur orthodoxen Kirchlichkeit erinnern. Ganz offen bar ist der Knoten des spekulativen Problems hier nur durchhauen und nicht gelöst. Ein solches Durchhauen stellt l. schon jenes aktivistische Denken dar, in welchem doch ähnlich wie bei Fichte mit einem Sprung der Übergang von der Theorie zur Praxis unternommen wird, in dem die Lösung des im Denken gestellten Probleme der absoluten Rationalität dem in anderen Dimensionen verlaufenden Handeln zugeschoben wird; 2. bedeutet es eine Abflachung des in seinem Gehalte zeitlosen Problems der Beziehung von Denken und Sein, wenn es ganz und gar zu einer historisch-soziologischen Angelegenheit gemacht wird, wenn es mit einem ökonomischen Klassenproblem nicht nur in Analogie gebracht, sondern geradezu identifiziert wird. Gewiss mag diese zeitlose Angelegenheit in der Gegenwart im Sinne soziologischer Zeitbestimmtheiten modifiziert sein, die kann aber niemals in diesen restlos aufgehen. So kann auch das Subjekt des zeitlichen Geschichtsprozesses nie die Lösung dem Hegelschen Problems bringen; es ist nicht zufällig, dass Hegel über die empirische Geschichte weit hinausschreiten muss, dass sie ihm nur ein Symbol, ein Exponent des zeitlosen dialektischen Prozesses bedeutet. Dann sind „wir“ als Subjekt der zeitlichen Geschichte der – Geist, der dort als Urheber und Resultat des Prozesses auftreten kann? Erzeugt dieses Subjekt die – Natur und die – Welten der Werte? Schließlich muss ja 3. überall dort, wo Lukács von „Proletariat“ spricht, der Marxismus als Realpotenz dafür eingesetzt werden. In seiner Anlehnung an Max Webers Lehre vom „Idealtypus“ und der „Zurechnung“, die sofort vom Methodischen ins Real dialektische hypostasiert wird, wird dem auch von ihm selbst Rechnung getragen. In dieser Wendung des Gedankens aber wie 4. im Begriff der „höheren Wirklichkeit“ der Tendenzen gegenüber den Tatsachen zeigt sich auch in dem hier angestrebten aktivistisch-spekulativen Monismus der „platonische“ Dualismus als nicht überwindbar.

In dem letzten der hier geschilderten dialektischen Typen haben wir also trotz der umfassenden, viele Inhalte verarbeitenden Konzeption die stärkste Entfernung von einer vorsichtigen kritischen Dialektik und somit einen sublimen Dogmatismus zu konstatieren.

 

[1] Logos, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1926 (Bd. XV.), 21–46. – der Hrsg.