K. N.

[Über die Lenin-Broschüren von G. Lukács und A. Deborin][1]

 

Durch das Proletariat geht immer stärker der Ruf nach dem Leninismus, nach der Durchdringung der Massen mit dem Geiste ihres großen Führers. Ein Beispiel dafür ist die stattliche Reihe von Aufsätzen und Schriften, welche die Arbeit der Lenin-Kommission begleiten und den verschiedenen Seiten seines kolossalen Schaffen nachspüren.

Besonders zu begrüßen ist die Studie über den Zusammenhang der Gedanken Lenins von G. Lukács. Ein geschlossener kleiner Gedankengang, der, obwohl kaum 80 Seiten umfassend, sehr viel neues Licht auf die Beziehungen seiner Theorie zu seiner Praxis wirft. Wie Marx aus der Kenntnis der englischen, so hat Lenin aus der der russischen Verhältnisse in ständiger Beziehung auf das konkrete Ganze des Geschichtsprozesse den dialektischen Materialismus praktisch fortgeführt.  Die Aktualität der Revolution, die theoretische Aufzeigung der historischen Rolle des Proletariats in Russland (gerade wegen seine auf bäuerliche Verhältnisse aufgepfropften, stark monopolistischen Kapitalismus), die dialektische Zusammengehörigkeit von Organisationen und Taktik (strengste Disziplin und Auslese), seine konkret-politische Analyse des Imperialismus, seine daraus folgende Blickrichtung auf die vom Kapitalismus unterdrückten Nationen, seine Staatstheorie, seine revolutionäre Realpolitik stellen die Gedankenreihe dar, innerhalb welcher Lenin das Allgemeine stets im konkreten Einzelfall selbst sah, jeden Moment (so „die Kompromisse“) von einer Gesamt-Geschichts-perspektive (der revolutionären Überwindung des Weltkapitalismus) aus erfasste.

So wertvoll diese Abhandlung, so unvollkommen ist die kleine Schrift von A. Deborin. Sie beschäftigt sich mit der Erkenntnistheorie, hauptsächlich im Anschluss an Lenins Schrift vom Jahre 1909: „Empiriokritizismus und historischer Materialismus“, behandelt die Probleme aber allzu oberflächlich und undialektisch. Dass die Dialektik auch für das Bereich der Natur gilt, glaube ich, aber es besteht doch ein qualitativ bedeutsamer Unterschied zwischen der Dialektik in der Natur[2] (ich würde sie als „antagonistische Werdegesetze auch terminologisch von der in der Geschichte unterscheiden) und in der Historie, da das hier hinzutretende Bewusstseinsmoment nicht in mechanischer Weise übersehen werden darf. Genosse Deborin hätte sich Jos. Dietzgens[3] erinnern sollen. Daher hat er auch den Gedankengang Lenins leider in einiger Verstellung wiedergegeben, vor allem hätte er von der Entstehung dieses Buches, von dessen konkret-politischen, philosophiehistorischen Situation (nämlich dem Kampf gegen alle Formen einer die Entwicklung zum Bolschewismus hemmenden Ideologie) ausgehen müssen. Es sieht dadurch so aus, als ob wir es ablehnten, bei der Erkenntnistheorie von einer physiologisch-physikalischen Analyse des Wahrnehmungsprozesses auszugehen. Ich glaube aber, dass ein anderer Ausgangspunkt absolut unwissenschaftlich wäre (wobei man natürlich nicht bei der physikalischen Analyse stehen bleiben, auch nicht die Grenze zwischen den in Form von Empfindungen gegebenen Bewusstseinsgegeständen und dem in Form von Vorstellungen ablaufenden Bewusstsein, wie es der Empiriokritizismus tut,[4] verwischen darf, viel mehr ins historisch Gesellschaftliche weitergehen muss). Daher unterlaufen dem Verfasser auch solche menschewistischen Formulierungen, wie S. 39: „Der dialektische Materialismus ist eine in sich abgeschlossene (!) Weltanschauung, die sowohl die Natur als auch die Gesellschaft umfasst.“

Man könnte Lenins Erkenntnistheorie[5] mit dem (allerdings individualistischen) Pragmatismus der James, Peirce usw. vergleichen, wenn diese Zusammenstellung nicht sofort grundsätzliche Differenzen aufzeigen würde. Das entscheidende bei Marx–Lenin ist die (produktive) Bewährung der Theorie an der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, das innige dialektische Verhältnis zwischen Sein (als „Prozess“ zu fassen) und Bewusstsein, zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Weg und Ziel, zwischen Theorie und Praxis.

 

[1] Arbeiter-Literatur (Wien), Oktober 1924 (Jg. 1, H. 10), 735–736. – Mit einer kurzen redaktionellen Einleitung: „Eine sowohl charakteristische wie bedenkliche Besprechung der Broschüren [sic!] Lukács‘ über Lenin (s. Nr. 7–8 der „Arb.-Literatur“, S. 427) finden wir im »Klassenkampf«, Halle:“ – Der Hinweis in Klammern bezieht sich auf August Thalheimers Lukács-Rezension (Ein überflüssiges Buch, s. hier) – der Hrsg.

[2] G. Lukács sieht hier mit Recht große theoretische Schwierigkeiten, die wir jetzt, dem Stande der gegenwärtigen Naturwissenschaft und Technik entsprechend, nur annäherungsweise bearbeiten können.

[3] Z. B. „Materialismus contra Materialismus” in Dietzgen’s Schriften, Bd. II., S. 201 ff.

[4] Diese scharfe Trennung von Empfindungen und Vorstellungen nimmt der beachtenswerte Gehirnpathologe, Physiologe und Positivist Th. Ziehen vor.

[5] K. Marx über Feuerbach, These 2: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d. i. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“