Hermann Duncker

Ein neues Buch über Marxismus[1]

 

Ein wesentlicher Teil des soeben im Malik-Verlag erschienen Buches von Georg Lukács „Geschichte und Klassenbewusstsein” ist dem „Verdinglichungsprozess” im Kapitalismus gewidmet. Zu ihm gehört auch die mit der Herausbildung des Fetischcharakters der Ware Hand in Hand gehende Erscheinung einer Umhüllung und Vernebelung des menschlichen Bewusstseins durch Arbeitsteilung, Berufsspezialisierung und soziale Vereinseitigung im kapitalistischen Zeitalter. Kein besseres Beispiel für solche verdinglichte Hülle des Bewusstseins hätte Lukács vorlegen können als dieses Buch selbst. Der in akademischem Geleise auferzogene Intellektuelle und Geistesspezialist spricht da sein eigenes profundes. Gelehrtenlatein, das dem gewöhnlichen Sterblichen verdammt spanisch vorkommt, er ergeht sich in einer Begriffs- und Problemakrobatik, die der Laie höchstens anstaunen, aber schwer enträtseln kann. Soweit Lukács die hier zusammengefassten Aufsätze zu seiner eigenen Selbstverständigung geschrieben hat, wäre kein Wort über die Form der Darstellung zu sagen. Aber Drucklegung erwartet Leser, Was für Leser können für diese Studien über marxistische Dialektik, wie der Untertitel des Werkes lautet, in Frage kommen? Zur Klärung unserer kommunistischen Funktionäre, geschweige denn der Massen vermag das Buch nicht beizutragen. Es bleibt ihnen zu einem großen Teil unverständlich. Der philosophisch ungeschulte Leser windet sich verzweifelt in dem Dornengestrüpp der Fremdwörter und Abstraktionen. Offensichtlich liegt dem Verfasser herzlich wenig daran, seinen Lesern durch Anschaulichkeit der Darstellung entgegenzukommen. Dabei sagt Lukács ganz richtig: „Kommen die Mitglieder der Partei mit ihrer Gesamtpersönlichkeit in eine lebendige Beziehung zu der Totalität des Parteilebens und der Revolution, hören sie auf, bloße Spezialisten zu sein, die notwendig der Gefahr der inneren Erstarrung unterworfen sind” (s. 338.). Das sollten nicht zum wenigsten auch die literarischen und intellektuellen Spezialisten beherzigen! Gewiss verdienten die von L. angeschnittenen Probleme eine ernsthafte Durcharbeitung in Genossenkreisen. Um so bedauerlicher ist es, dass das, was L. ausführt, z.B. über die Gewalt als ökonomische Potenz, über Legalität und Illegalität der Partei, über die Notwendigkeit sozialer und ökonomischer Totalitätsbetrachtung und vieles andere durch die Schwierigkeit des Stils für den proletarischen Leser wie mit Stacheldraht versperrt ist.

Die Diskussion, die L. durch sein Buch hervorrufen möchte, ist dadurch erschwert. Und doch gibt es bei ihm eine Reihe von Behauptungen, die einer weiteren Erörterung dringend bedürfen. So versteht L. unter dem „orthodoxen Marxismus” nur die Forschungsmethode, die nichts mit den Resultaten von Marx’ Forschung zu tun habe! Damit gerät L. in eine verflucht enge Nachbarschaft zu Reformisten wie z.B. Renner, die sich als Marxisten ausgeben möchten und doch sich nicht an den positiven Gehalt der marxistischen Lehre gebunden betrachten. Unseres Erachtens kann sich als orthodoxer Marxist nur bezeichnen, wer sich der marxistischen Methode bedient und die Wege und Ziele anerkennt, die die marxistische Erkenntnis der Politik gewiesen hat.

Ein Hauptbestandteil der marxistischen Forschungsmethode fassen wir unter der „Dialektik” zusammen. Im weitesten Wortsinne verstehen wir darunter die entwicklungsmäßige Betrachtung des unendlichen Werdeprozesses alles Seins und daraus folgenden Flüssigkeit aller Begriffe. Lukács nimmt auch hier eine überraschende Verengerung vor: die dialektische Betrachtung sei nicht auf die Natur, sondern nur auf die historisch-soziale Wirklichkeit anwendbar (s. 17.). In einer Polemik gegen Engels, der das Wesen der Dialektik ja gerade an dem Beispiel von Naturvorgängen erläutert hat, stellt L. die Erkenntnis der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt im Geschichtsprozess als das wesentliche Kriterium der dialektischen Methode hin. Die so gekennzeichnete revolutionäre Praxis ist jedoch nur die zeitgeschichtliche Auswirkung der marxistischen Dialektik in der Gegenwart. Die dialektische Erkenntnismethode muss als Bestandteil der Weltanschauung jedoch auf den Gesamtprozess aller Bewegung, alles Lebens und aller Betätigung in der Wirklichkeit anwendbar sen. Sah Marx nicht auch in Darwins Lehre eine “naturhistorische Grundlage” seiner Entwicklungsbetrachtung?

Im „historischen Materialismus” findet die dialektische Methode ihre besondere Anwendung auf die sozialen Erscheinungen. Und hier begegnen wir bei Lukács wiederum einer verblüffenden Verengerung der bisherigen orthodoxen Auffassung, L. hält die materialistische Geschichtsauffassung eigentlich nur in vollem Umfang maßgebend für das kapitalistische Zeitalter. „Das ökonomische Klasseninteresse als Beweger der Geschichte ist erst im Kapitalismus in seiner nackten Reinheit hervorgetreten” (S. 70). „Die inhaltlichen Wahrheiten des historischen Materialismus … sind Wahrheiten innerhalb einer bestimmten sozialen und Produktionsordnung” (S. 234.). „Der historische Materialismus kann auf die vorkapitalistischen sozialen Gebilde nicht ganz in derselben Weise angewendet werden” (S, 244.) Der historische Materialismus ist ein Forschungsprinzip, das zweifellos von seinen Begründern für den vollen Umfang aller geschichtlichen Betrachtung auf gestellt worden ist. Etwas anderes ist es, ob die Auswirkungen der Produktionsverhältnisse in allen Geschichtsperioden gleich deutlich nachweisbar sind, oder gar im jeweiligen Klassenbewusstsein bereits formuliert werden. Dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, war für Marx ein Satz von absoluter Gültigkeit. „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.” Der gewaltige Bau eines soziologischen Monismus, eines ökonomischen Determinismus, wie ihn Marx und Engels aufgerichtet haben, kracht zusammen, wenn man mit Lukács den historischen Materialismus, selbst nur als eine vorübergehende historische Kategorie, und zwar eine Kategorie der kapitalistischen Gesellschaft deklariert. Einem historischen Idealismus und Mystizismus wäre wieder Tür und Tor geöffnet.

Aber L. verweist nun auch für das Zeitalter des Kommunismus den historischen Materialismus in die Rumpelkammer. Dann werden nämlich „die objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten –  wie der Staat – absterben” (S. 316.). „Wirtschaft und Gewalt” wird aufhören (S. 259). Ja, stellt sich L. das “Reich der Freiheit als ein Schlaraffenland vor, so wird Wirtschaften freilich überflüssig. Aber das geht schon über Fouriersche Zukunftsphantasie, hinaus. Diesem Gedanken vermögen wir nicht mehr zu folgen. Schließlich schränkt L. sogar noch für den Kapitalismus den Geltungsbereich des historischen Materialismus ein. In Übergangszeiten und Krisenperioden „intermittieren” nämlich nach Lukács die Gesetze der Ökonomie, da sei es „selbstredend unmöglich von irgendwelcher ökonomischen Gesetzmäßigkeit zu sprechen, die die ganze Gesellschaft beherrschen würden (S. 249.). An anderer Stelle aber erkennt L. die Struktur der Krise als bloße Steigerung der Quantität und Intensität des Alltagslebens der bürgerlichen Gesellschaft (S. 115.) und spricht von der latent-permanenten Krise des Kapitalismus (S. 53.), Jetzt wird verständlich, warum L. den Kerngedanken des Marxismus überhaupt nicht mehr in der „Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung” (S. 39.) sehen will.

Wie das alles freilich noch orthodoxer Marxismus sein soll, ist uns, gelinde gesagt, schleierhaft!

 

[1] Die Rote Fahne (Berlin), 27. Mai 1923. – der Hrsg.